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Sonntag, 17. August 2025
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Die Stunde Null: ein Neuanfang aus dem Nichts? Politisches Denken in der Nachkriegszeit. Teil 3 von 4 Teilen

Die erzwungenen politischen Neuerungen

Der Neubeginn erfolgte nicht mit neuen oder gar revolutionären Ideen. Aber eine einfache Wiederauflage der Weimarer Parteienstruktur war auch nicht möglich. Die zwölf Jahre der totalen Herrschaft der Nazis hatten die politischen Strömungen erschüttert und verändert.

Mit Ausnahme der SPD und der KPD erfuhr keine der Parteien der Weimarer Republik eine nachhaltige Wiedergründung im Nachkriegsdeutschland. Alle bürgerlichen Parteien hatten sich mit der Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ im März 1933 „freiwillig“ aus dem Verkehr gezogen. Die nationalkonservative DNVP war sogar mit den Nazis in einer gemeinsamen Regierung und hatte damit Hitlers Kanzlerschaft erst ermöglicht.

Die „Zeitschriftenflut“ in den Nachkriegsjahren, vor allem in den Westzonen, signalisierte mit den Schwerpunkten „Politik und Kultur“ einen großen Orientierungsbedarf. Der erfolgt politisch überwiegend im Rahmen der drei klassisch gewordenen politischen Ideen bzw. Ideologien, wie sie sich nach der Französischen Revolution in Europa entwickelt hatten: Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus / Kommunismus. Aber jede dieser Strömungen hatte in Deutschland ihre eigenen Anschlussprobleme an ihre durch die Nazis gebrochene Vergangenheit.

Mehr noch als in anderen Ländern vermengte sich im „Niemandsland“ Deutschland in der politischen Neuorientierung die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Ausrichtung mit der außenpolitischen. Besonders deutlich wird das bei den „Neutralisten“, denen wir deshalb später noch eine gesonderte Aufmerksamkeit schenken müssen.

Da aber in der Zwischenzeit zwei der politischen Orientierungsmarken nicht nur ihre organisatorische Form als Partei verloren hatten, sondern auch in ihrer inhaltlichen und strategischen Ausrichtung nicht vorbehaltlos an ihre Traditionslinien anknüpfen konnten, ist zunächst ein Rückblick auf die jeweiligen Problemlagen des Konservatismus und Liberalismus erforderlich, um die Neuorientierungen verständlich zu machen. Die Besonderheiten im linken Lager werden anschließend dargestellt.


Das Erbe und das vorläufige Ende des deutschen Konservatismus

Das Wort „konservativ“, aus dem Lateinischen „conservare“ stammend, bedeutet so viel wie „bewahren“. Als politischer Begriff suggeriert er einen festen Bestand an Prinzipien, Dogmen, Werten oder Weltanschauung. Man kann ihm über alle Zeiten hinweg einen Hang zum „Bewahren“, zu „Traditionen“, eine Abneigung gegen Moden und Neuerungssucht zubilligen, aber das wären Einstellungsmuster, die keinen politischen Begriff erbringen.

Auch ein Revolutionär will seine Revolution irgendwann konservieren. Als eine politisch durchgehende Haltung ließe sich eine „anthropologische Konstante“ eruieren, die von einem „pessimistischen Menschenbild“ ausgeht, das starke Institutionen, Autorität und herrschaftliche Ordnung erfordert, die zudem die Ungleichheit der Menschen, wenn auch nicht durchgängig in abgestuften politischen Rechten, aber doch als soziale Ungleichheit nach „natürlichen“ Unterschieden akzeptiert bzw. in der Gesellschaft als unabdingbar für ihr Funktionieren sieht.

Dass Privateigentum zur persönlichen Freiheit gehört, ist schon ein Inhalt, der mit Blick auf den Liberalismus kein Alleinstellungsmerkmal darstellt.

Aber was als „Fels in der Brandung“ in einer sich stetig wandelnden Welt erscheint, entpuppt sich eher als „Fähnlein im Wind“. Der vermeintliche Garant für das Ewige erweist sich als Gejagter, der heute verteidigen muss, was er gestern bekämpfte. Er gleicht einem Chamäleon, das seine sich wandelnde Identität über seine Feinde definiert.

Was „konservativ“ ist, erschließt sich daraus, was er gerade bekämpft. Sein Startschuss liegt überall in Europa als Widersacher der Französischen Revolution und ihrer Ideale. Hannah Arendt hat ihn zu Recht gleichursprünglich mit ihr verbunden, ohne sie hätte es ihn nicht gegeben.

„Historisch gesprochen, verdanken sowohl der Konservatismus wie die Reaktion nicht nur ihren Elan und ihre besten polemischen Pointen, sondern ihre Existenz der Französischen Revolution. Sie sind ihrem Wesen nach polemisch und als eigenständige Gedankensysteme, als die sie sich manchmal ausgeben, gar nicht zu begreifen. Alle ihre wirklichen Einsichten und ihr gesamtes Begriffsgefüge sind abgeleiteter Natur.“ (Arendt 1969, 364 sowie Wortmann 2024, 74 ff.)

In Deutschland startete er zu Beginn des 19. Jahrhunderts weltanschaulich als Teil der Romantik und politisch als Partei des Adels. Sein erster Gegner war der Liberalismus des Bürgertums mit seiner Forderung der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, der ein Festhalten an der ständestaatlichen Ordnung mit abgestuften Rechten für jeden Stand entgegengehalten wurde. Die Revolution von 1848 änderte angesichts des ersten Anklopfens des „vierten Standes“ als neue aufstrebende soziale und politische Macht auch die politischen Gegensätze.

Nach dem politischen Arrangement des Adels mit dem national-liberalen Bürgertum gegen die aufkommende Arbeiterbewegung degenerierte der politische Konservatismus zur reinen Interessenpartei der überwiegend agrarischen Klassen. Bauern und Großgrundbesitz waren die Hauptträger, ihre Gegner waren der (schwache) demokratische Liberalismus und die rasant wachsende Sozialdemokratie.

Um die Jahrhundertwende 1900 formierte sich gegen diesen rein von Interessen geleiteten und Besitzstände wahrenden „Altkonservatismus“ eine primär kulturell-ideologisch auftretende Gegenbewegung von „Jungkonservativen“, die sich teilweise mit der „Wandervogelbewegung“ verband und einen an Friedrich Nietzsche orientierten „Geistesaristokratismus“ mit neoromantischen politischen Rückgriffen hervorbrachte.

Was sich hier als Sehnsucht nach einer vorindustriellen Welt ohne die Natur zerstörenden Großstädte mit ihrer anonymen „Massengesellschaft“ darstellt und von „Gemeinschaften“ träumte, die nicht wieder hergestellt und belebt werden konnten, verwandelt sich mit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zu einer politischen Neuausrichtung. Nun galt es nicht mehr eine alternde Gesellschaft des Kaiserreiches zu ertragen, sondern die ausgerufene Republik und mehr noch die Demokratie wurden nun zu neuen Fakten, die es zu bekämpfen galt. Konservativ zu sein, hieß nun „revolutionär“ zu werden, d.h. Verhältnisse wieder oder neu herzustellen, die es dann zu verteidigen galt.

Und hier liegt eine Scheidelinie. Während die Altkonservativen sangen „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben“, gingen die Jungkonservativen davon aus, dass das Alte nicht erstrebenswert und auch nicht restaurierbar ist, aber das Neue auch nicht das sein soll, was die Novemberrevolution mit der Weimarer Republik hervorbrachte.

Der Sieg des Faschismus in Italien 1922 war der Weckruf dieses diffus Neuen. Eine antidemokratische, autoritäre Alternative, getragen nicht von frustrierten Besitzstandsbürgern, sondern von einer von diesen gefürchteten amorphen „Masse“ wurden nun zu den neuen Handlungssubjekten. Deren „Mobilisierung“ für die Nation erfolgte in der militärisch dressierten Form des Gleichschritts und verlor dadurch für das Bürgertum zunehmend den angsterregenden Charakter des Unkalkulierbaren.

Aus einer Quelle allen Übels der „Moderne“ wurde die „Mobilisierung der Massen“ zur entscheidenden Wunderwaffe, um die Statthalter der neuen ungeliebten Ordnung, die von den Liberalen bis zu den Kommunisten alles einschloss, was als Verrat an Volk und Nation galt, zu beseitigen. Positiv fand man in ihrem eignen ideologischen Gepäck grenzenlosen Imperialismus und Rassismus als Gegenentwurf zur verhassten universalistischen, egalitären Moderne.

An dieser Stelle, im Deutschland der Weimarer Republik, wird mit der Karriere der „Konservativen Revolution“ und dem Faschismus bzw. Nationalsozialismus das Verhältnis zum „Altkonservatismus“, der sich mit der „Deutsch-Nationalen Volkspartei“ (DNVP) identifizieren lässt, im wahrsten Sinne des Wortes „problematisch“. Sie werden „verfeindete Brüder“, weil ihre Gegensätze durch den gemeinsamen Feind nur begrenzt überbrückt werden und schließlich richten sich die „jungkonservativen“ Radikalen gegen die Altkonservativen selbst.

Hier bietet sich mit einer Anleihe bei Stefan Breuer (Breuer 1999) die Notwendigkeit einer Unterscheidung in „Konservative“ und „Rechte“ an. Die Nazis teilten zwar einen Großteil der „Weltanschauung“ mit den Jungkonservativen und der mehr intellektuellen Strömung der „Konservativen Revolution“, aber sie waren damit nicht identisch, wobei auf der anderen Seite die Vorbehalte gegenüber den „braunen Massen“ für die elitären Jungkonservativen ein wesentliches Motiv für ihre Distanz war. Sie aber noch als „konservativ“ zu bezeichnen, führt zu Begriffsverwirrungen.

Mit der militärischen Niederlage der Nazis endeten von kleinen Splittergruppen von kurzer Lebensdauer abgesehen in Deutschland auch die organisierten wie ideologischen Restbestände dieses „Konservatismus“. Er verschwand weniger aus Einsicht, als aus der Erkenntnis, dass er nicht mehr in die veränderte Konstellation des sich abzeichnenden Kalten Krieges passte, obwohl der aufkommende „Antibolschewismus“ optimale Anschlussfähigkeit bot.

Seine schwer schätzbare Masse, die sich mit Altnazis überlappte, verteilte sich auf andere national-bürgerliche Parteien, von denen die „Deutsche Partei“ noch die bedeutendste war, bevor sie ab Mitte der fünfziger Jahre von der CDU „geschluckt“ wurde.

Etliche intellektuellen Köpfe der „Konservativen Revolution“ bestimmten als Einzelkämpfer mit öffentlicher Aufmerksamkeit das geistig-kulturelle Leben und damit auch die politischen Debatten maßgeblich mit. Helmut Schelsky und Arnold Gehlen waren wie ihr Lehrer, der Soziologe Hans Freyer, bedeutende und einflussreiche Deuter der Gegenwart, denen der Schriftsteller Ernst Jünger und der Rechtswissenschaftler Carl Schmitt, mehr im Hintergrund wirkend, zur Seite standen.

Insgesamt blieb der Einfluss der alten rechten „Geisteselite“ schon dadurch erheblich, weil von ganz wenigen Ausnahmen wie Carl Schmitt abgesehen, kaum jemand wegen seiner NS-Vergangenheit seinen akademischen Lehrstuhl verloren hatte. So widerstandslos 1933 in den deutschen Universitäten die „Gleichschaltung“ erfolgte, so lautlos wirkten sie nach dem Ende des Dritten Reiches in der BRD weiter. Es dauerte bis weit in die sechziger Jahre, dass die braunen Vergangenheiten dieser „Geisteselite“ öffentlich thematisiert wurde.

Neben dem katholischen fand auch der protestantische Konservatismus in der Nachkriegszeit seinen Unterschlupf überwiegend in der CDU. Der Preis dafür, nun als machtpolitischer Teil des Westens doch noch auf der „Siegerseite“ zu landen, war die Akzeptanz der Demokratie als (formale) Staats-, aber nicht als Lebensform. Diese Abgrenzung des Demokratieverständnisses zu Dolf Sternbergers „starkem“ Demokratiebegriff war und ist als Bindemittel in der CDU nicht zu unterschätzen.

Ebenfalls akzeptiert werden musste die Europäisierung der Nation. Aber das zunächst auf das „karolingische Europa“ begrenzte West-Europa, das sich von dem sozialdemokratischen Projekt der „Vereinigten Staaten von Europa“ während der Weimarer Republik deutlich abhob, bot nutzbare Räume für die Fortsetzung des Kampfes des „christlichen Abendlandes“ gegen den gottlosen Bolschewismus.
Der Schweizer Publizist Fritz René Allemann sah in dem Rollenwechsel, dass nicht die Konservativen den Part des Nationalen, dem Vorrang der deutschen Einheit gegenüber der Westintegration und Europa übernahmen, sondern dieser Part paradoxerweise der Sozialdemokratie zufiel, den Grund für seine optimistische Prognose Bonn ist nicht Weimar.

In dem die SPD dem Fehlschluss ihres Vorsitzenden Kurt Schumachers folgte, die Vernachlässigung der „nationalen Frage“ in der Weimarer Republik durch die Linke habe die Rechte erst stark gemacht, propagierte Schumacher eine Außenpolitik, die nicht nur den realen Machtverhältnissen zuwiderlief, sondern auch in der Westbevölkerung nicht den erwarteten Rückhalt fand.


Die weltweite Krise des Liberalismus und seine Überwindung

Während für die „bürgerliche Sammlungsbewegung“ der Konservatismus als politischer Begriff bis in die siebziger Jahre tabuisiert wurde, war das in Sachen Liberalismus nicht möglich. Zwar verstand sich die CDU als neue politische Kraft weder als konservative noch als liberale Partei, konnte aber auf beide Quellen nicht verzichten.

In der politischen Ideengeschichte Deutschlands war der Liberalismus eine schlummernde Größe. Dominant war noch über den Ersten Weltkriegs hinaus die Fraktion der National-Liberalen. Herausragende Denker dieser Richtung, die dem Liberalismus wegweisende Ideen geliefert hätten, sucht man vergebens. Allein Friedrich Naumanns „sozialen und nationalen Liberalismus“ in Verbindung mit seiner imperialen Wirtschaftsidee eines „Mitteleuropa“ im Umkreis des Ersten Weltkrieges könnte man als „innovativ“ werten. Erfolgreich war das Projekt bei den Bürgern so wenig wie bei den Arbeitern, auf die es spekulierte.

Davon, dass der Liberalismus ursprünglich eine universalistisch angelegte Idee war und somit auch einen Immanuel Kant zu seiner Ahnengalerie hätte zählen können, war im Deutschen Reich wenig zu spüren. So blieb der Liberalismus in Deutschland stärker vom Wirtschaftsliberalismus, ohne hier bedeutende Ökonomen hervorgebracht zu haben, als von seiner demokratischen Seite bestimmt.

Nicht der Erste Weltkrieg brachte den Liberalismus in eine Krise, sondern die Weltwirtschaftskrise von 1929. Sie wurde zum Waterloo des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Zum ökonomischen Desaster gesellte sich die parallele Dauerkrise des Parlamentarismus und schließlich der Demokratie allgemein. Zwar war der Liberalismus in seiner Entwicklung keineswegs von Beginn an demokratisch, aber mit dem Ende des Ersten Weltkrieges fallen – nicht nur in Deutschland – die Vorbehalte gegen die Demokratie, deren einfacher Grund in der Furcht vor der politischen Macht durch die Mehrheit des besitzlosen Wahlvolkes bestand.

Am schwersten wog aber der ökomische Glaubwürdigkeitsverlust durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. An die Selbstheilungskräfte freier Märkte zur Überwindung der Krise glaubten selbst Liberale nicht mehr. Mit der sozial ruinösen Massenarbeitslosigkeit erschien die politische Untätigkeit als Kapitulation, weil es keine politischen Konzepte zur Krisenüberwindung gab. Die liberalen Dogmen wurden täglich massenhaft erfahrbar widerlegt, aber es folgten daraus keine Konsequenzen.

1936 eröffnete Walter Lippmann, der schon damals einflussreiche Publizist in den USA, mit seinem Buch The Good Society eine Selbstkritik und Neubestimmung des Liberalismus, den man nun „Neoliberalismus“ nennt. Aber seine Kritik setzt nicht an den „Dogmen“, sondern an der Krisenbekämpfung an. Er erkennt darin einen freiheitsgefährdenden Trend zum „Kollektivismus“.

„Kollektivismus“ ist bei Lippmann das Äquivalent für alle Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsverkehr. Die Maßnahmen gegen die Massenarbeitslosigkeit zählte er genauso dazu wie die von ihm scharf kritisierten sozialpolitischen Maßnahmen des „New Deal“ in den USA unter Präsident Roosevelt. Der im Schweizer Exil lebende deutsche Ökonom Wilhelm Röpke, der später zu einem der Väter des „Ordoliberalismus“ und der „sozialen Marktwirtschaft“ aufstieg, unterstützte parallel zu Lippmann diese Kritik an Roosevelts Krisenüberwindung mittels eines „Wohlfahrtsstaates“ mit gleicher Intensität. (Röpke 1934)

Für Lippmann war die wirtschaftliche Freiheit ein wesentlicher Teil der Freiheit überhaupt. Sein Buch hieß dieser Mission entsprechend in der deutschen Übersetzung mit einem enthusiastischen Vorwort von Wilhelm Röpke programmatisch korrekt „Die Gesellschaft freier Menschen“. Ohne wirtschaftliche Freiheit gibt es keine Freiheit! Das war das Hauptmotiv seiner Streitschrift gegen den „Kollektivismus“ und wurde der Auftakt für eine Neubestimmung des Liberalismus.

Im Zentrum der Kritik dieser vor allem in Deutschland bedeutend werdenden Denkschule stand ausgerechnet jener Liberale, der die Theorie dafür lieferte, wie man dem todgeweihten Patienten Kapitalismus durch gezielten Staatsinterventionismus am Leben erhalten könnte.

Die von dem Briten John Maynard Keynes ebenfalls 1936 theoretisch in seinem Meisterwerk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ begründeten „antizyklischen“ Staatseingriffe in den Wirtschaftskreislauf, erscheinen aus der Sicht der „Ordo- bzw. Neoliberalen“ nicht als „Rettung am Krankenbett des Kapitalismus“, sondern als Beerdigung einer liberalen Wirtschaftsordnung. Neoliberale waren (und sind) zuallererst Antikeynesianer.

Dennoch verlangte auch diese neue ordoliberale Richtung eine wesentliche Korrektur des klassischen Laissez faire-Liberalismus mit seinem Dogma vom „Nachtwächterstaat“. Der Staat sollte aber nicht wie bei Keynes in die Wirtschaftskreisläufe intervenieren, sondern als „Hüter der Wettbewerbsordnung“ jenseits der gesellschaftlichen Interessengruppen „ordnend“ eingreifen.

Seine wesentliche Funktion besteht darin, die Rahmenbedingungen für einen vollständigen Wettbewerb durch Kartell- und Monopolverbote zu sichern. Diese Ordnungsfunktion des Staates war der Grund, dass sich daraus die Bezeichnung „Ordo-Liberalismus“ (Ordo ist die altgriechische Bezeichnung für Ordnung) für diese Denkschule entwickelte.

Wettbewerb ist die Herzkammer des Liberalismus. Der Wettbewerb ist nicht alles, aber ohne ihn ist alles nichts. Das Problem ist nur, dass der Markt keine Sportveranstaltung ist, wo man seine „Mitbewerber“ als Gegner braucht, damit man überhaupt spielen und siegen kann. Der Markt lebt zwar vom Wettbewerb, aber nicht für ihn. Die Akteure sehen in ihren „Mitbewerbern“ keine erhaltenswerten Gegner an denen man sich misst, sondern Konkurrenten, die ihnen Marktanteile und damit Profite abnehmen.

Die Folge ist, dass kein Akteur im „Wettbewerb“ versucht, seine „Mitbewerber“ zu erhalten, damit er Gewinner werden kann, sondern jeder versucht sie als konkurrierende Marktteilnehmer auszuschalten, sei es durch dessen Ausscheiden oder durch Übernahme. Diese stimulierende Rationalität jedes Einzelakteurs hat zur Folge, dass das System sich permanent selbst auszuhebeln droht. Die Rationalität der Einzelnen ergibt keine Gesamtrationalität, sondern läuft ihr zuwider.

Der Drang zum Monopol ist letztlich das rationale Ziel aller Akteure und wird zur Logik des Systems, das damit seiner Selbstaufhebung entgegen geht. Gegen diese, der Marktwirtschaft immanenten Paradoxie, entsteht die scheinbar alles rettende Idee, dass der Staat als ordnende Instanz rechtlich dafür sorgen muss, dass Monopolbildung verhindert und permanenter Wettbewerb garantiert wird. Das ist die neue Staatsidee der liberalen Marktwirtschaft, die in West-Deutschland mit dem Namen des langjährigen Wirtschaftsministers (1949 bis 1963) und späteren Bundeskanzlers Ludwig Erhard (1963 bis 1966) verbunden wird.

Joseph A. Schumpeter, der ein großer Anhänger des Kapitalismus war und die „schöpferische Zerstörung“ durch den Unternehmer als Motor des Fortschritts rühmte, sah in der ordoliberalen Wettbewerbsordnung einen Kampf gegen Windmühlen, weshalb er, historisch betrachtet, die Sterbeglocke des Kapitalismus läuten hörte.

Was Wilhelm Röpke und seine Mitstreiter dagegensetzten, war die idyllische Blüte einer mittelständischen Unternehmergesellschaft mit vielen kleinen Eigentümern. Der Traum war, jedem ein eigenes Grundstück mit seinem Garten, der auch der Selbstversorgung dienen sollte. Wichtig war eine breite Streuung von Eigentum auch deshalb, um so die Legitimität des Privateigentums an sich – und damit auch des großen – sozial und politisch abzusichern. In diesen Idyllen steckte ein brisantes Potenzial an kulturellem Antimodernismus, wo alle alten konservativen und reaktionären Klischees auch der Unterschiede von verheerender Groß-Stadt und gesundem Landleben im Einklang mit der Natur bedient wurden.

Die Metaphern von Urbanität und Masse als kulturell wie sozial verderbliche Erscheinungsformen der Moderne finden hier reichlich Nahrung. Kulturkonservative fanden hier durchaus eine Heimat.
Politisch noch interessanter ist der Antipluralismus dieser Variante des Liberalismus. Der Staat ist nicht nur Hüter der Wettbewerbsordnung, sondern auch alleiniger Hüter des Gemeinwohls. Er tritt an die Stelle des Staates einer pluralistischen Gesellschaft, der die Resultate demokratisch ermittelter Interessenkämpfe als das „Gemeinwohl“ vertritt.

Der „ordoliberale“ Staat erhält, um die ökonomische und gesellschaftspolitische Sicherstellung des Klein- und Mitteleigentums gegen das Großkapital zu sichern, durchaus „autoritäre“ Züge. Das wird deutlich, wenn man das Gesellschaftsbild genauer betrachtet.

Dass es antiegalitär ist, verwundert nicht. Aber Röpke steht nicht allein mit seiner Abneigung zu einer pluralistischen Gesellschaft, die den „starken“ Staat zur Beute der Sonderinteressen macht, wozu hier primär die Gewerkschaften gehören. Ludwig Erhards Vertrauter, der Publizist Rüdiger Altmann nannte dieses Gebilde die „formierte Gesellschaft“. (Altmann 1965)


Die Kreation der „sozialen Marktwirtschaft“ und des „christlich-demokratischen Moments“

Die Kreation der „sozialen Marktwirtschaft“ als Antitotalitarismus richtet sich gegen die (kriegsbedingte) Planwirtschaft der Nazis wie gegen die bürokratische Planwirtschaft in der Sowjetunion, die als totalitäre „Zentralverwaltungswirtschaften“ zusammengefasst werden. Die Idee der „sozialen Marktwirtschaft“ ist zwar ein ergänzender Teil des „Ordoliberalismus“ geworden, aber anderen Ursprungs. Der ist rein politischer Art. Wie schon im Ersten Teil dargestellt, war der Zusammenhang von Naziherrschaft und Kapitalismus auch der katholischen Arbeiterschaft und den „christlichen Sozialisten“ vertraut. Für die Gründung einer „überkonfessionellen, bürgerlichen Sammlungsbewegung“ musste nicht nur die Wirtschaftsordnung in einem „liberalen“ Sinne entschieden werden, was auf Betreiben Konrad Adenauers durch das Bekenntnis zur „Marktwirtschaft“ in den „Düsseldorfer Leitsätzen“ im Juli 1949 dann auch geschah. (Gurland 1953, 138 – 169)

Das besondere Problem war in Westdeutschland, dass eine „freie Marktwirtschaft“ – auch als terminologischer Ersatz für das „Unwort“ Kapitalismus (in den angelsächsischen Ländern gab es diesen Bezeichnungspurismus nicht) – hier noch um das Adjektiv „sozial“ erweitert werden musste. Und das hatte handfeste politische und ideologische Gründe. Die sich neuformierende „bürgerliche Mitte“ mit der CDU als Sammlungspartei – weder konservativ noch liberal, aber von beidem etwas – sollte nicht nur den Konfessionskonflikt überwinden.

Für eine erweiterte Machtperspektive als „Volkspartei“ brauchte sie nicht nur eine Verbindung zur ehemaligen Zentrumspartei als Exponent des politischen Katholizismus, sondern vor allem ein Angebot für eine zusätzlich Öffnung zur „nicht-sozialistischen“ katholischen Arbeiterschaft. Damit galt für die Komplettierung zur Volkspartei zugleich die Klassenspaltung als überwunden.

Obwohl sich mit der Teilung Deutschlands im Westteil der relative Anteil der Katholiken an der Staatsbevölkerung enorm erhöhte, standen einer Reaktivierung der Zentrumspartei aus der Weimarer Republik mindestens zwei Gründe entgegen:

Erstens wäre die drohende Konfessionalisierung der Politik zu Lasten einer starken einheitlichen „bürgerlichen Mitte“ wiederbelebt worden.

Zweitens hatte das Zentrum, wie schon erwähnt, durch die Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ im März 1933 mit seiner Selbstaufgabe den Weg in die „totale Herrschaft“ der Nazis „freiwillig“ geebnet. In die Fußstapfen einer solchen historischen Erblast zu treten, versprach keinen politischen Gewinn, zumal sich die CDU auch als Teil des christlichen Widerstandes gegen Hitler verstand und sich damit profilieren wollte.

Die Integration der katholischen Arbeiterschaft in eine überkonfessionelle bürgerliche Sammlungsbewegung wurde anfangs zwar ob des Gelingens skeptisch betrachtet, aber andererseits war es ein verlockendes Experiment, das allerdings seinen Preis hatte.

Durch den Verzicht auf ein Parteiprogramm konnten zwar viele grundsätzliche Probleme in der CDU umgangen und damit entschärft werden, aber die liberale Wirtschaftsausrichtung musste mit der „Katholischen Soziallehre“ kompatibel gemacht bzw. angereichert werden. Historisch betrachtet waren die beiden Lehren feindliche Gegensätze.

Aus der Sicht der Katholischen Soziallehre gehörte der Liberalismus noch zu den päpstlich verordneten „Irrlehren der Moderne“ des Syllabus errorum von 1864, die es als Christenpflicht zu bekämpfen galt. Das hier nicht zu vertiefende Wunder der Überwindung gelang durch das von Alfred Müller-Armack entwickelte Konzept einer „sozialen Marktwirtschaft“. (Gurland 1953 und Haselbach 1991)

So beschränkte sich die Wiederbelebung des Liberalismus vornehmlich auf die Ökonomie. In der Person Ludwig Erhards, der nicht zu den Theoretikern, sondern den praktischen Vollstreckern dieser Lehren gehört, war dieser Liberalismus im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern dezidierter Antikeynesianismus.

Insofern war der „Ordoliberalismus“ ein deutscher „Sonderweg“. Weder Röpke noch Eucken brachten es außerhalb der BRD zu größerem Ruhm und Müller-Armacks „soziale Marktwirtschaft“ war ein genuin „rheinisches Produkt“.

Das Merkwürdige an der Allianz von Ordoliberalismus und Katholischer Soziallehre war weniger die Bereitschaft der Liberalen, diese Kröte zu schlucken, denn ein „gewisses Maß“ an Sozialpolitik war angesichts der sozialen Kriegsschäden auch für den härtesten Liberalen unabdingbar, wollte man die Leiden fürs Vaterland im Krieg nicht individueller Verantwortung und Selbstvorsorge übergeben. Merkwürdiger ist, warum die Katholische Sozialllehre diesen „Teufelspakt“ einging.
Dieser Vorgang, der sich nicht auf Westdeutschland beschränkte, ist die Geburt von etwas Neuem.

Das „christdemokratische Moment“ (so Wolkenstein 2022) bezog sich auch auf andere westeuropäische Länder wie Italien, Belgien und anfangs auch Frankreich als neue bürgerliche Sammlungsbewegung, die Elemente des Konservatismus (ohne expliziten Nationalismus) mit einem vornehmlich wirtschaftlichen Liberalismus, begrenzt durch die katholische Soziallehre verbindet.

Zugleich entfiel die alte Ablehnung der Demokratie und damit wurde ihr eine neue Stabilität verschafft, die ihr zuvor besonders im Bürgertum fehlte. Die zusätzliche Herausforderung in Deutschland war, dass hier auch noch die politisch brisante konfessionelle Spaltung in der Bevölkerung allgemein und im Bürgertum im Besonderen überwunden werden musste, um zum Fundament einer dauerhaft tragfähigen Neuerung zu werden. Was parteipolitisch überraschend gut funktionierte, ließ im Alltagsleben noch bis mindestens weit in die sechziger Jahre hinein auf sich warten.

Die Sammlungspartei CDU erlebte nicht zuletzt dank des schnell einsetzenden „Wirtschaftswunders“ eine unerwartete Karriere und Stabilität als Volkspartei, der es gelang, sehr heterogene politische Strömungen und Wählerschichten zusammenzuführen.

Sie avancierte zur „Staatspartei“ der BRD, die linke Kritiker dann in den sechziger Jahren als „CDU-Staat“ identifizierte. Ihre Identitär bezog sie aus einer diffusen „Mitte“, die bis heute von Elementen einer Totalitarismusdoktrin lebt, in der sich die Extreme von links und rechts hufeisenförmig treffen.

Ideologisch war das die Gleichsetzung von Nazismus und Sowjetkommunismus (inclusive sonstiger Sozis als „fünfte Kolonnen“), rot gleich braun, rechts gleich links, was sowohl das politische System (Demokratie vs. Diktatur) wie das ökonomische (Marktwirtschaft als Alternative zur „Zentralverwaltungswirtschaft“) betraf. Nach dem faktischen Verschwinden des Nationalsozialismus bzw. Faschismus als reale politische Kraft konzentrierte sich die Hauptfront auf den Kampf gegen den Kommunismus.

Dieser Antikommunismus wurde – durchaus mit Hilfe der Sowjetunion – zur Staats- und Integrationsideologie im „Westen“. Der entscheidende Unterschied lag darin, dass es in einigen Ländern Westeuropas auch starke kommunistische Parteien gab (insbesondere in Italien und Frankreich), während diese, allerdings wesentlich schwächer, in der BRD 1956 verboten und damit in die „DDR“ exterritorialisiert wurde.

Dass die machtpolitischen Strukturen des Kalten Krieges und seine ideologischen Überbauten dabei hilfreich waren, Freund- und Feind neu zu bestimmen, ist offenkundig. Inwieweit das Ende des Kalten Krieges einen Anteil an dem Zerfall der christlich-demokratischen Volksparteien in Westeuropa hat, bedarf einer eigenen Untersuchung. (Biebricher 2023)


Die Linke oder die globale Vertiefung der Spaltung

Mit solch einem neuen Integrationserfolg konnte die Linke nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufwarten. Im Gegenteil, der Kalte Krieg verschärfte ihre Spaltung noch. Die nicht-kommunistische Linke konnte sich zwar rühmen, den Nazis nicht auf den Leim gegangen zu sein, sondern so weit wie möglich aktiven oder passiven Widerstand geleistet zu haben. Die Sozialdemokraten hatten dem Ermächtigungsgesetz im März 1933 als einzige Partei nicht zugestimmt, was der KPD versagt war, weil deren Reichstagsabgeordneten nach dem Reichstagsbrand schon in Haft oder geflüchtet waren.

Die Linke war am Ende des Dritten Reiches organisatorisch in Deutschland so gut wie zerschlagen, entweder im Widerstand und KZ physisch liquidiert oder emigriert, auch innerlich. Und vor allem fehlte es an Nachwuchs. Weder im Moskauer Exil noch im Nazi-Deutschland konnte unter der Zwangsjacke der HJ-Indoktrination oder der Moskauer Schauprozesse sozialistisches Gedankengut rezipiert werden.

Etliche Emigranten im westlichen Ausland absolvierten zwar in ihrem Exil wichtige politische Lernprozesse, die in der BRD produktiv genutzt wurden, aber „Nachwuchs“ generierten sie nicht.

Man muss diesen „äußerlichen“ Beschränkungen freilich auch selbstgemachte Fehler hinzufügen. Die Spaltung der Arbeiterbewegung, die mit und im Ersten Weltkrieg international offenkundig wurde und den alten Streit zwischen Reformisten und Revolutionären um die Kriegsfrage erweiterte, führte fortan zur offenen Gegnerschaft zwischen demokratischen Sozialisten und den um die Sowjetunion sich bildenden Kommunisten. Diese Spaltung wurde nach der Oktoberrevolution 1919 mit der Gründung einer eigenen, der „Kommunistischen Internationale“ (KI oder „Komintern“ abgekürztt), besiegelt.

Begrenzen wir uns auf Deutschland, dann führte diese Spaltung in der Weimarer Republik insbesondere in deren Endphase zu einer derart erbitterten Feindschaft zwischen der KPD und der SPD, dass die Chancen einer gemeinsamen Front gegen die Nazis stetig sanken. Als die Nazis nach der Macht griffen, gab es keinen Generalstreik wie zu Beginn der Weimarer Republik, als der „Kapp-Putsch“ an der „Arbeitereinheitsfront“ scheiterte.

Eine taktische Wiederauflage einer „Volksfrontpolitik“ nach dem 7. Weltkongress der KI 1935 blieb eine kurzfristige Episode, die im Spanischen Bürgerkrieg zwar für eine internationale Solidarität unbekannten Ausmaßes sorgte, aber dann auch mangels Unterstützung durch die Westmächte wie durch die Machtansprüche der stalinistischen KOMINTERN Franco den Sieg brachte.

Und als sich nach dem Münchner Abkommen 1938 alle Hoffnungen eines internationalen antifaschistischen Widerstandes auf Stalins Sowjetunion konzentrierten, erfolgte durch den Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 die große Ernüchterung. Für viele Antifaschisten war es der Zusammenbruch einer Welt, die alle politischen Unterschiede von Gut und Böse tilgte.

Man muss hinzufügen, das war primär die Verantwortung der Kommunisten. Die „Sozialisten“ hatten sich über Stalins Sowjetunion nie irgendwelchen Illusionen hingegeben. Außenpolitisch votierte die SPD in der Weimarer Republik eindeutig Richtung Westen. Locarno hatte den Vorzug vor Rapallo. Und Bündnisse mit der KPD, die als „rotlackierte Faschisten“ galten, waren so unmöglich wie für die Kommunisten, für die Sozialdemokraten auf Anordnung Stalins ab Ende der zwanziger Jahre nur noch „Sozialfaschisten“ waren.

Dennoch musste sich auch die Sozialdemokratie die Frage stellen, warum sie außer der Beschwörung der strikten „Legalität“ der schleichenden Machtergreifung der Nazis nichts mehr entgegenzustellen hatten.

Nach dem Kriegsende war die Sehnsucht nach Überwindung dieser für beide Seiten tödlichen Spaltung zwar groß, aber die Hindernisse fast noch größer. Der Versuch in der Ostzone diese Spaltung durch die SED als „Einheitspartei“ zu überwinden, hatte so viel „Stalinistisches“ an sich, dass die Sozialdemokraten gegen die erfolgte „Zwangsvereinigung“ protestierten und im Westen in der Person des Vorsitzenden Kurt Schumacher die Kommunisten erneut zum Hauptgegner erklärten.

Die Teilung Deutschlands war damit zugleich die weitere Spaltung der Arbeiterbewegung. Zwar war der „weltrevolutionäre“ Elan der Bolschewiken seit 1924 verschwunden und nur noch der Albtraum des Bürgertums, aber das undemokratische Vorgehen der Kommunisten im Verbund mit der Sowjetunion in Osteuropa war für das Aufleben der alten Feindschaft ein entscheidender Nährboden.

Der Niedergang der KPD im Westen Deutschlands ist auf Repressalien allein nicht zurückzuführen. Sie kam in keiner Nachkriegswahl und auf keiner Ebene zu nennenswerten Erfolgen. Als sie 1956 dann auch noch verboten wurde, grenzte das an Leichenfledderei. Das definitive politische Aus für die KPD war die Berlin Blockade 1948, die zugleich der Befreiungsschlag für die westdeutsche Bevölkerung wurde.

Über Nacht verwandelte sich das Volk des größten Zivilisationsbruchs der Weltgeschichte durch die von Stalin verordnete Blockade Berlins in die Frontkämpfer der Freiheit und Berlin in die Frontstadt der freien Welt, auf die die Welt in den pathetischen Worten des Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter nun schauen sollte.

„Als Massenphänomen hat der Kommunismus mindestens seit 1948 zu existieren aufgehört. Die Berlin Blockade hat ihn außenpolitisch, die Währungsreform innenpolitisch das Genick gebrochen. Von diesem Augenblick an befand sich die KPD in ununterbrochener Rückbildung.“ (Allemann 1956, 240)

Das KPD-Verbot beseitigte keine reale Gefahr für die Bonner Demokratie, führte aber zu unverhältnismäßigen strafrechtlichen Repressalien für Kommunistinnen und Kommunisten.
Der Blick nach Westen bei den Sozialdemokraten war den Kommunisten dagegen der Beweis für ihre Verkommenheit und Verrat an der Sache.

Mit dem Kalten Krieg, der Entstehung der Blöcke wuchs der Zwang der Wahl zwischen USA und Sowjetunion. Zwischen leicht mit Wohlfahrtsstaat gepuderten Kapitalismus und einer politischen Demokratie gegen eine uneffektive Planwirtschaft ohne Demokratie lautete zugespitzt die Alternative.

Wie realistisch die Hoffnungen der SPD waren, auf der Basis des Grundgesetzes, das die definitive Wirtschaftsordnung zwar offenließ, aber einer umfassenden Sozialisierung doch erhebliche Barrieren in den Weg legt, einen Weg zum Sozialismus auf demokratische Basis zu finden, ist schwer zu entscheiden und praktisch nie getestet worden. Die erste Bundestagswahl 1949 glich einer eiskalten Dusche.

Schumachers Glaube an einen moralischen Kredit für den Widerstand gegen Hitler wurde dramatisch enttäuscht. Mit 29,2 Prozent verharrte sie – wenn auch knapp – wieder im „Zwanzigprozentturm“ wie in der Weimarer Republik. Schlimmer noch, sie lag auch noch hinter der CDU / CSU mit 31 Prozent. Die KPD kam auf 5,7 Prozent. Die restlichen Stimmen verteilten sich auf Liberale mit 11,9 Prozent und kleinere, überwiegend rechte und konservative Splitterparteien, die alle in den Bundestag einzogen, da es noch keine fünf Prozent Sperrklausel gab.

Trotz der überwältigenden bürgerlichen Mehrheit der Prozente und Mandate wurde Konrad Adenauer nur mit (s)einer Stimme Mehrheit zum ersten Bundeskanzler der BRD gewählt und das Heft des Handelns in die Hand gelegt. Er nutzte diese Gunst der Stunde für seinen Westintegrationskurs auch gegen massenhafte Widerstände.

In der Außenpolitik lag eine, wenn nicht die Achillesferse der SPD Schumachers. Sein Antikommunismus trieb ihn eigentlich in die Arme der USA und des Westens bis hin zur Nato. Aber das Festhalten am Primat der deutschen Einheit war ein Ziel, das nicht nur mit jedem Schritt institutioneller Integration in den Westen unrealistischer wurde, es fehlte ihm zudem ein erfolgversprechender Partner in Moskau.

Ohne Zustimmung von dort gab es keine Einheit. Es passte so wenig zusammen, wie bei Adenauers Versprechen, der Schlüssel zur Wiedervereinigung liege allein in Moskau und nur die Stärke des Westens könne die Herausgabe dieses Schlüssels bewirken. Dieser Lebenslüge der BRD bzw. der „Wiedervereinigungspolitik Adenauers“ hatte Schumacher aber realistisch nichts entgegenzusetzen, denn einem Ausgleich mit der Sowjetunion stand er nicht nur skeptisch, sondern ablehnend gegenüber. Kurzum: für seine Strategie hatte er keine Verbündeten, nicht einmal einen Ansprechpartner.

Mehr, als Adenauers Schritte in den Westen als Schritte zur Vertiefung der Teilung zu brandmarken, hatte er auch seinen Nachfolgern nicht hinterlassen. Nach dem Nato-Beitritt 1955 legten sie das Schwergewicht auf „Disengagement“, d.h. Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes. Sie kämpften (erfolgreich) gegen die Atombewaffnung und arbeiteten einen „Deutschlandplan“ nachdem anderen aus, sie mobilisierten große Mengen Menschen, aber sie brachten keine nennenswerte Steigerung der Prozente an der Wahlurne ein.

1959 kam die große Wende mit dem Godesberger Programm, dass im Kern seinen Frieden mit der bestehenden Wirtschaftsordnung machte: So viel Markt wie möglich, und so viel Plan wie nötig! Der Wandel von der Arbeiter- zur Volkspartei wurde ein Jahr später außenpolitisch komplettiert, als auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise das Ja zur Bundeswehr und zur Nato folgte.


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