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Sonntag, 2. November 2025

Otto Hasenclever: Osnabrücker Freikorps-Hauptmann putscht gegen die Republik

Teil 1 der neuen OR-Serie „Täter-Hetzer-Profiteure“

Wer den Nationalsozialismus in seiner Entstehung verstehen will, muss tief in die Geschichte eintauchen. Antisemitische Bewegungen lassen sich in Deutschland schon früh im Mittelalter nachweisen. Kennzeichnend sind die von Massenmord und Verfolgung geprägten „Juden-Pogrome“, die im Zuge der Pest um 1350 entfacht wurden. Bereits damals ist die erste jüdische Gemeinde Osnabrücks für Jahrhunderte vernichtet worden.


Unser Mut zur Schwerpunktsetzung

Antidemokraten wiederum entstehen spiegelbildlich zu jenem Zeitpunkt, als demokratische, sozialistische oder kommunistische Bewegungen das Licht der Welt erblicken. Aus all diesen Gründen wäre es reizvoll gewesen, am Beispiel Osnabrücks den tiefen Sumpf nationalistischer Clubs, Offizierscasinos, Stammtischen, Kollegien und Kriegervereinen bis hin zu Verfechtern alldeutscher Fantasien bloßzulegen. Spätestens im Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 agitieren alle wie besessen für ihr Ziel, das deutsche Territorium mit vermeintlichen Kriegshelden unbeschadet aller Opfer in alle Richtungen der Welt auszuweiten.

So reizvoll all dies gewesen wäre: Als wir uns im Osnabrücker ILEX-Kreis vorgenommen hatten, eine biografisch unterlegte Serie zu regionalen NS-Tätern zu machen, haben wir uns bewusst für einen harten zeitlichen Schnitt entschieden. Dieser ist allerdings deutlich vor 1933 zu verorten: Es macht Sinn, Osnabrücker Urquellen des NS-Ungeistes vor allem in der Weimarer Republik zu suchen. Viele der Protagonisten tauchen in der NS-Zeit wieder auf.

Grabstätte für Otto Hasenclever auf dem Johannisfriedhof. Foto: Heiko Schulze/OR
Grabstätte für Otto Hasenclever auf dem Johannisfriedhof. Links befindet sich die Grabtafel seiner Schwester Erna, rechts diejenige seiner Witwe Gertrud. Foto: Heiko Schulze/OR


Hauptmann Otto Hasenclever: standesgemäße Karriere, gut vernetztes Familienumfeld – und ein prominenter Schwiegervater

Hasenclever ist einer der Hauptakteure jener Geschehnisse, die sich aus Osnabrücker Perspektive um den Kapp-Putsch von 1920 ranken. Folgt man alten, im Osnabrücker Landesarchiv verwahrten Adressbüchern sowie genealogischen Aufzeichnungen, ist Otto der Sohn von Charlotte Hasenclever. In Adressbüchern jener Jahre wird sie als „Witwe des Hauptmanns“, wohnhaft in der Katharinenstraße 8, aufgeführt, wo sie auch noch im Adressbuch von 1937 verzeichnet ist. Der vormalige Hauptmann Richard Hasenclever, geboren 1855, ist gemäß den genealogischen Daten bereits anno 1894 mit nur 39 Lebensjahren verstorben. Er entstammte einer im Bergischen Raum alteingesessenen Kaufmanns-, Fabrikbesitzer- und Politiker-Famile. Der am 26. April 1888 in Osnabrück geborene Otto ist zum Zeitpunkt des Ablebens seines Vaters gerade einmal sechs Jahre alt.

Auch infolge der späteren, als „standesmäßig“ empfundenen Eheschließungen der Schwestern ist trotzdem stark zu vermuten, dass die Hasenclevers in Osnabrück zu den wohlhabenden und privilegierten Familien zählen. Unter der Internetadresse geni.com/people ist zu erfahren, dass der junge Otto gemeinsam mit den drei Schwestern Adda, Hedwig und Erna aufgewachsen ist. Hedwig ehelicht später den vormaligen Osnabrücker Senator und späteren Industriemanager Oscar Albert Sempell. Schwester Adda heiratet mit Felix Gustav Schoeller in die hier beheimatete, sehr wohlhabende und einflussreiche Papierunternehmerfamilie ein. Erna bleibt offenbar zeitlebens unverheiratet. Sie lebt später am Kennepohlweg 1 auf dem Westerberg und wird nach ihrem Tode 1966 auf Otto Hasenclevers Grabstätte, versehen mit einer eigenen Wandplastik, bestattet werden.

Offenkundig setzt Otto Hasenclever also die Familientradition des Vaters fort und startet eine Offizierskarriere, die aus seiner Sicht sinnstiftend sein sollte. Verheiratet wird er in dieser Zeit mit Gerdrud Hasenclever, Tochter des Juristen und Professors Dr. Adalbert Oehler (1860-1943), der noch zur Zeit der beginnenden Revolution Oberbürgermeister in Düsseldorf ist, dort allerdings am Ende – nach kurzer Zeit der Kooperation – vor den Revolutionären fliehen wird.

Dr. Adalbert Oehler: in den Revolutonstage aus seiner Stadt geflohener Düsseldorfer Oberbürgermeister: Inwieweit beeinflussen die Ereignisse um den Schwiedervater Hasenclevers Handeln?
Dr. Adalbert Oehler, Vater von Hasenclevers Ehefrau Gertrud: in den Revolutonstage aus seiner Stadt geflohener und als zu nachgiebig von Freikorps geschmähter Düsseldorfer Oberbürgermeister: Inwieweit beeinflussen die Ereignisse um seinen Schwiegervater Hasenclevers Handeln?

Bemerkenswert bei Hasenclevers Schwiegervater ist – neben seiner administrativen Tätigkeit – dessen Verwandtschaft mit dem weltberühmten Philosophen Friedrich Nietzsche. Adalbert Oehler ist ab 1893 bis zu dessen Tode 1900 sogar gemeinsam mit Elisabeth Förster-Nietzsche gesetzlicher Vormund des geisteskranken Philosophen gewesen. Zahlreiche Bücher über Nietsche werden später zu Oehlers literarischem Vermächtnis. 

Für Otto Hasenclever dürften im Frühjahr 1920 jedoch andere Ereignisse aus dem Leben seines bekannten Schwiegervaters wichtig sein: Dessen hektische Flucht vor den Revolutionären wird ihm von der nichtsozialistischen Düsseldorfer Presse, den konserativ-bürgerlichen Stadtverordneten und den dortigen Eliten nie verziehen werden. 

Am 28. Februar 1919 ist Düsseldorf von Freikorpstruppen erobert worden. Hasenclevers Schwiegervater möchte daraufhin in seine Funktion als Oberbürgermeister zurückkehren. Gegenüber den preußischen Behörden verlautbaren die Besatzer der Stadt jedoch, dass eine Rückkehr Oehlers ausdrücklich nicht gewünscht sei, weil man ihm vorwarf, zuvor zu sehr Kompromisse mit dem örtlichen Arbeiter- und Soldatenrat gesucht zu haben. Im Rahmen der Vorwürfe durch Verwaltung und Presse erscheint deshalb noch 1919 eine Rechtfertigungsschrift Oehlers mit dem Titel „Meine Beziehungen zur Revolution“.

Als aktiver Mitkämpfer des in Rheinland und Westfalen kämpfenden Freikorps Lichtschlag dürfte Hasenclever die Geschehnisse im gesamten Raum hautnah mitbekommen haben. Es dürfte seine und die Haltung seiner Truppe massiv gestärkt haben, jeden Anflug von Verständnis gegen revoltierende Arbeiter unbedingt zu vermeiden. Der mit wachsender Brutalität verbundene Werdegang der Truppe zum Freikorps „Totschlag“ dürfte zusätzlichen Nährboden gefunden haben. Speziell für Oehlers Schwiegersohn Otto Hasenclever dürfte die Konsequenz heißen, gegen alle, die er für Revolutionäre hält, vonvornherein mit aller Härte vorzugehen, statt auch nur die kleinsten Kompromisse einzugehen. 

Privat gestaltet sich Hasenclevers Situation friedlicher. Otto und Gertrud haben bereits 1918 einen Sohn namens Richard bekommen. Ottos Witwe Charlotte wird später den aus einer hugenottischen Familie stammenden Adeligen Kurt von Lavergne-Pequilher heiraten. Auch die Schwester wird nach ihrem Tode auf Otto Hasenclevers Begräbnisstätte mit einer eigenen Namenstafel verewigt werden.


Warum Hasenclever kein Nazi werden konnte

Exemplarisch für Todfeinde der ersten deutschen Republik stehen die sogenannten Freikorps. Unser Hauptakteur ist dabei der schon erwähnte Hauptmann Otto Hasenclever. Wie kein zweiter symbolisiert dieser die Osnabrücker Ausprägung jenes „Kapp-Lüttwitz-Putsches“, der die Weimarer Republik im März 1920 erschüttert. Dieser Putsch von rechtsaußen stellt in der jungen Demokratie den allerersten Versuch dar, die Republik zu liquidieren und sie mit Waffengewalt per Machtergreifung durch eine nationalistische Diktatur zu ersetzen.

Warum sich Otto Hasenclever im Frühjahr noch kein rundes Parteiabzeichen mit Hakenkreuz ans Revers heften kann, dürfte – aus seiner Sicht empfunden – an der Ungnade seines frühen Todes liegen. Er wird am 15. März 1920, mit knapp 32 Lebensjahren, im Ruhrort Wetter sterben, als er den Soldatentod im Kampfeinsatz gegen republikschützende Arbeiter findet. Bestattet ist er seither auf dem örtlichen Johannisfriedhof, Grabstelle 5. Abteilung, an der Mauer Nr. 48/49. Jenseits der Friedhofsumgrenzung beginnt die Schürenstraße.

Völlig ausgeschlossen ist nicht, dass Hasenclever die Geburt der NSDAP bereits kurz vor seinem Tod bemerkt hat. Am Abend des 24. Februar 1920 ist nämlich im fernen Münchner Hofbräuhaus die Gründung einer neuen Partei namens „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ (NSDAP) verkündet worden. Entstanden ist neue Gruppierung aus der „Deutschen Arbeiterpartei“. Die neue Formation gilt jedoch als eine von etlichen ultrarechten Kleingruppen, die selbst von ihrer großen Konkurrenz, der starken und kaisertreuen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und ihrem bereits am 25. Dezember 1918 gegründeten Wehrverband „Stahlhelm“, zum Zeitpunkt ihrer Premiere kaum ernstgenommen werden.

Symbol des Freikorps Lichtschlag: als Abzeichen auf dem Revers (links) und auf dem Hasenclever-Grabmahl.
Symbol des Freikorps Lichtschlag: als Abzeichen auf dem Revers (links) und auf dem Hasenclever-Grabmahl.

Am Tag der offiziellen NSDAP-Gründung in München wird der Osnabrücker Hauptmann Hasenclever nur noch 19 Lebenstage vor sich haben. Allein deshalb ist stark zu vermuten, dass er sich anno 1920 weit eher der DNVP und dem „Stahlhelm“ zugehörig fühlen dürfte. Der italienische Faschist Benito Mussolini, der erst 1922 nach dem „Marsch auf Rom“ die Macht an sich reißen wird, dürfte Hasenclever kaum ein Begriff gewesen sein. Die NSDAP wiederum wird reichsweit erst am 9. November 1923 Furore machen, als der sogenannte „Hitler-Putsch“ gegen die Republik kläglich in München scheitert.


Die Freikorps: Auffangbecken späterer Faschisten

Hasenclever selbst steht für eine führende Rolle inmitten der sogenannten Freikorps. Zum Verständnis der Ereignisse ist es also sinnvoll, jene Militärformationen in den Blick zu nehmen. Dies gilt umso mehr, zumal die späteren Nazi-Armeen wie SA und SS ohne die Freikorps kaum mit ihrer militärischen Schlagkraft derartig gewachsen wären.

Die wichtigste Gemeinsamkeit mit der erst später starken NSDAP ist eine eng verwandte Struktur: Die Freikorps sind dem Führerprinzip vergleichbar organisiert. Sie sind zu extremer Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung bereit. Geburtsanlässe der Freikorps bilden die Kriegskapitulation des Reiches und die Ausrufung der Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, erst recht die Verkündung der Räterepublik durch den Linkssozialisten Karl Liebknecht am 9. November 1918.

Nackte Zahlen veranschaulichen das Problem. Ende 1918 kehren rund 6 Millionen deutsche Soldaten von der Front oder aus der Gefangenschaft in ihre Heimat zurück. Viele Frontsoldaten, allesamt in Waffen, stehen vor einer ungewissen Zukunft. Die allermeisten haben die vielzitierte „Schnauze voll“, drängen schnellstmöglich nach Hause und an zuvor verlassene Arbeitsstätten. Für viele jüngere Frontkämpfer, unter ihnen auch Offiziere wie Hasenclever, die jahrelang kaum anderes gelernt haben als zu schießen, offenbart sich eine Art Vakuum. Die Armee, ob man dies will oder nicht, kann fortan keine Heimat wie Arbeitsstätte mehr sein. Aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags darf die Weimarer Republik zum Stichtag 1. Januar 1921 nur noch ein Heer von 100.000 Mann unterhalten.

Wer kein überzeugter Demokrat ist und, wie der Osnabrücker Erich Maria Remarque, keinen Ekel vor Waffengängen empfindet, für den sind Freikorps auch finanziell durchaus von Bedeutung. Immerhin verschaffen sie dem Kämpfer gesicherten Sold, Unterkunft und Verpflegung. Die Finanzierung der Truppe erfolgt, solange dies jener möglich ist, durch eine Kombination vom Sold der Reichsregierung sowie durch Zahlungen privater Gönner. Zu jenen Sponsoren zählen Industrielle wie Hugo Stinnes, weitere Kapitalisten sowie finanzstarke nationalistische Organisationen. Auch andere, nicht von der Regierung geförderte Freikorps erhalten Unterstützung von privaten Geldgebern, um ihre paramilitärischen Operationen zu finanzieren.

Die allermeisten Mitglieder der rund 120 Freikorps vertreten antirevolutionäre und antidemokratische Ansichten. Die Stärke kleinerer Trupps beträgt zumeist zwischen 2.000 und 10.000 Mann. Bewaffnet sind sie mit Karabinern, jedoch verfügen die Infanterie- und Kavallerieeinheiten auch über zahlreiche schwere Maschinengewehre und Minenwerfer. Die zumeist noch kaisertreuen Kämpfer sind jung: Rund 75 % der Mitglieder sind nicht älter als 25 Jahre und ledig.

Dank einer akribisch ausarbeiteten Dissertation des Historikers Jan-Philipp Pomplun, der 2022 sein Werk „Deutsche Freikorps. Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus“ veröffentlicht hat, kennen wir genauer soziologische Fakten der Freikorps-Szene. Rund 200.000 bis 400.000 Freikorpskämpfer gibt es danach im Jahre 1919.

Von diesen haben allerdings, eine überraschende Erkenntnis, nur rund 40 Prozent am Weltkrieg teilgenommen. Etwa ein Drittel der Kämpfer stammt aus der Kriegsjugendgeneration, die sich vor allem durch das Bedürfnis auszeichnet, die verpasste Fronterfahrung des Weltkrieges durch eine paramilitärische Beteiligung in der Nachkriegszeit auszugleichen. Und auch dies ist nach Pompluns Forschung eher überraschend: Die Arbeiterschaft – dazu zählen nicht nur die ungelernten Arbeiter und die Facharbeiter, sondern auch Handwerksgesellen – machen insgesamt fast zwei Drittel der Freikorpskämpfer aus. Dass im Zuge blutiger Kämpfe wie denen im Ruhrgebiet, auch von überlaufenden Freikorps-Kombattanten gesprochen wird, mag auch daran gelegen haben. Nur jeder Fünfzigste der Kämpfer ist Beamter, von hundert Freikorps-Mitgliedern zählen allenfalls sieben zum klassischen Mittelstand, sechs zur Bauernschaft und vier zu den Studenten.

Die Bereitschaft der neuen, mehrheitssozialdemokratischen Regierung unter Friedrich Ebert und vor allem Reichswehrchef Gustav Noske, Ende 1918 mit Gewalt gegen aufbegehrende Matrosen und Arbeiter vorzugehen und letztendlich auch die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts im darauffolgenden Januar zu dulden, hat die Gräben immer tiefer werden lassen. Am Ende stehen sich 1919 deshalb vielerorts auch Anhänger der mehrheitssozialistischen Regierung und der zur Jahreswende 1918/19 neu entstandenen KPD unversöhnlich und gewaltbereit gegenüber.

Verständlich wird der überraschend große Arbeiteranteil, wenn man sich anschaut, wer 1919 die Werbetrommel für die paramilitärischen Einheiten gerührt hat: Da finden sich neben der MSPD-geführten Regierung sogar wenige Vertreter der USPD, hohe Gewerkschaftsfunktionäre, einzelne Arbeiter- und Soldatenräte oder christliche Arbeiterorganisationen, die eine gewaltsame Niederschlagung von Streiks und Aufständen durchaus für richtig halten und insbesondere unter der Arbeiterschaft für tatkräftige Unterstützung der Freikorps werben. Man hält diese zu jenem Zeitpunkt offenkundig für Beschützer der Republik gegen eine angeblich aus Russland importierte kommunistische Gefahr. Zudem geht es im Falle des Ruhrgebiets um die Versorgung mit Kohle. Vor allem in der Arbeiterklasse wird man gern festgestellt haben, dass die Einheiten manch einem in Zeiten privater wirtschaftlicher Ungewissheit auch als Versorgungsmöglichkeit dienen.

Und die Gewaltbereitschaft? Nach dem Gemetzel an der Front mit Millionen von Toten und Kriegskrüppeln gibt es für viele Bewaffnete nur geringe Hürden, sich erneut in gewaltsame Exzesse zu stürzen. Hinzu kommt eine eigenartig anmutende Rechtssituation: Tatsächlich muss kein Freikorpskämpfer bei willkürlichen Tötungen mit einer Strafverfolgung rechnen. Der berüchtigte Schießerlass des Reichswehrministers Gustav Noske (persönliches Motto:„Einer muss der Bluthund sein!“) für das Reichsgebiet hat einen zentralen Rahmen für das spätere Gewalthandeln der Freikorps gebildet.

Kurzum: Nationalismus, Militarismus und Demokratiefeindlichkeit werden später nicht nur Grundtugenden der Nationalsozialisten bilden. Sie werden bereits bei den Freikorps alltäglich gelebt.

Das Freikorps Lichtschlag wirbt um Mitkämpfer.
Das Freikorps Lichtschlag wirbt um Mitkämpfer.


Freikorps Lichtschlag,
genannt „Freikorps Totschlag“ – und ihr frühestes Opfer in Osnabrück

Das Freikorps, dessen umgangssprachliche Bezeichnung, wie oben schon angedeutet, sich nach brutalen Maßnahmen im Ruhrgebiet zunehmend „Freikorps Totschlag“ lautet, hat sich bereits aus dem vormaligen VII. Armeekorps in Münster am 18. Januar 1919 gebildet. Kommandierender General ist dort Oskar von Watter. Ende März 1919 übernimmt er auch das Oberkommando in Osnabrück sowie über alle westfälischen Freikorps, die als gemeinsames Kennzeichen ein grün-weiß-schwarzes Band um den unteren Teil der Schulterklappe tragen.

Die Truppe, dessen 2. Bataillon in der Caprivikaserne untergebracht ist, hat bereits unmittelbar vor dem folgenden Kapp-Putsch in der Hasestadt für negatives Aufsehen gesorgt. Es geht um einen direkten Mordversuch. In den freidenkerisch und pazifistisch ausgerichteten Monistischen Monatsheften vom 1. Mai 1920 wird darüber rückblickend berichtet. Originalton:

In Hannover wurde vor einigen Tagen der Ulan Esser vom Korps Lichtschlag verhaftet, der Anfang März dieses Jahres in Osnabrück in einer Versammlung der Deutschen Friedensgesellschaft, als man ihn ersuchte, die Waffen abzugeben, einen Revolverschuss abfeuerte, durch den der Sohn des Vorsitzenden, der 24jährige Erich Knüppe, schwer verletzt wurde. Der Schuss ging durch den Hals, verletzte zwei Halswirbel und das Rückgrat und dürfte eine dauernde linksseitige Lähmung zurücklassen. (…) Allzu lange haben die Behörden gezaudert, diesem Fall nachzugehen; namentlich hat die Staatsanwaltschaft Osnabrück zu wiederholten Malen ein Verfahren abgelehnt, da ’nicht genügend Material vorliege‘. (…)
Als die in Frage kommenden Behörden den Fall Knüppe mit Ausdauer ignorierten, wandte sich dessen Vertreter,
Rechtsanwalt Rahardt in Osnabrück, mit einer Eingabe an das Reichswehrministerium und das Justizministerium, in der sehr viel interessantes Material zur Beurteilung der im geheimen arbeitenden Verschwörerklüngel enthalten ist. (…) Es geht aus der Denkschrift des Rechtsanwalts eindeutig hervor, dass ein Befehl, die Versammlung zu sprengen, von einer Berliner ‚Dienststelle‘ ausgegangen ist.

Am Rande sei bemerkt, dass Osnabrücks Rechte auf diese Weise weitere Merkposten für eine spätere Racheaktion gewinnt, die nach 1933 genüsslich ausgelebt werden wird: Alwine Wellmann, stets aktives Mitglied der Osnabrücker Friedensgesellschaft dürfte schon früh auf diese Liste geraten sein. Gleiches gilt für den Rechtsanwalt und späteren Sozialdemokraten Adolf Rahardt, der zuvor Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat gewesen ist und allein schon deshalb als Vaterlandsverräter gilt.

Im benachbarten Münster zieht zu jener Zeit, als der erwähnte Mordversuch in Osnabrück stattfindet, General Watter zusehends seine Fäden. Im Zuge der Umbildung der alten Armee zur Reichswehr ist er in Münster bereits am 1. Oktober 1919 Kommandeur der Reichswehr-Brigade 7 und zugleich des neugebildeten Wehrkreises VI geworden. In dieser Dienststellung kann er bereits 1919 eine maßgebliche Rolle bei der blutigen Niederschlagung der Streiks im Ruhrgebiet spielen, die in der Arbeiterschaft unzählige Opfer fordert. Insgesamt zählt Wetters konterrevolutionäre Lichtschlag-Truppe rund 2.500 Bewaffnete.

Bottrop 1919: Grinsende Angehörige des Freikorps Lichtschlag führen den Arbeitersprecher Alois Fulneczek ab, um ihn kurz danach zu ermorden.
Bottrop 1919: Grinsende Angehörige des Freikorps Lichtschlag führen triumphierend den angesehenen Arbeitersprecher Alois Fulneczek ab, um ihn kurz danach brutal zu ermorden.

Blutige Kämpfe zwischen Arbeitern und Freikorpstruppen in Witten am 24. und 25. März lösten eine neue Streikwelle aus. Ein am 30. März 1919 beschlossener unbefristeter Generalstreik wird am 1. April bereits von etwa 160.000 Bergarbeitern und am 10. April von insgesamt 307.000 Streikenden befolgt, was drei Viertel der Belegschaften im gesamten Ruhrkohlebergbau entspricht. Die Behörden verhängen den Belagerungszustand und kündigen den Einsatz von Militär an, um den Streik zu beenden.

Der SPD-Politiker und spätere preußische Innenminister Carl Severing wird General Watter als Reichs- und Staatskommissar zur Seite gestellt, um zu gewährleisten, dass die militärische Gewalt auf ein Mindestmaß beschränkt bleibt. Severings Vorgehen – mit Zugeständnissen, aber auch hartem Druck, Verhaftungen von Streikführern und der Gewährung von Sonderrationen für Arbeitswillige – zeigt zunächst Erfolg, und die Zahl der Streikenden geht ab dem 14. April stetig zurück.

Allerdings bringt ein erneuter Gewaltexzess von Mitgliedern des Freikorps Lichtschlag, die am 15. April im Kreis Mettmann in eine Versammlung Streikender schießen, einen herben Rückschlag. Eine sofort einberufene Streikkonferenz beschließt postwendend die Fortsetzung der Arbeitsniederlegung. Noch am 24. April lässt etwa ein Drittel der Belegschaften Hämmer, Eisen und Stemmeisen liegen. Erst am 2. Mai 1919 wird der Streik, vor allem durch Sewerings Einfluss, endgültig mit Kompromissen beendet.

Sozialdemokratie und freie Gewerkschaften rufen reichsweit zum Generalstreik auf.
Nach dem 13. März 1920: Sozialdemokratie und freie Gewerkschaften rufen reichsweit zum Generalstreik auf.


Kapp-Putsch in der Reichshauptstadt: Hakenkreuzler wollen die Macht, Truppe will Truppe bleiben
– und Arbeiterparteien demonstrieren Solidarität

Rasend schnell verbreiten sich in Osnabrück nach dem 13. März Ereignisse, die sich in der Hauptstadt Berlin zutragen. Die Informationen verbreiten sich auch in den örtlichen Tageszeitungen blitzschnell und bestimmen das Thema unzähliger Diskussionen im Straßenbild. Die nationalliberale Osnabrücker Zeitung wartet sogar mit einer Sonder-Ausgabe auf. Neugierige lesen unter der Überschrift „Die neue Regierung“, worum es geht:

Die legale Regierung unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Gustav Bauer ist, folgt man der Sonderausgabe, für abgesetzt erklärt worden. An ihre Stelle habe sich als neuer Kanzler ein gewisser Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp gesetzt, der fortan zum Namensgeber des Umsturzversuches wird. Fest an seiner Seite steht, so die Meldung des Blatts, ein Freiherr von Lüttwitz, seines Zeichens kommandierender General in Berlin.

In der Tat: In den frühen Morgenstunden des 13. März 1920 sind große Formationen rechts ausgerichtete Freikorps-Truppen durch das Brandenburger Tor in Berlin marschiert. Systematisch haben sie das gesamte Regierungsviertel besetzt. Reichswehr und Polizei verweigern der gewählten Koalitionsregierung aus Mehrheits-Sozialdemokraten (MSPD), katholischer Zentrumspartei und linksliberalen Demokraten brüsk ihren Schutz. „Truppe schießt nicht auf Truppe“ soll Generaloberst Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung, die verweigerte Hilfeleistung mit zackigen Worten begründet haben. Gänzlich ohne militärischen oder polizeilichen Schutz, fliehen die sozialdemokratischen Minister zuerst nach Dresden, dann nach Stuttgart.

Vor allem auch materielle Beweggründe der Putschisten machen in deren Reihen auch in diesem Fall zusehends die Runde: Der dem Reich nach der Kriegsniederlage 1918 aufgezwungene, am 10. Januar 1920 in Kraft getretene Versailler Friedensvertrag erlaubt Deutschland nur ein 100.000 Mann starkes Heer. Die aktive Zahl der Soldaten jener Nachkriegszeit, von denen viele Freikorpsangehörige im Osten noch lange Zeit in Kämpfe verstrickt sind und ihren Lebenssinn im Waffenrock sehen, beträgt zu diesem Zeitpunkt mindestens die vierfache Zahl an Kämpfern.

Drei von vier Soldaten, die unverändert die Uniform tragen, sehen sich also vor dem Nichts. Überdies glauben sie zusehends der „Dolchstoßlegende“ vom hinterrücks von Revolutionären gemeuchelten, angeblich unbesiegten „Helden“ des Weltkrieges. Vor allem jene, die sich Freikorps anschließen, werden immer empfänglicher für antidemokratische Bewegungen und Ideologien. Großzügige finanzielle Zuwendungen finanzkräftiger Teile von Großindustrie und Banken, abgewickelt über örtliche Fonds der „Antibolschewistischen Liga“, bilden weiter ein finanzielles Polster, auf dem sich viele Freikorpskämpfer und rechte Parteien auch jetzt deutschlandweit ausruhen können.

Berliner Beobachtern springt auf dem Stahlhelmen etlicher Putsch-Soldaten ein eigentümliches Symbol ins Auge: Es handelt sich um ein weiß gepinseltes Hakenkreuz. Den Hintergrund dieser altgermanisch anmutenden Bemalung kennen nur Insider: Träger der Hakenkreuzhelme sind antisemitische, antidemokratische und bei Nachkriegskämpfen um Grenzverschiebungen im Baltikum kampferprobte Mitglieder der Freikorps-Brigade Erhardt. Alle schmücken sich stolz mit dem späteren Erkennungszeichen der Nationalsozialisten. Überaus gern grölen sie ihr Erkennungslied:

Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band,
die Brigade Ehrhardt werden wir genannt.
Die Brigade Ehrhardt schlägt alles kurz und klein,
wehe Dir, wehe Dir, du Arbeiterschwein.

Arbeiter, so meinen vor allem die Söhne betuchter Eltern, haben gefälligst demütig zu gehorchen, aber niemals zu streiken. Auch in den Folgetagen werden sie das exakte Gegenteil erleben.

 

Arbeiterparteien demonstrieren Solidarität gegen Rechts

Die Meldung vom Berliner Putsch schweißt Gewerkschafter und Sozialisten aller Strömungen landauf, landab fest zusammen. Selbstverständlich ist das nicht. Denn seit der Kriegsfrage 1914, der Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) anno 1917 und der blutigen Geschehnisse während der Novemberevolution 1918 bestehen tiefe Gräben unter ehemals vereinten Sozialisten. Kapp und Lüttwitz aber bewirken beinahe ein Wunder: Sie schweißen die Arbeiterbewegung kurzzeitig wieder eng zusammen.

Noch am 13. Januar 1920 hatte eine mit Antidemokraten durchsetze Berliner Sicherheitspolizei (SiPo) vor dem Reichstag – mit Billigung und Förderung führender Mehrheitssozialdemokraten wie Reichswehrminister Gustav Noske und Reichspräsident Friedrich Ebert – in eine Massendemonstration geschossen. Hunderttausende Anhänger der entmachteten Arbeiterräte hatten gegen das im Parlament beratene Betriebsrätegesetz protestiert. Über 40 Tote gelten etlichen Arbeitern als weitere Blutschuld der Mehrheits-Sozialdemokratie.

Zugleich herrscht jedoch allerorten Betroffenheit, welch blutige Folgen die Zerstrittenheit von Arbeiterparteien haben kann. Die Rufe nach Einheit wachsen deshalb verstärkt in allen Linksparteien – vor allem in Mehrheits-SPD und USPD.

In der örtlichen SPD-Tageszeitung „Osnabrücker Abendpost“ ist schon in der Ausgabe vom 24. April 1919 über die Versammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins berichtet worden, wobei immer wieder die Spaltung zu Thema wird. Bereits zu diesem Zeitpunkt kommt der sozialdemokratische Redakteur, mutmaßlich ist es der Herausgeber des Blattes und Mitglied der verfassungsgebenden Nationalversammlung, Otto Vesper, mit hoher Wahrscheinlichkeit in völliger Übereinstimmung mit der Osnabrücker Parteispitze zu dieser Schlussfolgerung:

USP und SPD stammen von gleichen Eltern. Ihre Trennung, ihre Feindschaft ist unbegründet, sie führt beide dem Verderben entgegen. Beide vereint dagegen sind sie unüberwindlich. Mag die Wiedervereinigung auch jedem noch so schwer fallen, mag jeder noch so große Opfer bringen müssen, sie muss gelingen und sie wird gelingen, wenn jeder Verantwortungsbewusste sich sagt: So ehrlich wie ich von der SPD meint es auch mein Klassengenosse von der USP und umgekehrt. Betonen wir das Gemeinsame, das ja keiner von beiden bestreitet, stellen wir das Trennende einstweilen zurück. Die Situation zwischen Links und Rechts erfordert es.
Dem Kapitalismus gilt der Kampf. Ob USP, ob SPD: Wir müssen den Bruderkampf einstellen und den gemeinschaftlichen Feind niederkämpfen, um endlich den sozialistischen Staat aufrichten zu können. Das müssen wir gemeinschaftlich tun; denn der sozialistische Staat soll unser Staat sein! Arbeitskraft und Arbeitslust, Lebensmöglichkeiten und Daseinsfreude sollen seine Grundsätze sein. Das Fundament dürfen wir nicht im Bruderzwist zerschlagen. Helft bauen!

Tatsächlich zeichnet sich in Osnabrück, im Gegensatz zu Industriezentren, eine fast geschlossene Arbeiterbewegung. Zwar trifft sich regelmäßig eine USPD mit rund 300 Mitgliedern, doch die Einheit besitzt auch in deren Reihen Priorität. Mitte März gelingt die in Osnabrück so lange eingeforderte Einheit ganz konkret: Angesichts des Kapp-Putsches bildet die Solidarität der Arbeiterbewegung die eigentliche Voraussetzung dafür, dass der rasant verbreitete Aufruf zum Generalstreik reichsweit seine Früchte trägt: Auf dem Höhepunkt sind 12 Millionen Menschen im Streik.

Osnabrücker Impressionen: Sonderausgabe der Osnabrücker Zeitung und Aufruf der linksliberalen Demokraten.
Osnabrücker Impressionen: Sonderausgabe der Osnabrücker Zeitung und Aufruf der linksliberalen Demokraten.


Generalstreik in Osnabrück
– Triumph der Republik

Es dauert nicht lange, ehe sich auch Osnabrücker Gewerkschafter, Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten zur Bildung einer Abwehrfront zusammenfinden. Auch die Demokratische Partei und die Deutsch-Hannoversche Partei treten der Aktionseinheit bei. Am 15. März tagt auch das Ortskartell des Deutschen Beamtenbundes. Einstimmig stellt sich dieses ebenfalls hinter die demokratisch gewählte Reichsregierung, solidarisiert sich mit dem Generalstreik und fordert „alle Beamten und Lehrer auf, jede Handlung und Tätigkeit für die Umsturzregierung abzulehnen.“

Die zu Jahresbeginn in Berlin gegründete Kommunistische Partei (KPD) spielt an der Hase zu jener Zeit noch keine Rolle. Komplett wird das breite Bündnis mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) sowie mit der Arbeitsgemeinschaft für Angestellte (AfA).

Sie arbeiten im Aktionsausschuss zusammen, um den Erfolg des Generalstreiks in Osnabrück zu festigen: die Sozialdemokraten (von links) Walter Bubert, Gustav Haas und Otto Vesper.
Sie arbeiten im Aktionsausschuss zusammen, um den Erfolg des Generalstreiks in Osnabrück zu festigen: die Sozialdemokraten (von links) Walter Bubert, Gustav Haas und Otto Vesper. Bei der Osnabrücker Rechten geraten sie umgekehrt bereits jetzt ins Visier für spätere Racheaktionen.

In Osnabrück kommt dem Bündnis zugute, dass es hier infolge der Revolution von 1918 niemals zu tiefen Spaltungen der Arbeiterbewegung oder gar zur Gewalt untereinander gekommen ist. In Berlin und in anderen Industriezentren ist dies meist völlig anders: Hier haben Spaltung und Bruderkampf tiefe Risse produziert, die Familien und Freundschaften zerreißen.

Ein Osnabrücker Aktionsausschuss, der den offiziell von sozialdemokratischen Reichsministern ausgerufenen Generalstreik koordinieren soll, tagt im Lokal Vennemann in der Meller Straße. Der Kreis setzt sich aus den beiden MSPD-lern Otto Vesper (Mitglied der als Parlament fungierenden verfassungsgebenden Nationalversammlung) und Heinrich Groos sowie zwei USPD-Sprechern, dem Sekretär des Metallarbeiterverbandes Gustav Haas und seinem Genossen Ludwig Landwehr, zusammen.

Der flächendeckend verteilte Aufruf des Aktionsausschusses zum Streik spricht sich unter den Beschäftigten der Stadt wie ein Lauffeuer herum – und er wird prompt befolgt: Die städtischen Ämter, das Kupfer- und Drahtwerk, das Eisen- und Stahlwerk, auch kleinere Betriebe, die Post, die Straßenbahn und die Eisenbahnwerkstätten, selbst Theater und Kinos sind im Nu lahmgelegt. Aufrechterhalten wird nur der Betrieb im Krankenhaus, im Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk.


Freikorps Lichtschlag droht vom Westerberg: Hasenclever als Eroberer der Stadt?

Doch nicht alles zeigt sich einig im Streik für die Republik. Die größte Gefahr droht vom Westerberg. In der Caprivi-Kaserne salutieren kampfbereite Angehörige des Freikorps Lichtschlag unter ihrem Kommandeur, dem bereits eingangs ausgiebig vorgestellten, sehr kriegserfahrenen und dafür dekorierten Osnabrücker Hauptmann Otto Hasenclever.

Von hier aus droht der Freikorps-Terror: Caprivi-Kaserne, Sitz des Freikorps Lichtschlag.
Von hier aus droht der Freikorps-Terror: Caprivi-Kaserne, Sitz des Freikorps Lichtschlag. Auf dem Foto wird noch auf das viele Jahre dort beheimatete Infanterieregiment 78 hingewiesen, in dessen Reihen hier Erich Maria Remarque als Rekrut ausgebildet wurde.

Über dem Kasernenhof flattert bereits demonstrativ die schwarz-weiß-rote Fahne des kaiserlichen Reiches, was als offene Kampfansage an das Schwarzrotgold der offiziellen Flagge gilt. Die Truppe ist nicht nur mit Sturmgewehren, sondern auch mit etlichen MG und Geschützen bis an die Zähne bewaffnet. Postwendend wäre damit ein Blutbad in vielen Wohnvierteln Osnabrücks angerichtet. Die Angst der Menschen hat ihre Ursachen: Wie ihre Gesinnungsgenossen von der Hakenkreuz tragenden Brigade Erhardt in Berlin rühmen sich die Lichtschlag-Kämpfer damit, im Vorjahr etliche für ihre Rechte kämpfende Bergleute und Stahlarbeiter im Ruhrgebiet unter Befehl ihres Generalleutnants Oskar Freiherr von Watter blutig niedergemetzelt zu haben. Lichtschlag-Kämpfer dagegen rühmen sich ganz offen für die Ermordung des populären Arbeitervertreters Alois Fulneczek, der im Vorjahr in Bottrop von ihnen brutal hingerichtet worden war. Die an all ihren Standorten 2.500 Kämpfer zählende Lichtschlag- Truppe ist auch deswegen, das kennt man inzwischen auch in Osnabrück, als „Freikorps Totschlag“ gefürchtet.

Die Putschisten, das weiß man, pflegen ohne Vorwarnung scharf zu schießen. Droht nun auch in Osnabrück ein Blutbad, das nach Putschbeginn bereits zur tragischen Realität vieler anderer Städte gehört? Oberbürgermeister Julius Rißmüller lässt noch am Putschtag Plakate kleben und mahnt darin alle Beteiligten, bemerkenswert unparteiisch und abwartend, zur Ruhe:

Aus Berlin kommt die Nachricht, dass die jetzige Regierung gestürzt ist. Für die Stadt Osnabrück kommt es darauf an, dass hier Ruhe und Ordnung auf jeden Fall erhalten bleibt. Ich fordere die Einwohner Osnabrücks auf, dass jeder an seiner Stelle für Ruhe und Ordnung eintritt.

Ähnlich formuliert es, zumindest offiziell, auch Generalleutnant von Watter als oberster Offizier des Wehrbereichs Münster-Osnabrück, in einem weiteren Aufruf: „Zeitungsnachrichten aus Berlin sprechen von Putschen. Als Befehlshaber des Wehrkreises VI bleibt für mich im vaterländischen Interesse der Auftrag, die Ruhe und Ordnung in meinem Bezirk aufrecht zu halten.“

In Wahrheit zählt er bereits früh zu den Putsch-Unterstützern. Von Watter ist, wie oben erwähnt, bereits seit dem 18. Januar 1919 Kommandierender General des VII. Armeekorps in Münster. Als solcher hat er seit März 1919 auch das Oberkommando über alle westfälischen Freikorps, die als gemeinsames Kennzeichen ein grün-weiß-schwarzes Band um den unteren Teil der Schulterklappe tragen. 


Osnabrück wehrt sich

Osnabrückerinnen und Osnabrücker sind gierig nach jeder Information. Seit die örtlichen Tageszeitungen über den ersten Putsch-Tag berichtet haben, fehlt es weit und breit an seriösen Informationsblättern: Die Drucker des Osnabrücker Tageblatts, der nationalliberalen Osnabrücker Zeitung und der katholischen Osnabrücker Volkszeitung streiken. Ganze Tonnagen von Papier bleiben unbedruckt. Erst am Samstag, dem 20. März, werden alle gewohnten örtlichen Blätter wieder an ihre Leser gelangen.

Vor allem in den Straßen der Innenstadt und in engen Wohngebieten treibt es die Menschen immer wieder nach draußen, um mehr zu erfahren. Aufsehen erreicht ein mysteriöses Blatt aus Melle, das von einer anstürmenden „roten Armee“ auf Osnabrück berichtet. Das Gerücht zerplatzt schnell wie eine Seifenblase. Viele Tausende zieht es am Montag zum Ledenhof auf eine Kundgebung. Dort sprechen für die MSPD der Gewerkschaftssekretär Walter Bubert, für die USPD der Metallgewerkschafter Gustav Haas und für die Demokraten deren Parteisekretär Körber. Alle Redner fordern immer wieder unter großem Beifall den sofortigen Rücktritt der Putsch-Regierung und deren harte Bestrafung. Im Vordergrund stehen vor allem organisatorische Fragen, um die Ziele des Generalstreiks flächendeckend zu erreichen.

Flugs finden auch Verhandlungen mit der Stadt- und Regierungsspitze statt. Von Oberbürgermeister Rißmüller, von Regierungspräsident Tilman und von Vertretern der örtlichen Einwohnerwehr erhalten die Streiksprecher dabei die feste Zusicherung, dass alle gemeinsam für Republik, Verfassung und legale Regierung einstehen wollen.

Hielt zur Republik: Julius Rißmüller (1863-1933) war zur Putsch-Zeit Oberbürgermeister von Osnabrück.
Hielt zur Republik: Julius Rißmüller (1863-1933) war zur Putsch-Zeit Oberbürgermeister von Osnabrück.

Ein weiteres, weitaus schwierigeres Gespräch führen die Streikvertreter, begleitet von Oberbürgermeister Rißmüller, mit Verantwortlichen des Bataillons Lichtschlag, das in der Caprivi-Kaserne unter dem Oberbefehl Hauptmann Hasenclevers rund 200 Bewaffnete zählt. Die geballte Stärke der Arbeiterschaft verschafft sich aber Eindruck. Die Runde einigt sich schließlich darauf, dass die Truppe die Stadt Osnabrück zeitnah verlassen soll. Bis zum Bahnhof solle sie freies Geleit haben. Bei vielen Beteiligten dürfte die Hoffnung mitgespielt haben, dass das „Freikorps Totschlag“ am Ankunftsort endgültig entwaffnet werden soll.


Der Tod von Hauptmann Hasenclever – und eine nationalistische Kultstätte auf dem Johannisfriedhof

In Wahrheit ziehen die Antidemokraten weiter. Im Ruhrgebiet werden sie allerdings sofort in Kämpfe mit streikenden Arbeitern verwickelt. Am 15. März setzen sich bewaffnete Arbeiterformationen bei Wetter gegen eine Vorhut des Freikorps unter Hasenclevers Führung zur Wehr. Die Truppe ist unter schwarz-weiß-roten Fahnen angerückt und hat sich inzwischen völlig offen zum Putschkanzler Kapp bekannt. Die Gegenseite ist sich bewusst, dass in Wetter zugeschlagen werden muss, um ein für das Freikorps „Totschlag“ typisches Gemetzel im Ruhrgebiet zu verhindern. Die Batterie wird tatsächlich vernichtend geschlagen. Hauptmann Hasenclever und zehn seiner Soldaten werden dabei getötet. Der Putschist hinterlässt zu Hause eine Witwe und einen zweijährigen Sohn.

Eine pompös zu Hasenclevers Ehren hergerichtete Grabstätte auf dem Johannisfriedhof erinnert bis heute an den antidemokratischen Freikorps-Hauptmann aus Osnabrück. Die Osnabrücker Rechte besitzt einen ersten Märtyrer aus eigenen Reihen. Mit Fug und Recht darf man rückblickend davon ausgehen, dass Hasenclevers repräsentativ hergerichtete Grabstätte lange Jahre als Kultstätte dient, die gewaltbereiten Nationalisten, Militaristen und aufstrebenden Nazis in Stein gemeißelte Parolen präsentiert.

Auf dem Grabmal von Otto Hasenclever steht glorifizierend: „Vier Jahre focht er mit höchster Auszeichnung im Weltkriege. Und fiel im Frieden. Von deutscher Hand gemeuchelt. Als er bei Freikorps Lichtschlag in treuester Pflichterfüllung für Ruhe und Ordnung in seinem Vaterlande kämpfte.“ Die pathetische Inschrift endet: „Und ob die Welt voll Teufel wär: Es muss uns doch gelingen. Mit Mannesmut treudeutscher Ehr. Wir werden es erzwingen.“ Nicht selten dürften jene pathetischen Sätze in den Folgejahren vor Publikum laut und feierlich verlesen worden sein. Rechte lieben ihre Märtyrer.


Gewaltlos in Osnabrück – tiefe Blutspur im Reich

Die Gewaltaktionen der Kapp-Putschisten haben in etlichen Städten sehr viele Todesopfer gefordert. Speziell im Ruhrgebiet werden revolutionäre Arbeiter der „Roten Ruhrarmee“ in der Folgezeit versuchen, die Sozialisierung des Bergbaus und eine Stärkung ihrer gewählten Interessenvertretungen zu erreichen. Der Einsatz der Reichswehr, insbesondere die von Reichswehrminister Noske zu diesem Zweck rehabilitierten, vormals putschenden Freikorps-Soldaten wie solche der Brigade Erhardt, richten in der Arbeiterschaft daraufhin erneut blutige Gemetzel an.

Dass in Osnabrück, der heutigen Friedensstadt, manches friedlicher und verläuft als andernorts in Deutschland, kann bereits unmittelbar nach dem Scheitern des Kapp-Putsches festgestellt werden. „Die aufregenden Tage der letzten Woche sind in unserer Stadt, wie wir erfreulicherweise feststellen können, ohne jeden Zwischenfall verlaufen“, fasst ein Redakteur der Osnabrücker Zeitung am 21. März zusammen. „Nicht ein einziger Schuss ist gefallen“, heißt es. Angefügt wird nur eine kleine Einschränkung: Gerüchteweise soll „ein Mann in Uniform“ irgendwo einen „Schreckschuss“ abgefeuert“ haben. Aber das war es dann auch.


Was folgt

Die fast gewaltlose Beendigung des Kapp-Putsches bleibt der letzte großer Triumph einer geeinten politischen Linken. Später von den Nationalsozialisten verfolgte, teils ermordete Angehörige der politischen Linken wie der spätere Kommunist Ludwig Landwehr, ebenso die SPD-Angehörigen Alwine Wellmann, Walter Bubert, Fritz Szalinski, Gustav Haas oder Adolf Rahardt stehen spätestens seit 1920 auf jenen Listen der politischen Rechten, die nach dem 30. Januar 1933 zur Grundlage von späterer Rache genommen werden.

1920 und in der Folgezeit bleibt die Region Osnabrück von rechten Exzessen verschont. Woanders ist die Lage völlig anders. Allein im Ruhrgebiet toben sich die Freikorps bestialisch innerhalb der kämpfenden Arbeiterschaft aus. Tausende, die sich für Republik, Sozialisierung des Bergbaus oder gar für eine sozialistische Räterepublik eingesetzt haben, verlieren ihre Leben oder bleiben für den Rest ihres Daseins arbeitsunfähig und traumatisiert.

Weit besser ergeht es den Hauptverantwortliches des Putsches: Kapp und Lüttwitz entziehen sich einer Bestrafung durch Flucht ins Ausland. Hermann Ehrhardt, Führer des nach ihm benannten Freikorps, entzieht sich durch seine Flucht in die „Ordnungszelle Bayern“ der Verhaftung und formiert mit seinen Leuten die Organisation Consul. Diese bildet eine paramilitärische und terroristische Vereinigung, die maßgeblich an der Ermordung des Außenministers Walther Rathenaus und Finanzministers Matthias Erzbergers beteiligt sein wird.

Mitglieder der Marinebrigade von Hermann Ehrhardt, die mit Walther Freiherr von Lüttwitz in Berlin einmarschiert sind und als Zeichen ihrer völkischen Gesinnung ein Hakenkreuz auf dem Stahlhelm getragen hatten, werden fortan in geringer Zahl sogar offiziell von der Reichswehr übernommen. Auch der deutschnationale Stahlhelm und die NSDAP werden Mitglieder aus Freikorpsverbänden rekrutieren, die gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrags im Frühjahr 1920 offiziell aufgelöst werden mussten.

Zugleich werden die Freikorps zu einem Nährboden für die wachsende NSDAP. Prominente spätere Nationalsozialisten wie Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich, Ernst Röhm, Rudolf Höß, Hans Frank, Franz Ritter von Epp, Josef Dietrich, Rudolf Heß oder Martin Bormann sind allesamt in Freikorps aktiv gewesen. Etwa ein Viertel der Freikorpskämpfer sind nach den Recherchen von Jan-Philipp Pomplun später der NSDAP als Mitglied beigetreten – viele von ihnen als „Alte Kämpfer“.


Ausgewählte Quellen:

a) Literatur

  • Gietinger, Klaus: Kapp-Putsch. 1920 – Abwehrkämpfe – Rote-Ruhrarmee. Schmetterling, Stuttgart 2020.
  • Könnemann, Erwin und Schulze, Gerhard (Hrsg.): Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch. Dokumente. Olzog, München 2002 (umfassende Quellensammlung).
  • ILEX-Kreis Osnabrück: Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit. 36 Biografien mutiger Menschen, Osnabrück 2023. Vgl. hier insbesondere die Einzelbiografien von Walter Bubert, Gustav Haas, Ludwig Landwehr, Adolf Rahardt oder Fritz Szalinski
  • Pomplun, Jan-Philipp: Deutsche Freikorps. Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus, Göttingen 2022
  • Sahin Aydin: Ein Leben für die gerechte Sache; Biografischer Abriss von Alois Fulneczek, Bottrop 2015.
  • Weiß, Gerhard: Wie eine Republik gerettet wurde und ihren Rettern dankte: der Kapp-Lüttwitz-Putsch, Köln 2021.

b) Akten im Niedersächsischen Landesarchiv in der Schloßstraße

  • NLA OS, Rep 335, Nr. 12616: Verzeichnisse der Anarchisten und sozialdemokratischen Führer
  • NLA OS, Rep 430 Dez 201, Akz. 5/66 Nr. 25: Überwachung linksgerichteter Parteien, innere Unruhen, Streiks, illegaler Waffenbesitz, Einwohnerwehren
  • NLA OS, Dep 3 b I, Nr. 804: Kapp-Putsch, Ruhestörung bei dem Mücke-Vortrag
  • NLA OS, Dep 3 b III, Nr. 715: Kapp-Putsch und Generalstreik im März 1920

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