Samstag, 4. Mai 2024

„Allein der Blick auf Arbeitsplätze wäre eine grobe Vereinfachung“

Roman Sidelnikov vom Verein „We help Ukraine“ möchte neue Akzente in die örtliche Integrationsarbeit einbringen: Bericht und Dokumentation

Roman Sidelnikov, Vorsitzender des sehr aktiven Vereins „We help Ukraine“, liegt es am Herzen, dass auch in Osnabrück vertiefend über neue Aspekte der praktischen Integrationspolitik gesprochen wird. Das in seinem Verein entwickelte Modell der Integrationspyramide, so hofft er, könnte dabei ein diskussionswürdiger Ansatz sein. Sidelnikov ist sich sicher, dass erfolgreiche Integrationsarbeit weit mehr bedeutet als allein die Schaffung von Arbeitsplätzen:

„Das wäre aus meiner Sicht eine sehr große Vereinfachung“, sagte er gegenüber der OR. „Denn eine dermaßen falsche Einschätzung der Situation führt meistens auch zu fehlerhaften Entscheidungen. Nur wenn man den ganzen Prozess der Integration und die Eigenschaften des gemeinsamen Lebens mit Menschen verschiedener kultureller Herkunft in einem gemeinsamen sozialen Raum versteht, kann man die richtigen Wege ausarbeiten, um ein besseres Zusammenleben zu gestalten.“


Tagung am 13. Dezember – Kinderfest am 6. Januar

Über das große Kinder- und Familienfest am 6. Januar, das nicht nur für Menschen aus der Ukraine offen war, hatte die OR ja bereits berichtet. https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/heiko-schulze/jahreswechsel-im-alltag-von-voelkern-und-kulturen/

Am 13. Dezember des Vorjahres führte der Verein eins Informationsveranstaltung zum Thema durch, in deren Verlauf Sidelnikov die von ihm entscheidend mitentwickelte „Integrationspyramide“ stand. Die OR hatte das Thema in ihrem Bericht bereits grob angerissen. https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/heiko-schulze/integrationskonzept-aus-der-praxis/

Zumal auch in der OR-Leserschaft inzwischen das Bedürfnis laut wurde, mehr über das hinter dem Pyramidenbegriff verborgene Konzept zu erfahren, soll im Folgetext bewusst detailliert auf Veranstaltung und Konzept eingegangen werden. Dargestellt wird dies auch deshalb, weil die OR-Redaktion hofft, die bereits jetzt schon äußerst engagiert getragene Osnabrücker Integrationsarbeit durch weitere Aspekte zu bereichern und somit – in angemessener Weise – einen Diskussionsprozess einzuleiten.

Im Folgenden dokumentiert die OR wörtlich (mit minimalen redaktionellen Änderungen) den Einführungsvortrag Sidelnikovs vom 13. Dezember, dem damals ein reger Austausch folgte. Wir übernehmen alles bewusst ausführlich, damit sich alle Interessierten ein Bild von diesem besonderen Ansatz für Integrationsarbeit machen können. Folgen wir also dem Wortlaut des Gesagten!


„Jede Apartheid endet in einem Massaker“
Ein Vortrag von Roman Sidelnikov

Unter Apartheid verstehe ich eine Gesellschaft, in der getrennte soziale Gruppen in verschiedenen Ghettos leben, die formell oder informell voneinander getrennt sind. Die Gründe für die Aufteilung der Gesellschaft in Gruppen können unterschiedlich sein: rassisch, ethnisch, sozial. Als Ergebnis dieser Aufteilung erhalten wir notwendigerweise das Phänomen der Etablierten und Außenseiter: In der etablierten Gruppe findet „die Selektion der Besten“ statt, in der Gruppe von Außenseitern werden die Besten radikalisiert, da sie keinen Raum für den sozialen Wachstum finden, wodurch die soziale Distanz zwischen den Gruppen zunimmt. Der gegenseitige Antagonismus nimmt zu, was früher oder später die Gesellschaft mit verschiedenen schlimmen Ereignissen explodieren lässt. Damit dies nicht geschieht, ist es notwendig, dass verschiedene soziale Gruppen unterschiedlicher Herkunft (ethnisch, sozial, beruflich) in die Nation integriert werden. Der beste Indikator für Integration sind soziale Aufzüge, sowohl vertikal als auch horizontal.

Maslows Bedürfnispyramide

Damit die Integration erfolgreich verläuft, ist es notwendig, die einzelnen Phasen der Integration in ihrem Gesamtprozess zu verstehen. Während der fast zweijährigen Arbeit mit ukrainischen Flüchtlingen habe ich eine Integrationspyramide entwickelt, die natürlich aus der bekannten Bedürfnispyramide von Abraham Maslow (Abraham Maslow) hervorgegangen ist. Abraham war das älteste von sieben Kindern von Samuil Maslov und Roza Shilovskaya, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Kiew in die USA auswanderten. Er wurde im jüdischen Viertel von Brooklyn geboren. Das heißt, seine Eltern waren Migranten, Flüchtlinge aus dem damaligen Russischen Reich. Er war mit den Themen vertraut, über die wir heute sprechen.

Abraham Maslow erkannte, dass Menschen viele unterschiedliche Bedürfnisse haben, glaubte aber auch, dass diese Bedürfnisse in grundlegende Kategorien unterteilt werden können. Es gibt 7 Hauptebenen (Prioritäten) im Ego-System:

  1. (untere) physiologische Bedürfnisse: Stillen von Hunger, Durst, Schutz vor Kälte, Luft zum Atmen, ausreichend Schlaf, Schmerzfreiheit usw.;
  2. Bedürfnis nach Sicherheit: sich sicher fühlen, Angst und Versagen loswerden;
  3. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe;
  4. Bedürfnis nach Aufmerksamkeit: Erfolg, Zustimmung, Anerkennung;
  5. Kognitive Bedürfnisse: wissen, können, forschen;
  6. Ästhetische Bedürfnisse: Harmonie, Ordnung, Schönheit;
  7. (höheres) Bedürfnis nach Selbstdarstellung: Verwirklichung Ihrer Ziele, Fähigkeiten, Entwicklung Ihrer eigenen Persönlichkeit.

Wenn die zugrunde liegenden Bedürfnisse befriedigt werden, werden die Bedürfnisse einer höheren Ebene immer relevanter. Dies bedeutet jedoch nicht, dass an die Stelle des vorherigen Bedürfnisses ein neues tritt, sondern erst dann, wenn das vorherige vollständig befriedigt ist. Außerdem sind Bedürfnisse nicht in einer ununterbrochenen Reihenfolge und haben keine festen Positionen, wie es in der Abbildung dargestellt ist. Eine solche Regelmäßigkeit gilt als die stabilste, doch die gegenseitige Anordnung der Bedürfnisse kann bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein.

Maslow behauptete, dass nicht mehr als 2 % der Menschen das „Stadium der Selbstdarstellung“ erreichen.

Jafars Integrationspyramide

Während der Migrationskrise 2015 veröffentlichte der Kolumnist der Deutschen Welle, Jaafar Abdul Karim, einen Artikel mit einem Beispiel seiner Integrationspyramide, die ebenfalls auf Maslows Pyramide der hierarchischen Bedürfnisse basiert. Darüber hinaus zeigt er in seinem Artikel, und zwar völlig zu Recht, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Jafars Integrationspyramide besteht aus fünf Ebenen: Sicherheit, Akzeptanz, Vertrauen, Freiheit und Heimat.

Laut Jaafar werden diese Bedürfnisse schrittweise, aber immer durch die gemeinsame Arbeit von Migranten und Anwohnern gedeckt. Nur in diesem Fall werde der Integrationsprozess funktionieren, argumentiert er.

Sicherheit

Menschen, die traumatisiert durch vielfältige Gefahren in ihren Heimatländern nach Deutschland kommen, sollen bei ihrer Ankunft ein Gefühl der Sicherheit vermittelt bekommen. Wir müssen berücksichtigen, dass sie sich ohne jegliche Sprachkenntnisse in einer völlig fremden Welt wiederfinden. Und bei ihrer Ankunft werden Flüchtlinge mit der deutschen Gesellschaft, deutschen Beamten und deutschen Flüchtlingslagern konfrontiert. Ziel dieser ersten Begegnungen ist es, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Das Sicherheitsgefühl steigt, wenn Flüchtlinge sofort Informationen über die Lebensweise in Deutschland und Deutschkurse erhalten.

Akzeptanz

Wie bereits gesagt: Integration ist keine Einbahnstraße. Nicht nur Neuankömmlinge müssen Deutschland und seine Ordnung so akzeptieren, wie sie ist. Aber die Einheimischen müssen auch akzeptieren, dass Migrationsströme (aus verschiedenen Gründen) ein integraler Bestandteil der Realität des 21. Jahrhunderts sind. Das bedeutet, dass Flüchtlinge nicht in ihren Lagern und ethnischen Ghettos eingesperrt werden, sondern aktiv am gesellschaftlichen und produktiven Leben teilnehmen sollten. Arbeite und zahle Steuern, entspanne dich und unterstütze die Stadtverwaltung! Die Einheimischen müssen verstehen, dass Migranten Arbeitsplätze schaffen, und Migranten müssen das Gefühl haben, dass sie in dieser Gesellschaft keine überflüssigen Menschen sind.
Und so gehen wir zum nächsten Schritt über:

Vertrauen

Es muss verstanden werden, dass Migranten auch Teil der Gesellschaft sind und ein wertvolles Gut für dieses Land sein können. Vertrauen verbindet. Ohne Vertrauen wird die Integration scheitern und Migranten werden Parallelgesellschaften und Ghettos verlassen oder schaffen. Jaafar schlägt vor, bereits „integrierte Migranten“ als Integrationslotsen einzusetzen. Denn sie kennen die Herkunftssprache und die Flüchtlingsmentalität und sind ideale Brückenbauer. Wichtig ist auch: Flüchtlinge müssen Vertrauen in den deutschen Staat und das Rechtssystem entwickeln. Viele wissen nichts über ein unabhängiges Justizsystem und haben eher schlechte Erfahrungen im Umgang mit Regierungsbehörden. Natürlich ist auch in Deutschland nicht alles gut. Aber Vertrauen in den Staat muss die Angst vor dem „System“ ersetzen.

Freiheit

Ein Mensch muss sich frei fühlen. Das bedeutet das Recht, der Mensch zu bleiben, der man ist und mit seiner einzigartigen Identität seinen Platz in einer neuen Gesellschaft zu finden. Mit der verbindlichen Übernahme deutscher Gesetze, Werte und Vorschriften. Damit ist die Frage der Identität jedoch nicht vollständig gelöst. Jeder Mensch trägt die Kultur, in der er aufgewachsen ist, sein Leben lang mit sich. Es sollte keine Widersprüche geben, wenn die deutsche Identität (was ist das überhaupt?) und die Identität von Neuankömmlingen im selben sozialen Raum koexistieren. Es muss eine Symbiose der Kulturen geben.

Heimat

Viele Flüchtlinge werden Jahre damit verbringen, nach einer neuen Heimat zu suchen. Einerseits wirst du dich nie zu 100 Prozent als Deutscher fühlen, andererseits wirst du in deinem Herkunftsland nie wieder voll akzeptiert, weil du derjenige warst, der gegangen ist. Zuhause wird also der Ort sein, an dem wir leben, lieben und uns verstanden fühlen. Dann ist ein Mensch selbstbewusst und arbeitet für den Wohlstand seiner neuen Heimat.

Die WHU Integrations-Pyramide

  1. Legalisierung: Mit der Legalisierung des Aufenthalts eines Migranten in einem neuen Land beginnt der normale Prozess der Integration. Wenn ein Ausländer seinen Status nicht legalisieren kann, ist es ganz klar, dass er in allen Bereichen seines Lebens Probleme haben wird: Er wird keine Wohnung mieten, keinen legalen Job finden und keine Sozialversicherung erhalten können. Die Legalisierung der Ukrainer erfolgte in mehreren Etappen auf zwei Arten. Sie haben sich entweder direkt in Flüchtlingslagern als Flüchtlinge registriert oder waren bei Verwandten und Freunden untergebracht. Beide Fälle hatten ihre Probleme und Missverständnisse.
  1. Bereitstellung der Grundbedürfnisse: Flüchtlinge erhielten in den Lagern oder von ihren Verwandten Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf und konnten eine Zeit lang von ihren Ersparnissen leben. Mit der ordnungsgemäßen Legalisierung erhielten sie vom Staat Geld, um ihren Bedarf zu decken.
  2. Vertrautheit mit lokalen Lebensregeln: Dies erfolgt durch Broschüren und Geschichten von Einheimischen, aber es gibt immer noch viel Unbekanntes, und die Menschen gerieten oft in unangenehme Situationen. Man muss viel wissen, um eine Wohnung zu mieten, einkaufen zu gehen und den Müll wegzuwerfen.
  3. Studieren und arbeiten: Ein normaler Mensch ist immer auf der Suche nach einer Verwendung für sich. Manche Migranten gehen deshalb sofort zur Arbeit, manche studieren erst oder lassen ihre Abschlüsse anerkennen, um Zugang zu guten Jobs zu erhalten.
  4. Freizeit: Während der Freizeitaktivitäten erobern Migranten den Raum. Und durch die Entwicklung dieses Raumes beginnen sie sich heimisch zu fühlen. Dies reduziert ihren Stress und sozialisiert sie in einem neuen Raum. Zur Freizeit gehören: Bars und Restaurants, Sport- und Kreativvereine, Stadtausflüge, Landausflüge und Besuche anderer Städte in Deutschland.
  5. Schutz eigener Rechte: Je aktiver ein Mensch wird, desto mehr Gegenparteien hat er und dementsprechend kommt es häufiger zu Konfliktsituationen. Manchmal aufgrund der Unkenntnis der örtlichen Vorschriften und Gesetze, manchmal aufgrund des Wunsches der Gegenparteien, die diese Unkenntnis auszunutzen, manchmal aufgrund von regelrechtem Betrug. Daher ist ein professioneller Schutz durch Anwälte, Verbraucherschutzvereine und Versicherungen erforderlich.
  6. Ehrenamtliche Tätigkeit und politische Repräsentation: Um sich rundum wohlzufühlen, muss ein Mensch den von jemandem geschaffenen sozialen Raum nicht nur nutzen, sondern auch die Möglichkeit haben, ihn zu beeinflussen und an seiner Gestaltung mitzuwirken. Dies geschieht durch öffentliches Handeln und politische Repräsentation. In einem demokratischen politischen System muss jede Gruppe über eine eigene Vertretung verfügen. Dann wird sie sich nicht radikalisieren, sondern ihre Rechte mit rechtlichen Mitteln schützen wollen.

Fazit

Tatsächlich endet der Integrationsprozess nie. Daher wäre es richtiger, die Integrationspyramide als Integrationsspirale zu benennen. Mit dem Grad der Integration steigen die Anforderungen auf jeder Ebene. Wenn man bei der Ankunft zunächst das Dach über dem Kopf in einem Hostel genießt, kann man sich mit der Zeit ein Haus bauen, von der Hilfskraft in der Produktion bis hin zum Unternehmer werden. Das Gleiche gilt für Freizeitaktivitäten und soziale Aktivitäten. Aber wir bedenken, dass der Integrationsprozess keine Einbahnstraße ist und dass es eine angemessene Regierungspolitik dafür geben muss. Der Staat sollte den Integrationsprozess von Migranten nicht außer Acht lassen, damit keine ethnischen Ghettos entstehen und sich dort keine informelle Apartheid bildet.

Wir leben in einer multikulturellen globalen Welt. Dies ist eine Tatsache, die nicht geleugnet werden kann. Für welches Integrationsmodell wird sich der Staat entscheiden?

Bratpfanne: Sie symbolisiert ein Modell der strikten Integration, wenn Migranten bereits in der ersten Generation verweigert wird, ihre Sprache zu sprechen, in ihre Kirche zu gehen, ihre Traditionen zu leben. Dieses Muster ist häufig in totalitären Gesellschaften zu beobachten. Ähnliches erlebten die Russlanddeutschen, als sie aus der Wolgaregion nach Kasachstan, Zentralasien und Sibirien verbannt wurden.

Topf: Er bildet den Vergleich, wenn die Assimilation über mehrere Generationen hinweg erfolgt. Ein großartiges Beispiel für die USA des 20. Jahrhunderts.

Salatschüssel: Das ist die Realität im Europa des 21. Jahrhunderts. Menschen unterschiedlicher Kulturen leben im gleichen sozialen Raum und bewahren ihre Identität. Nicht assimilieren, aber auch nicht integrieren.

Das heißt, Sie und ich, wir alle haben noch viel Arbeit vor uns.

Foto oben: Roman Sidelnikov und die Mit-Moderatorin Yevheniia Stetenko

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