Verdunkelter Abgesang auf 2023
Jahresrückblicke gibt es nach Weihnachten mehr, als Nadeln aus Tannenbäumen rieseln. Diesmal fällt es besonders schwer, dem verflossenen Jahr wirklich Gutes abzugewinnen. Was bleibt uns übrig, als größere Hoffnung auf 2024 zu setzen?
Kriege, Massensterben und das Wiederaufkeimen von Holocaust-Fantasien
Zwölf Monate erdulden wir Tagesnachrichten aus dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Zwölf Monate vergehen ohne jede Option auf einen Verhandlungsfrieden. Zwölf Monate beobachten wir wehrlos eine globale, rundum gigantische Aufrüstung auf allen Seiten, deren Milliardensummen dringend nötige Hilfsgelder für den real existierenden Weltkrieg gegen globalen Hunger und zur Rettung des Weltklimas verhindern. Eine Parallele zum Ukraine-Gemetzel drängt sich gerade Deutschen und Franzosen auf: Der Stellungskrieg bei Verdun währte von 1914 bis 1918, ohne dass sich der Frontverlauf trotz unzähliger Kriegstoter irgendwo nennenswert verschob. Schätzungen zufolge gab es damals bis 540.000 französische und bis 434.000 deutsche Kriegstote. Die Zahl der bislang im Ukraine-Krieg getöteten oder verwundeten Soldaten wird bereits heute auf mehrere Hunderttausend geschätzt. Lernen irgendwelche Akteure eigentlich aus der Geschichte? Manche sagen, es sei irrational, auf einen Waffenstillstand zu hoffen. Ist es umgekehrt rationaler, das Massensterben fortzusetzen?
Seit dem 7. Oktober ist die Welt auch in Nahost eine andere. Zum ersten Mal seit den Nazi-Gräueln bis 1945 gab es Massenmorde an Jüdinnen und Juden, allein deshalb, weil sie Jüdinnen und Juden waren. Wehrhaftigkeit und Existenzkampf des israelischen Volkes bleiben darum natürlich mehr als legitim. Nur: Die Netanjahu-Regierung nimmt umgekehrt den Tod einer Vielzahl völlig unschuldiger Kinder und anderer Zivilpersonen in Kauf. Sie begründet dies allein damit, so die Terrororganisation Hamas zerschlagen zu können. In Wahrheit, dies ist sehr zu befürchten – und dazu muss man kein Nahost-Experte sein, droht jene antisemitische Terrororganisation Hamas zukünftig allein durch Netanjahus Kriegsführung stärker als je zuvor zu werden. Ganz abgesehen von der sinkenden Hoffnung, zivile israelische Geiseln zu befreien. Gibt es wirklich keine Alternativen zu einem schnellen Waffenstillstand und zu diplomatischen Initiativen? Wird jetzt auch das Denken auf allen Seiten zerbombt?
Scheue Blicke über den Teich
Hat das alte Jahr wenigstens irgendwo anders international Hoffnung produziert? Man darf verzweifeln! In den USA stampft sich ein Donald Trump über eine Leiter mit Vorstrafen in Präsidentschaftshöhen und droht völlig offen damit, seine demokratische Gegnerschaft zu vernichten. Alles geschieht in einem Staat, der einmal die Welt Demokratie lehren wollte.
Im Süden Amerikas ist seit der geglückten Abwahl des brasilianischen Originals ein zweiter Bolsonaro auferstanden: Seit dem zweiten Wahlgang der argentinischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 19. November ist der Rechtsextremist Javier Milei Präsident, der unter anderem die Gelder für die Ärmsten im Lande mit einer symbolisch hochgehaltenen Kreissäge zerfetzen will. Hier darf auch demokratisch, ökologisch und außenpolitisch Schlimmstes befürchtet werden.
Europa im Modus einer Dauerkrise
Und Europa? Beinahe halbkreisförmig durchziehen mittlerweile Staaten die Osthälfte des Kontinents, in denen Postfaschisten zumindest mitregieren. Führend herrschen sie in Italien, haben dort einmal so nebenbei die Sozialhilfe für die Ärmsten wie das Asylrecht abgeschafft. Über Serbien, Ungarn, Finnland bis hoch oben nach Schweden regieren Rechtsaußen, oft reale Schwesterparteien der AFD, fleißig mit. Selbst in den angeblich liberal-toleranten Niederlanden darf sich Rechtsextremist Wilders seit den Parlamentswahlen am 22. November die Hoffnung machen, den Küstenstaat an Deutschlands Grenze bald mit Unterstützung der Neoliberalen zu regieren. In Österreich droht eine rechte FPÖ-ÖVP-Regierung. Im europäischen Nachbarland Türkei hat Quasi-Diktator Erdogan seit den Wahlen am 14. Mai sein Folterwerkzeug fester denn je in der Hand, um Opposition, Rechtsstaat, Presse und Menschenrechte immer heftiger zu knebeln. Zum Glück hat die polnische Wahl am 15. Oktober zumindest ermöglicht, dass die offen demokratiefeindliche PIS-Partei von der Regierung fortan ferngehalten wird. Und in Spanien ist es der sozialistisch geführten Linkskoalition mit Pedro Sanchez im Spätsommer immerhin, nach immensen, aber dafür nötigen Zugeständnissen an Separatisten, gelungen, die politischen Nachfahren des Faschisten Franco von der Regierung fernzuhalten.
Ohnmächtig in der Krise?
Aber auch im eigenen Lande, dessen Probleme im Vergleich zu andernorts geführten Kriegen und Demokratie-Gefährdungen geradezu harmlos erscheinen, wächst die Irrationalität als Jahresmotto 2023. Das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts gegen die Haushaltspraxis der Bundesregierung vom 15. November 2023 war weit mehr als irgendeiner unter vielen Richtersprüchen. Durch die dogmatisch-verbohrte Aufrechterhaltung des Grundgesetzartikels zur Staatsverschuldungsgrenze droht langfristig ein Schaden, den kommende Generationen mit einem ökologischen Desaster und mit einem völlig ramponierten Sozialstaat ausbaden könnten. Hier ist auch im kommenden Jahr keinerlei Verbesserung in Sicht, solange Union und FDP am irrsinnigen deutschen Sonderweg jener Schuldengrenze festhalten. Real macht sie alle echten und zwingend erforderlichen Zukunftsinvesitionen in Umwelt, Sozialstaat, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur zunichte. Die Hoffnung auf Einsicht der neoliberalen Ideologen stirbt natürlich zuletzt.
Ein Mini-Lichtblick bleibt die hoffentlich endgültige Abschaltung der über Jahrzehnte lebensbedrohenden Atomkraftwerke. Auch in Lingen, in Bayern und in Baden-Württemberg sind sie endlich Geschichte. Jene kleine Flasche Sekt durfte wenigstens rückblickend aufgemacht und ausgeschlürft werden. Erhöhter Mindestlohn und Kindergrundsicherung sollten, ebenso wie ein annähernd existenzsicherndes Bürgergeld, zumindest auf der bescheidenen Plusseite landen. Ähnliches gilt für ein einigermaßen sinniges Einbürgerungsrecht und für die kommende, überfällige Entkriminalisierung von Cannabis.
Zerzauste Parteienlandschaft
Leider währt jede Freude nur kurz. Keinen Deut Hoffnung, eher das schiere Gegenteil hat 2023 die Sehnsucht auf einen Stopp des AFD-Wachstums produziert. Letzter Lichtblick war noch die Bremen-Wahl am 14. Mai gewesen, die zur Stärkung einer rotrotgrünen Landesregierung und zu einer CDU als einziger demokratischen Oppositionsfraktion geführt hat, wobei die AFD nicht einmal parlamentarisch existent ist. Künftig droht das Gegenteil: Europawahlen, vor allem die herbstlichen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden 2024 im besten Fall (!) zu Allerweltskoalitionen gegen die AFD führen, deren zusammengestoppelten Regierungsprogramme sich aufgrund der vorhandenen Gegensätze auf den vielbeschworenen Minimalkonsens gegen die Rechtsaußen beschränken. Leicht lässt sich allein schon wegen der drohenden Allerweltskoalitionen in Ostdeutschland ausmalen, dass die mit Postfaschisten durchtränkte AFD künftig eher stärker als schwächer wird. Faschist Björn Höcke, juristisch belegt darf man ihn so bezeichnen, darf sich sogar Hoffnungen machen, mit gut 40% in Thüringen allein zu regieren, falls bisherige Parlamentsparteien mit weniger als 5% der Stimmen aus dem Landtag fliegen. Armes Deutschland.
Sorgen macht immer mehr der Zustand der SPD. Der nach der Berlin-Wahl am 27. April von einer knappen Parteimehrheit um Franziska Giffey ohne jede Not durchgeknallte Kurs, sich der CDU als Koalitionspartner an den Hals zu werfen, wurde soeben in Hessen kopiert. Will die SPD plötzlich endgültig ihren Niedergang einleiten, weil einigen Leuten Posten wichtiger sind als Programme? Auch so etwas trägt zur Politikverdrossenheit bei. Und wenn die älteste demokratische Partei Deutschlands dermaßen mit ihrer Tradition umgeht, schadet so etwas der Demokratie immer auch insgesamt. Deutschland braucht mehr denn je eine starke, an ihrer Tradition und Vision orientierte Sozialdemokratie – und keinesfalls eine, die sich allenfalls als Moderator zwischen Grünen und FDP versteht.
Während die FDP sich immer fester in ihrer Wagenburg zum Schutz der Reichsten im Lande zurückzieht, torkeln die Grünen zunehmend im Höllentempo von alten ökologisch-pazifistischen Wurzeln fort und agieren mit einer eigenartigen Mischung aus Waffengeklirr bis hin zu sozial unausgegorenen Klimagesetzen. Dabei dürfte kaum eine Partei für den ökologischen Umbau so nötig sein wie intakte Grüne.
Blicken wir weiter nach links, droht sich dort seit diesem Jahr eine historische Zäsur anzudeuten. Die künftige Wagenknecht-Partei nimmt völlig offen in Kauf, dass die Linkspartei zu einer bedeutungslosen außerparlamentarischen Rumpfpartei wird. Die „Wagenknechte“ wiederum dürften allein schon wegen ihrer oft migrationsfeindlichen Positionen kaum für Rotgrüne koalitionsfähig sein. Stirbt somit für die Zukunft jede Chance, Mehrheiten jenseits von AFD, Union und FDP zu bilden? Auch hier stirbt die Hoffnung zuletzt.
Und die Union? Sie hat mit Merz und Linnemann im Jahre 2023 endgültig den Rubikon des sozial und demokratisch Erträglichen überschritten. Blanker Hass gegen alles Ökologisch-Soziale mit schlimmster Demagogie gegen angebliche Veganismus-Verordner und Wurstverbieter paart sich mit Sozialdarwinismus in nackter Form. Das Halali auf die Renten der Ärmeren und gegen Beziehende von Bürgergeld scheint nur eine Vorstufe von dem zu sein, was Deutschland mit dieser Formation in Black-Rock-Manier passieren kann. Im Kern benötigt Deutschland dringend eine konservativ-demokratische Opposition. Aber eben keine, die sich mit der Machete durch den Sozialstaat prügelt. Vor allem: Wie lange hält beim Merz-Kurs die Brandmauer zur AFD? Nahezu alle europäischen Schwesterparteien haben sie bereits ohne Skrupel eingerissen. Hoffen wir im Interesse unserer Demokratie, dass sie zumindest bei uns noch hält.
Brandaktuelles: Neue Hatz auf „Arbeitsverweigerer“?
Kurz vor den ultimativen Sylvesterböllern platzte soeben eine BILD-Zeitung in Jubelstimmung. Danach plant Arbeitsminister Hubertus Heil, solchen Menschen, welche wiederholt eine angebotene Stelle ablehnen, das Bürgergeld für volle zwei Monate komplett auf Null zu setzen. Die Unionsparteien und die FDP jubeln reflexartig wie frenetisch und sehen sich in ihrer Hatz auf angebliche Müßiggänger und „Faulenzer“ bestärkt.
Klar ist: Natürlich darf (wie bisher auch mit bis zu 30% der Bezüge) empfindlich sanktioniert werden, wenn jemand (aus welch unterschiedlichen Gründen auch immer) einen angebotenen Job verweigert. Nur: Muss man ihm dann – bis auf Miete und Heizungskosten – für komplette zwei Monate die komplette Existenzgrundlage entziehen? Merke: Selbst ein Massenmörder im Knast besitzt das Recht auf Essen und Trinken. Sollen jetzt ernsthaft Menschen außerhalb der Knäste auf Null gesetzt werden? Klauen, um etwas beißen zu können? Hoffen wir, dass hier einige Schreibtischentscheider auf Sozialverbände hören, die ihre Klientel besser kennen – und dass alles in 2024 nicht darartig menschenverachtend umgesetzt wird, wie es die Fankurve der BILD-Zeitung fordert.
Köpfe, die fehlen
Kein Jahresrückblick kommt ohne einen Hinweis auf vertraute Gesichter aus, die man fortan nicht mehr lebendig sehen wird. Rosi Mittermaier ist nun fast ein volles Jahr tot und wird dauerhaft das eher sympathische Gesicht eines früheren Sports sein, der sich heutzutage zunehmend bis ins Unerträgliche kommerzialisiert. Mit Ernst Huberty starb im April ein Sportmoderator, den es in diesem Format heute nicht mehr gibt. Gleiches gilt für Kicker-Legende Bobby Charlton. Oft kultig verehrte Stars wie Harry Belafonte, Tina Turner, Roger Whittaker, Peter Horton, Gina Lollobrigida, Raquel Welch, Christian Quadflieg, Elmar Wepper, Heidelinde Weis, Nadja Tiller, Lotti Krekel oder Ingrid Steeger gibt es fortan leider nur noch in verstaubten Musik- und Filmkonserven.
Nicht fehlen darf in dieser Reihung (sorry übrigens für alle, die von mir nicht erwähnt wurden) der verstorbene Unionspolitiker Wolfgang Schäuble. Einerseits bleibt er ein klassisches und kantiges „Urgestein“ für einen konservativen Politiker, der Prinzipientreue sehr oft über Taktik gestellt hat und dem hemmungslose Demagogie ala Merz und Spahn fremd war. Andererseits vermag ich seine dunkle Rolle im Griechenland-Bashing der damaligen Bundesregierung nicht verzeihen, die das hellenische Sozial- und vor allem Gesundheitsystem seinerzeit völlig ruinierte und unter ärmeren Bevölkerungsgruppen unzählige Opfer zur Folge hatte.
Die Trauer um den testerongesteuerten Medien-Blödmacher Silvio Berlusconi, um den CIA-Außenminister Henry Kissinger oder gar um Putins Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin dürfte dagegen bei Normalsterblichen mehr als überschaubar sein.
Lichtblickchen …?
Gibt es eigentlich irgendetwas durchgängig Positives in diesem Jahresrückblick? Womöglich bleibt es fast allein der Aufstieg des VfL in die 2. Bundesliga, ermöglicht durch das unvergessene 90+6-Spiel gegen Dortmunds Zweite am 27. Mai. Aber bleiben die Jungs in ihrer neuen Liga? Seien wir zumindest hier optimistisch!