Buchvorstellung im Museumsquartier: Neuer Sammelband beleuchtet die Osnabrücker „Franzosenzeit“ zwischen 1803 und 1813
Eine weitere Lücke der regionalen Historie ist erfolgreich geschlossen worden, wartet zugleich auf weitere Vertiefungen. Im September des Vorjahres hatte der hiesige Landschaftsverband eine Tagung zum Thema „Frankreich in Osnabrück. Eine Region in napoleonischer Zeit“ veranstaltet. Am letzten Mittwoch konnte einem interessierten Publikum im Akzisehaus des Museumsquartiers der darauf aufbauende Sammelband präsentiert werden. Annähernd 400 Seiten belegen es nun schwarz auf weiß: Die mit der französischen Trikolore eingefärbten Jahre der hiesigen Stadt- und Regionalgeschichte bieten einen wahren Fundus an neuen Erkenntnissen. Nicht wenige davon betreffen frühdemokratische Traditionen. Auch in der OR hatte der Autor dieses Beitrags bereits sehr früh in diesem Artikel auf derartige Aspekte hingewiesen.
Expertenrunde mit wichtigen Erkenntnissen
Nach einem mit französischen Willkommensbegriffen versehenen Grußwort von Stadtrat Wolfgang Beckermann startete die Buchvorstellung. Dr. Susanne Tauss und Dr. Ulrich Winzer vom Landschaftsverband präsentierten dem Publikum Beteiligte für das Entstehen des Sammelbandes. In den von Tauss moderierten Kreis gesellten sich neben Winzer – er war für Tagung und Band ein entscheidender Impulsgeber – Julia Fesca (aktuell promovierend über Aspekte der hiesigen Armutsfürsorge), Dr. Thorsten Heese (Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück), Dr. Sven Solterbeck (Waxmann-Verlag) sowie Dr. Gerd Steinwascher (ehemals Leiter des Osnabrücker, später der Oldenburger Abteilung des Niedersächsischen Landesarchivs).
Vergleichen wir die gängige historischer Aufarbeitung napoleonischer Einflüsse auf das deutsche Geschehen, beinhaltet der Sammelband durchaus ein Novum: Es sind vorrangig wertschätzende Aspekte nachzulesen. Denn in vielen Beiträgen werden nachhaltige, nicht selten frühdemokratische Tendenzen hervorgehoben. Wie stark sich so etwas von der Historienaufarbeitung etlicher Jahrzehnte der deutschen Vergangenheit unterscheidet, schreibt der Historiker Dr. Gerd van den Heuvel (Mitglied der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen) im Band bereits eingangs mit sehr treffenden Worten, indem er auf die Entstehung eines über etliche Jahrzehnte gängigen deutschen Geschichtsbildes verweist:
Der Rückblick auf die Jahre der Französischen Revolution und napoleonischen Herrschaft bildete fortan das Fundament eines sich sukzessive entwickelnden deutschen Nationalismus und einer xenophoben (also ‚fremdenfeindlichen‘, H.S.) Haltung gegenüber dem westlichen Nachbarn.
Kurzum: Ganze Generationen deutscher Historiker haben die Darstellung der „Franzosenzeit“ liebend gern dazu benutzt, weitere angebliche Makel am „Erbfeind Frankreich“ zu beschreiben, um wiederum weitere Vorurteile damit zu nähren. Der klassische Osnabrücker Stadtchronist Ludwig Hoffmeyer, der bis zur Jahrtausendwende in erheblichem Maße das Osnabrücker Geschichtsgeschehen beleuchtete und Interpretationen maßgeblich beeinflusste, bildete für diese Sichtweise nur ein Beispiel unter vielen.
Aussagen der Band-Macher
Klar wurde bei allen Beiträgen: Die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren eine ungemein wichtige Umbruchszeit, wie sie Osnabrück zuvor nie zuvor erlebt hatte. Alles setzte anno 1802 ein. In jenem Jahr endete nach vielen Jahrhunderten das eigenständige Fürstbistum Osnabrück mitsamt seiner städtischen Eigenständigkeit. 1803 kam es zur ersten Besetzung der Stadt durch französische Truppen. Bis 1813 durchlief die Region nicht weniger als acht (!) Regierungswechsel, für die beispielsweise Frankreich, Preußen wie Hannover standen.
Die allermeisten Buch-Autor*innen widmen sich vor allem dem Zeitabschnitt der Jahre 1807 bis 1813, in denen Osnabrück unter französischer Herrschaft stand. Stichwort bleibt die örtliche Umsetzung des legendären „Code Civile“, der eine Frühform für gleiche Rechte innerhalb der staatsbürgerlichen Gemeinschaft schuf. In diesem Geiste wurde zahlreiche Umwälzungen und Neuerungen – sei es im sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen oder kulturellen Bereich – angestoßen, die trotz jener, nach der Niederlage Napoleons einsetzenden Restaurationsbemühungen die weitere Geschichte Osnabrücks und der Region maßgeblich geprägt haben.
Ulrich Winzer stellte im Rahmen der Vorstellungsrunde klar, was ihn und andere zur historischen Detektivarbeit dermaßen motiviert hat: „Das Thema war so gut wie unerforscht“, räumte er ein. Erkenntnis sei am Ende gewesen, dass unter französischer Verantwortung nicht nur erstmals Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern entstanden und Grundlagen einer modernen Armenfürsorge geschaffen wurden. Mehr noch: Spätere, im Geist des Liberalismus agierende Personen seien nicht zuletzt durch französische Einflüsse jener Jahre „reforminfiziert“ worden.
Gerd Steinwascher hat sich ein „Vorgeschmack auf das spätere 19. Jahrhundert“ erschlossen, was sich unter anderem in Gestalt von Justizreformen und erstmals in dieser Form ausgeprägter Statistik widerspiegelte. Insbesondere sie habe akribisch zusammengetragene Daten für das jeweilige Verwaltungshandeln geliefert. Ausgiebig hat Steinwascher auch dazu aufgefundene Akten aus Visbeck ausgewertet, die exemplarisch für französisches Verwaltungshandeln jener Zeit stehen.
Julia Fesca konnte gewichtige Fortschritte im Rahmen der von ihr beleuchteten Armenfürsorge bestätigen: „Versprechungen wurden aufgegriffen“. Thorsten Heese wiederum erblickte erhebliche Einflüsse auf das in jener Zeit entstehende Vereinswesen, in dessen Rahmen es beispielsweise im Osnabrücker „Gelehrtenclub“ durchaus um Ideen ging, die auf der Französischen Revolution von 1789 basierten. Heese sah darum Nachhaltiges: „Für die Vereinsgeschichte ist ein Virus entstanden.“
Es war Ulrich Winzer, der dafür warb, weiteres Interesse für Vertiefungen des Themas zu wecken. Neben Historikerinnen und Historikern seien hier auch Studierende gefragt, die Themen für Bachelor- oder Masterarbeiten suchen. Beispielhafte Themen sind nach Winzer die detaillierte Sichtung französischer Verwaltungsakten, die damals legitimierte Emanzipation von Jüdinnen und Juden, die Aufhebung der Leibeigenschaft, Migration, Gesundheit, nicht zuletzt die von der Französischen Revolution – auch in Osnabrück – deutlich beeinflussten Gesellenaufstände. In der OR, daran sei gern erinnert, gab es dazu bereits vor längerer Zeit eine ganze, damals sechsteilige Serie.
Naturgemäß oblag es Sven Solterbeck als Vertreter des herausgebenden Verlages, die Vorzüge des Bandes in klare Worte zu fassen: „Ein attraktiver Hardcoverband, markante Abbildungen, wissenschaftlich hochwertige Beiträge, die auch zwischen den Seiten zum Schmökern einladen.“
Der Band in Kurzdaten
Ulrich Winzer, Susanne Tauss (Hrsg.) im Auftrag des Landschaftsverband Osnabrücker Land e.V.: Frankreich in Osnabrück. Eine Region in napoleonischer Zeit. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung vom 15. bis 17. September 2022; Münster-New York 2023, 398 Seiten, gebunden mit farbigem Bildteil, 49,90 €, ISBN 978-3-8309-4767-7.