Montag, 8. Januar 2024

„Aktion Gewitter“ nach dem 20. Juli 1944

NS-Opfer: SPD-Vorsitzende Melora Felsch erinnert an Osnabrücker Schicksale

Auch in der Stadt Osnabrück hält sich nachhaltig der Eindruck, rund 200 zum Tode verurteilte Angehörige der Wehrmacht unter Führung von Generaloberst von Stauffenberg hätten im Zuge der Geschehnisse am 20. Juli 1944 die Vorrangrolle im Kampf gegen die Nazi-Diktatur eingenommen. Dass im Zuge der anschließenden „Aktion Gewitter“ eine weit größere Zahl, nämlich über 5.000 eingekerkerte und vielfach im KZ ermordete Nazi-Opfer aus der sozialistischen Arbeiterbewegung stammte, die bereits vor 1933 aktiv gegen die Nationalsozialisten gekämpft hatten, gerät bislang allzu häufig in Vergessenheit.

Die Osnabrücker SPD-Vorsitzende Melora Felsch nutzte deshalb eine öffentliche Kranzniederlegung der Stadt Osnabrück am 20. Juli, um als einzige Rednerin auf diese Tatsache hinzuweisen und besonders ausführlich auf namentlich bekannte Osnabrücker NS-Opfer einzugehen, die infolge der „Aktion Gewitter“ ihren Tod fanden.

Mit der Rede von Melora Felsch wurden zugleich Menschen aus dem Widerstand gegen die Nazi-Diktatur mit ihren Lebensdaten vorgestellt, die in der OR seit einigen Wochen unter Verantwortung der örtlichen ILEX-Gruppe präsentiert werden.

Die OR dokumentiert die besagte Felsch-Rede, die dabei auch auf Ausarbeitungen der ILEX-Gruppe hinweist, im Wortlaut:

„Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Frau Pötter, sehr geehrte Vertretungen des Stadtrats und der Stadt, sehr geehrte Vertretungen des Reservistenverbandes und der British Legion!

Es gibt Aufgaben, vor denen man sich sehr klein fühlt. Diese Rede für heute zu schreiben und zu halten, ist eine solche Aufgabe.

Als ich mich auf den heutigen Tag vorbereitet habe, dachte ich an meine Genoss:innen und alle anderen, die im Zuge der ‚Aktion Gewitter‘ nach dem leider nicht geglückten Anschlag am 20. Juli 1944 verfolgt, verhaftet und ermordet wurden.

Wie kann ich diesen Menschen, die oft von Anfang an gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben, die ihr Leben riskiert haben, in der Hoffnung auf eine bessere, demokratische Zukunft, wie kann ich diesen Menschen würdig gedenken?

Ich verdanke den Kampf dieser Menschen, dass ich heute hier stehen kann, dass ich wählen kann, dass ich einer freien Demokratie lebe.

Eine Demokratie aber, in der Hass und Rassismus leider noch existieren. Am 19. Februar 2020 ermordete ein Mensch aus rassistischen Motiven neun junge Menschen. Ihre Angehörigen fordern bis heute ‚Say their names – sagt ihre Namen.‘. Und das möchte ich auch heute tun, um den tapferen Osnabrücker Held:innen zu gedenken. Ich möchte aus diesem Gedenken ein Bedanken machen.

Lieber Heinrich Niedergesäß, lieber Wilhelm Mentrup, lieber Heinrich Groos, lieber Fritz Saliniski, danke für euren Kampf.

Lassen Sie mich kurz diese Menschen Ihnen vorstellen.

Opfer der „Aktion Gewitter“, von links nach rechts: Heinrich Niedergesäß, Wilhelm Mentrup, Heinrich Groos und Fritz Szalinski. Collage: Heiko SchulzeOpfer der „Aktion Gewitter“, von links nach rechts: Heinrich Niedergesäß, Wilhelm Mentrup, Heinrich Groos und Fritz Szalinski. Collage: Heiko Schulze

Menschen und ihre Leidenswege

Heinrich Niedergesäß wurde als ehemaliger SPD Parteisekretär zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt und anschließend bis 1941 ins KZ Buchenwald eingeliefert. 1944 wurde der gelernte Buchdrucker – 62jährig – zunächst ins Arbeitszuchtlager Ohrbeck, dann ins KZ Neuengamme deportiert. Sein Leiden endete unmittelbar vor Kriegsende auf einem versenkten Häftlingsschiff in der Lübecker Bucht.

Einen ähnlichen, bewusst herbeigeführten Tod fand der 68jährige Sozialdemokrat und ehemaligen Verwaltungsdirektor bei der Osnabrücker AOK, Wilhelm Mentrup, dessen Häftlingsschiff am 3. Mai 1945 versenkt wurde.

Einen endlosen Leidensweg erlebte seit 1933 auch der ehemalige Gewerkschaftssekretär und Arbeitsamtsleiter Heinrich Groos, der sich schon 1933 vergeblich im Vehrter Naturfreundehaus vor SA und SS versteckt hatte, um seiner ersten Verhaftung und Misshandlung zu entgehen. Auch Groos verschleppten die Nazis nach dem 20. Juli 1944 nach Neuengamme, wo der 68jährige noch am 12. Dezember des gleichen Jahres umkam.

Ebenso die Stationen Neuengamme und Ohrbeck durchlebte der ehemalige Metallgewerkschaftssekretär Fritz Szalinski, der sich seit der 1933 durchgeführten Zerschlagung der Gewerkschaften als Zeitungsbote durchgeschlagen hatte. Szalinskis Tod erfolgte angeblich durch Pleuritis und Herzinsuffizienz. Die Witwe des 67jährigen erhielt mit dem Poststempel des KZs eine penibel aufgelistete Liste mit ärztlichen Leistungen.

Insgesamt zählte die die Aktenlage der GestaPo 39 betroffene Sozialdemokrat:innen, 10 Gewerkschafter:innen und 3 Kommunist:innen, die verhaftet wurden.

In einer Denkschrift veröffentlichte der Osnabrücker ILEX-Kreis kürzlich 104 weitere Namen von Osnabrücker Widerstandskämpfer:innen. Namen, die zum Teil nur sehr wenigen Osnabrücker:inen bekannt sind.

Insgesamt wurden deutschlandweit rund 6000 Menschen, überwiegend aus der Arbeiterbewegung, nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und zum großen Teil ermordet.

Für sie stehen wir heute vor dem Denkmal von Gerhard Marcks, das den ‚Opfern für Wahrheit und Freiheit‘ gewidmet ist. Durch die Wahl des Bildhauers Professor Gerhard Marcks aus Köln, einem in der NS-Zeit als ‚entartet‘ verfemten Künstlers und Bauhaus-Schülers, wurde zugleich vor allem der antifaschistische Charakter dieses Denkmals unterstrichen.

Als ‚entartet‘ wurde auch die Kunst des Osnabrückers Friedrich Vordemberge-Gildewart bezeichnet. Sein Wohnhaus ist nicht weit von hier. Als (zu) späte Genugtuung und Würdigung seiner Kunst können Passant:innen heute sein Bild ‚Komposition 208‘ gegenüber vom Haus der Jugend bewundern. Friedrich Vordemberge-Gildewart wurde 1937 aufgrund der Verfolgung seiner Kunst ins Exil gezwungen.

 

„Wer von Opfern spricht, darf von den Tätern nicht schweigen“

Wer von Opfern spricht, darf von den Tätern nicht schweigen. Nur ein verschwindend geringer Teil der Deutschen glaubt, dass ihre Vorfahren aktive Täter:innen im Nationalsozialismus waren. Ein knappes Drittel ist laut einer Umfrage 2020 sogar überzeugt, dass ihre Großeltern sich tapfer für die Opfer eingesetzt hätten. Zehn Prozent glauben sogar, ihre Familien hätten Verfolgte bei sich aufgenommen und versteckt. Grob hochrechnet wären das etwa acht Millionen Menschen. Wir wissen, dass dies leider nicht so ist. Dank der Geschichtsforschung kennen wir die Namen derjenigen, die sich getraut haben, die es riskiert haben. Die Opfer kennen wir, die Täter :innen bleiben in unserer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oft genug fremd und distanziert. Aber es muss auch zu unserer Erinnerungskultur gehören, dass wir die Namen der Täter:innen kennen, dass wir verstehen, warum sie getan haben, was sie getan haben. Welche Strukturen es ihnen ermöglicht haben.

Denn die Vergangenheit gibt uns einen Fingerzeig in die Gegenwart und in die Zukunft. Es gibt bereits seit einigen Jahren die besorgniserregende Entwicklung, dass ein Teil der Menschen sich nicht mehr der Demokratie zugehörig fühlen und sie ablehnen, ja, sie komplett in Frage stellen oder sogar bekämpfen. Es ist unsere politische Verantwortung darauf Antworten zu finden und wenn es nötig ist die Demokratie auch zu verteidigen. Demokratie ist im Grunde wie ein Hausprojekt, dass nie ganz fertig wird, dessen Grundfeste und -werte wir immer wieder stabilisieren und manchmal auch neu aufbauen müssen.

Nach dem Krieg haben viele aus der Arbeiterbewegung, die überlebt haben, diese große Aufgabe in Osnabrück übernommen. Von der Zeit vor 1933 hatten sie das demokratische Werkzeug mitgebracht, um das Haus in Osnabrück wieder aufzubauen.

Walter Bubert beispielsweise, der ebenfalls im Rahmen der Aktion Gewitter verhaftet wurde und nur haarscharf dem KZ entkam, machte sich einen Namen als „Roter Landrat“ im Landkreis Osnabrück und beteiligte sich bereits 1946 an der Wiedergründung der Osnabrücker SPD.

Seine Genossin und frühere Landtagskollegin Alwine Wellmann kehrte 1948 nach Osnabrück zurück. Die ‚Rote Alwine‘ wurde umgehend als ‚Vertrauensmann für die ehemaligen politisch, religiös und rassisch Verfolgten‘ in der Wiedergutmachungsstelle der Osnabrücker Regierung angestellt. Diese Funktion verlor sie allerdings 1953 – zeitgleich mit dem Erstarken konservativer, reaktionärer und ehemals nationalsozialistischer Kräfte in öffentlichen Verwaltungen.

Alwine und Walter sind zwei weitere große Persönlichkeiten, die sich in das Gedächtnis dieser Stadt eingeschrieben haben. Ihnen und allen anderen Opfern, Mutigen, Aufrechten erweisen wir heute unsere besondere Ehrerbietung.

Ich möchte enden mit einem Zitat von Hanna Arendt, die uns mahnt nicht zu vergessen:

‚Dies ist anders gewesen (…), alles andere hätte noch irgendwie wieder gut gemacht werden können, so wie alles in der Politik wieder gut gemacht werden kann. Das nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. Da ist irgendwas passiert, womit wir nicht mehr fertig werden.‘

Ich danke Ihnen und Euch, dass Sie heute hier sind, um dieses Gedenken gemeinsam zu begehen.“

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