Ein Rathaus, stolz wie Bolle! Osnabrück schmückt sich mit dem Europäischen Kulturerbesiegel (mit Heimatfilm)

(Texte und Interviews: Heiko Schulze & Kalla Wefel / Fotos: Manfred Pollert / Technik & Gesamtgestaltung: Kalla Wefel)
Teil 10 der OR-Serie zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens

Unsere besiegelte Heimatstadt

„Europäischer Frieden“: So lautet das Motto städtischen Aktivitäten anlässlich des 375. Jubiläums des Westfälischen Friedens. Im bald endenden August möchten wir in Osnabrück ein klares gemeinsames Zeichen für die Relevanz von internationalem Dialog und Zusammenhalt setzen und – auch mit dem Blick auf Europa – erkunden, wie friedliches Zusammenleben trotz latenter Kriege und weltweitem Säbelrasseln organisiert werden kann. Warum das unserer Stadt anno 2015 verliehene Europäische Kulturerbesiegel eine besondere Rolle spielt, soll im folgenden Beitrag erläutert werden.


Einbindung in die OR-Serie

Vor vier Wochen präsentierten wir den Friedenssaal des Osnabrücker Rathaus mit allen Facetten und sensationellen, bis dahin weitgehend unbekannten neuen Erkenntnissen. Dieses Mal soll es um ein besonderes „Siegel“ gehen. Denn was kann eine Wertschätzung der Friedensstadt besser auszeichnen als eine Ehrung des örtlichen Rathauses mit dem Europäischen Kulturerbesiegel? Im April 2015 war es die Europäische Kommission höchstpersönlich, welche die Rathäuser von Münster und Osnabrück als Stätten des Westfälischen Friedens mit dem genannten Siegel ausgezeichnet hat. Es war immerhin die Tat eines Gremiums, das man durchaus als Europas Regierungskabinett bezeichnen kann. Die EU -Kommission ist nämlich das ausführende Organ der Union, also die Exekutive der Gemeinschaft.Sie besteht aus 27 Mitgliedern, die aus allen Mitgliedsstaaten stammen.

Gern ist die OR deshalb einmal auf die Spurensuche eines solchen Siegels gegangen. Wir mussten uns darum wirklich anstrengen und einen großen Bogen zur Geschichte spannen. Am Ende wurden wir alle zu überzeugten Siegelbewahrern. Entsiegeln wir also Binsenweisheiten wie wohlgehütete Geheimnisse!


Siegel im Takt der Geschichte

„Besiegelt und verkündet!“ In der Geschichte war dies immer jener Moment, in dem feierlich eine neue Lage verkündet wurde. Das Spektrum reichte vom feierlich begangenen Friedensschluss über ein beschlossenes neues Recht bis hin zu irgendwelchen Privatabmachungen im Kleinen. Siegel, seit der Antike oft Symbole königlicher oder adeliger Macht, führten zunächst Einzelpersönlichkeiten, dann siegelten auch Körperschaften, am Ende auch Einzelmenschen. Wachssiegel, oft eingedrückt mit dem berühmten Siegelring, trugen im Mittelalter die meisten Urkunden und Rechtsgeschäfte aller Art.

Schweigen wollen wir an dieser Stelle von Siegeln, die aus merkwürdigen Erwägungen heraus Bullen hießen. Jene Exemplare trugen keinesfalls spitze Hörner. Dafür waren sie aus Gold, Blei oder Silber. Zumal solche Bullen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation hauptsächlich den Päpsten oder den byzantinischen Kaisern für Dokumente besonderer politischer und verfassungsrechtlicher Bedeutung vorbehalten waren, haben sich Osnabrücks Bullen hauptsächlich mit anmutigen Kühen beschäftigt. Irgendwoher mussten die fette Milch und die kleinen Kälber ja auch kommen.

Wachs kommt in unserer Stadt-Historie wesentlich häufiger vor. Das rote Wachs musste allerdings mühsam erkämpft werden. Denn die Rotwachsfreiheit war ein im Heiligen Römischen Reich seit etwa Ende des 14. Jahrhunderts vom Kaiser oder König verliehenes Privileg, das sogenannte Rotsiegelprivileg. Es beinhaltete das Recht, alle Siegelungen mit rotem Siegelwachs durchzuführen. Grünes Wachs verwandten dagegen die Chefs von Stiften und Klöstern, weißes die Verantwortlichen in Freien Reichsstädten. Wie gern hätten dies unsere Vorfahren im örtlichen Rathaus getan? Für den weißen Wachs hätte man schon irgendwelche Kerzen schmelzen lassen können. Das alte Osnabrück wäre dadurch nicht dunkler geworden.


Die späte Wiedergutmachung: angedübelt an Rathauswänden

Ging aber nicht. Gegen die Kaiser und seine Kurfürsten war nix zu machen. Unser Osnabrück hat es darum nie so ganz zu einer wirklich Freien Reichsstadt gebracht. Dass wir uns jetzt aber mit dem Europäischen Kulturerbesiegel schmücken, ist dafür endlich eine überaus schöne Wiedergutmachung. Dass unsere Nachbarstadt Münster das gleiche Siegel andübeln durfte, ist ein später Kompromiss des im Grunde bei uns ausgeheckten Westfälischen Friedens. Geschenkt.

Einfach klasse, wie wir das gemacht haben. Denn das Osnabrücker Siegel findet sich keineswegs auf irgendeinem zugekleisterten Dokument im Panzerschrank. Es prangt, sauber angedübelt, im Gebäude und auch außerhalb des Rathauses: Besiegelt ist unser Vorzeigehaus also erst seit 2015. Keiner der schwer schuftenden Hausbauer, die am Prachtgebäude zwischen 1487 und 1512 so viele Jahre gewerkelt haben, hätte sich solch eine Krönung seines Schaffens vorstellen können.

Verkündet ist auf den unverückbaren Tafeln der Wortlaut der Auszeichnung, die auf jenem Siegel steht. Zumal angedübelte Wachsiegel wenig Überlebenschancen hätten, entschlossen sich die Verantwortlichen für irgendein wetterfestes Chemieprodukt, womöglich klarsichtigen Kunstharz, das seit 2015 staunenden Rathausgästen präsentiert werden kann.


Das Kulturerbe-Siegel

Bevor das Stirnrunzeln zu dauerhaften Falten mutiert, lüften wir nun gern das Geheimnis, was des oben genannte Siegel eigentlich ist. Das Europäische Kulturerbe-Siegel ist nämlich eine staatliche Auszeichnung für Kulturerbe-Stätten, welche die europäische Einigung sowie die Ideale und Werte sowie die Geschichte der Europäischen Union „in besonderer Weise symbolisieren und vermitteln“.

Seit 2011 ufert die europaweite Siegelvergabe keineswegs aus, sondern bildet ein knappes Gut. Die EU-Kommission zeichnet stets ganz besondere europäische Kulturdenkmale, Kulturlandschaften, kulturelle Stätten und Gedenkstätten mit dem genannten Siegel aus. Osnabrück hat sich seinerzeit für eine solche Auszeichnung qualifiziert, weil sein Rathaus eine Stätte ist, die „symbolisch und beispielhaft für die europäische Einigung sowie die Ideale und Geschichte Europas bzw. der Europäischen Union stehen und diese Bedeutung mit geeigneten Aktivitäten zum Ausdruck bringen.“ Feierlicher geht es nicht, oder?

Europaweit wurden inzwischen gut 60 Stätten mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel ausgezeichnet. Neben den Rathäusern in Osnabrück und Münster sind dies in Deutschland das Hambacher Schloss (ausgezeichnet, weil sich im dortigen Schloss anno 1832 rund 30.000 Menschen aus Deutschland, Frankreich und Polen friedlich für demokratische Werte einsetzten), die Musikerbe-Stätten Leipzigs, die Gedenkstätten am ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler und seine Außenlager, die (der Tradition sozialen Bauens verpflichteten) Werkbundsiedlungen in Europa 1927 – 1932, zuletzt der Oderbruch nach dem Motto „Menschen machen Landschaft“.


Besser als ein UNESCO-Kulturerbe?

Wäre es nicht etwa schöner gewesen, das Osnabrücker Rathaus zum UNESCO-Kulturerbe zu machen? Klar wäre beides schön. Aber schöner? Die Antwort lautet „Nein“. Das UNESCO-Kulturerbe ist sicherlich toll, aber richtig leuchtende Augen bekommen dabei eher staubgewohnte Kulturhistoriker*innen.

Im Ernst: Wenn Geschichte mehr sein soll als reines historisches Erinnern, dann muss sie gegenwartsorientiert sein, um aktuelle Probleme anzugehen. Europäische Kulturerbestätten erfüllen exakt diesen Zweck. Sie sollen vor allem die europäische Idee und die Geschichte dahinter lebendig machen – und immer wieder mit frischem Leben füllen! Zugleich wirkt das europäische Siegel allen rückwärtsgewandten Kräften entgegen, die sich mit feuchten Augen an alte Nationalstaaten erinnern und dabei oft Heldenkult und blutige Gemetzel meinen. Ziel eines Kulturerbesiegels ist es dagegen, das Zugehörigkeitsgefühl der europäischen Bürgerinnen und Bürger zur EU und ihren gemeinsamen Werten zu stärken und den Zugang zum europäischen Kulturerbe zu erleichtern. Wenn AFD-Fans und Alt-Nazis hier finstere Verschwörungen wittern, darf dies Europa- und Friedensfreund*innen gern bestärken, unbeirrt europafreundlich weiterzumachen und lieber an Frieden, Solidarität, Toleranz und Völkerfreundschaft statt an Heldentode zu erinnern.

Denn die historische Botschaft, die 1648 in Gestalt des mit Münster verkündeten Friedens proklamiert worden ist, ist heute mindestens so aktuell wie in der Geschichte: Geschaffen wurden elementare Grundlagen für den Föderalismus, für eine europäische Staatengemeinschaft sowie nutzbare Blaupausen zur Ausgestaltung internationaler Beziehungen, die auch heute noch Anregungen vermitteln. In Osnabrück wurde zudem eine besondere, deutschlandweit einmalige Errungenschaft vereinbart: eine abwechselnde Amtsfolge von evangelischen und katholischen Fürstbischöfen, die immerhin bis 1803 Bestand hatte und nach Jahrhunderten opferreicher Streitereien ein friedliches Miteinander der Konfessionen regelte. Zumindest Angehörige unterschiedlicher Konfessionen pflegen ihre Streitigkeiten seither vornehmlich friedlich zu regeln. In so manchen aktuellen Konflikten der Welt lässt sich daraus vortrefflich lernen.

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