Warum Heider und Pistorius schon seit 375 Jahren im Rathaus hängen (mit sensationellem Historienfilm)

(Texte und Interviews: Heiko Schulze & Kalla Wefel / Fotos: Manfred Pollert / Technik & Gesamtgestaltung: Kalla Wefel)
Teil 8 der OR-Serie zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens*

OR enthüllt nie zuvor entdeckte Hintergründe

Wo hat man das schon? Osnabrück und Münster feiern beide ihren jeweiligen Friedenssaal. In Osnabrück kennt man das Jubeln ja. Münster aber hat seit dem Bundesligaabstieg der Preußen 1964 nichts mehr zu feiern. Zugegeben: In der Geschichte war das anders. In beiden Städten fanden im jeweiligen Friedenssaal jene Verhandlungen statt, die anno 1648 zumindest 30 Jahre Krieg beendet haben. Das freut schon und wäre auch im Stadion eine Laola-Welle wert, oder?


Ein Blick zurück

Als das Haus in Osnabrück anno 1512 rundum fertig war, hatte noch niemand an die spätere Berühmtheit des überschaubaren Wohnzimmers gedacht. Als das Eröffnungsspiel im neuen Ambiente stattfand, hieß der spätere Friedenssaal sogar noch „Große Ratskammer“. Der Raum war ursprünglich allein als Ratssaal oder auch Sitzungssaal konzipiert. Davon zeugt bis heute die umlaufende Bank für die Teams jener Zeit, die hier noch ohne Reservespieler auskamen.

Nicht immer sportlich ging es auf den Bänken und dem Platz davor zu: In frühen Zeiten bot eine solche Sitzordnung so etwas wie die Voraussetzung vorparlamentarischer Debatten um die richtige Strategie und Taktik. Der jeweilige Redner stand unter der „Krone“, also dem pompösen Kronleuchter, der eine Rede umso deutlicher in ihrem Wert unterstreichen sollte. Ein früher Flutlichtmast sozusagen. Alle Anwesenden sahen sich, wie noch heute im britischen Unterhaus, besser noch der Nord- und Südgerade, einander direkt ins Gesicht. Gefertigt sind die Bänke mit reichhaltigem Sponsorengeld als verziertes Eichenholz-Gestühl, das gotische Muster mit Motiven der Frührenaissance verbindet und zufällig anwesenden Konkurrenten Respekt einflößt.

Wer vom Spiel gelangweilt war, aufschauen wollte und gähnend auf den Abpfiff wartete, durfte sich derweil mit dem Kronleuchter unter dem Gebälk befassen. Der Betrachter sinnierte dann still über die Menschheitsgeschichte mit dem nackt präsidierenden Urpaar der Schöpfung namens Adam und Eva. Das Firmament bilden bis heute, sofern man einen scharfen Blick hat, Sonne, Mond und Sterne sowie Maria mit dem Jesuskind und drei Vertreter irgendwelcher Stände. Weniger daran Interessierte konnten Wetter- und Fruchtbarkeitssymbole entschlüsseln, Fritz-Walter-Wetter war ja noch nicht erfunden. Ganz Findige können bis heute die kleinen Schildchen erspähen, die am Fuße bommeln. Sie markieren die Club-Symbole der damaligen Erstligisten, die allesamt zum Handwerk zählten und das Sagen in der Stadt und ihren Expertenrunden besaßen.

Das Geweih eines Sechsundreißigenders ist im Kronleuchter alles, was von einem Rentier übrig geblieben ist. Dem Kölner Geißbock sollte es später viel besser gehen, vielleicht gerade wegen des abschreckenden Osnabrücker Beispiels. Hoffen wir mal, dass dies im nächsten DFB-Pokalspiel verdrängt wird. Die Hinterlassenschaft der im Leuchter dokumentierten Tierquälerei wurde übrigens später eingefügt. Gesponsert hat damals alles die schwedische Königin Christina, sozusagen als Erfolgsprämie für die Friedensunterzeichnung.

Und der Friedenssaal selbst? Seit Schulzeiten, spätestens seit dem präzisen Beitrag von Hermann Queckenstedt in der OR zu den damaligen Aktivitäten wissen Mann, Frau und Kind mehr über den Raum.

Was wäre eine Saison ohne Mannschaftsbild und Spielerporträts? Das gilt heute wie damals. Der flämische Maler und Mannschaftsbetreuer Anselm van Hulle hatte nach 1648 mit seinen Assis jede Menge zu tun, um die 42 europäischen Gesandten des Friedenskongresses mitsamt der Herrscher kriegsführender Staaten (u. a. Königin Christina von Schweden, Ludwig XIV. von Frankreich oder der deutschen Kaiser Ferdinand III.) in voller Teamstärke bunt gemalt, aber in durchgängig schwarz-grau-braunen Trikots in dekorative Rahmen zu bringen.

Die Wandschränke im Mauerwerk zwischen den großen Fenstern heißen offiziell Privilegienschreine. Bewahrt sind darin Urkunden von Osnabrücker Hospitälern, Stiftungsurkunden und Rezepte, Spielpläne und taktische Aufstellungen weit weniger. Als frühe Safes dienten die Wandschränke mit schlichteren Türen. Sie konnten Bürger dereinst für ihre Wertsachen als eine Art Schließfach anmieten. Also dann vielleicht doch für Spielpläne und taktische Aufstellungen.

Soviel zum Areal unter der Krone. Alles war nur ein Vorgeplänkel. Den echten Wert des Friedenssaals bringt die OR erst jetzt ans Licht! Denn nun folgt der entscheidende Teil der Zimmererklärung! Lest selbst und staunt!


Zwei Namen für die Ewigkeit

Denn mit einer Eigenschaft kann der Friedenssaal in Münster beileibe nicht mithalten: Im Osnabrücker Pendant hängen nämlich Porträts von Gesandten mit solchen Nachnamen, die in jüngster Zeit weit über Osnabrück hinaus Furore  machen.

Wie das sein kann? Ein Blick auf die leicht verblichene Beschriftung auf  den jeweiligen Gemälden lässt Augen leuchten und Ohren klingeln. Da heißen doch tatsächlich zwei davon Pistorius und Heider! Ja, richtig gelesen: Pistorius und Heider – auch wenn Pistorius in seiner historischen Schreibweise damals zuweilen noch ein „u“ fehlte. Aber was ist das schon angesichts des „Uiii!“, das unsere Meldung auslöst.

Beide Namen sind in der jüngsten Geschichte mit überschwänglich positiven Schlagzeilen in Erscheinung getreten. Ex-Oberbürgermeister Boris Pistorius gilt seit seinem Dienstantritt im Amt des Verteidigungsministers als mit Riesenabstand beliebtester Politiker Deutschlands. Um mit dem Covermacher des Spiegel zu sprechen: Minister Perfect! Und Marc Heider? Der hat nicht nur im Rekord-Fußballalter von 37 Jahren als VfL-Profi von sich reden gemacht. Als spätes Highlight seiner rasanten Karriere steuerte er zwei Ballverlängerungen bei, die den VfL Osnabrück bis zur 96. Spielminute in die 2. Bundesliga katapultierten. Weit über Osnabrück hinaus ist er zur lebenden Legende für einen bodenständigen Kickers geworden. Pistorius und Heider sind also derzeit völlig zu Recht in aller Munde. Trotzdem sind sie nur 2.0-Ausgaben.

Pistorius 1.0 und Heider 1.0 blicken schon seit viel längerer Zeit still von der Wand des Osnabrücker Friedenssaals und haben seit 1648 eigentlich nur Jahrhunderte vor sich hingestaubt. Zigtausenden von Besuchenden des Rathauses dürften sie nie besonders aufgefallen sein. Soll das jetzt anders sein? Klar! Wozu sonst gibt es die Osnabrücker Rundschau?

Die Namensverwandtschaft mit aktuellen Osnabrücker Promis lässt die beiden Altgesandten in gänzlich neuem Licht erscheinen. Was waren das für Leute? Gehen wir also auf posthume Talentsuche.


Heider 1.0

Beginnen wir mit dem alten Heider. Dem hatten seine Mama und Papa am 25. März 1605 in Lindau den Vornamen Valentin verpasst. Zeitlebens durfte dieser Zeitgenosse allenfalls Kanonenkugeln statt Lederkugeln um sich herum sammeln. Valentin entstammte dem Lindauer Zweig des Patriziergeschlechts der Heider und war zweitältestes von elf Kindern des Lindauer Ratssyndikus Daniel Heider. Trainingscamps des Talents waren die Lateinschule in Kempten sowie ein fünfjähriges Studium der Rechtswissenschaften in Straßburg und Tübingen. 1627 wurde er in Altdorf zum Doktor seiner Disziplin und Lizenzträger für schwierige Verhandlungen. Darauf folgten Studienreisen nach Frankreich und Wien, um weiter an seinen juristischen Techniken zu feilen. Von 1634 an zeigte Heider Managementqualitäten und trat, wie sein Papa, als Syndikus für die Interessen seiner reichsstädtischen Heimatstadt, für deren Vorstandsetagen und Sponsoren ein.

Mit dieser Aufgabe wurde er nach Wien, Regensburg, sowie nach Nürnberg und auf die Schwäbischen Kreistage gesandt, wo er weiteren Talentsuchern auffiel. Angriffsqualitäten besaß er vor allem als Jurist und Lindauer Ratsherr. Bei den Friedensverhandlungen bis 1648 stand der überzeugte Protestant für die Reichsstädte Schwabens unter Vertrag und durfte darum deren Interessen vertreten.
Heider organisierte zu Hause opulente Nachwuchsarbeit und gilt als Stifter des Lindauer Kinderfests, das er in seiner Funktion als Schulratspräsident anno 1655 begründete. In Anerkennung seiner Verdienste schenkte ihm die Stadt Lindau als Extraprämie das Gut Lärche, das ihm fortan als Wohnsitz diente. Verstorben ist er im Alter von 59 Jahren in seiner Heimatstadt, deren Spielstätte er also zeitlebens ohne Vertrag treu geblieben war.

Dass unser Heider-Porträt demnächst für ein Jahr ins Lotter Rathaus verliehen wird oder schamhaft verdeckt wird, ist übrigens ein böswilliges Gerücht, das von Preußen-Fans lanciert wird.


Pistorius 1.0

Pistorius 1.0, damals allerdings oft noch mit der heute abgeschafften altsächsischen Schreibweise „Pistoris“, wurde mit einem Namen belastet, der auf keinen modernen Spielerpass mehr passen dürfte. Er hieß nämlich offiziell Johann Ernst Pistoris von Seußlitz und Hirschstein. Geboren wurde der mit Titeln überhäufte Mann am 20. März 1605. Den Jugendmannschaften entwachsen, besaß Nachwuchsarbeit für ihn jederzeit einen riesigen Stellenwert. Mithilfe seiner Gattin Katharina von Köckeritz zeugte er immerhin einen Kader mit 13 Kindern und gestaltete heimische Spielstätten als nachhaltige Talentschmieden. Seinen Enkel Hartmann sollte es eines Tages in die Steiermark ziehen, wo er bedeutende Hammerwerke gründete und für wuchtige Auftritte sorgte.

Pistorius bzw. Pistoris studierte nach seiner Schulzeit die Regelwerke der Rechtswissenschaft an der Uni Leipzig. Schnell wurden Talentsucher auch auf den trickreichen Ernst aufmerksam. Im Jahr 1639 wurde er in den Kader des kursächsischen Staatsdienstes übernommen. Als Kursächsischer Prinzipalgesandter hielt er sich dann zwischen 1646 und 1647 in Münster und Osnabrück auf, um flexible Spielzüge zu erproben. Gesandt worden war er dorthin zuvor mit rund 35 weiteren Nominierten. Hier war es seine Hauptaufgabe, als bewährter Coach diplomatische Kontakte zu knüpfen. Am Tagungsort Osnabrück hatte er zusammen mit seinem Teamkameraden Leuber darüber hinaus den Vorsitz in einem Aufgebot aller lutherischen und reformierten Reichsstände. Hier wurden allerdings zu hohe Transfersummen verlangt: Auf Grund nicht ausgezahlter Prämien wurde Pistoris 1647 vom Kurfürsten zurückbeordert.

Zwangsläufig musste er die Liga wechseln. Im Jahr 1653 nominierte ihn der Kurfürst für den Reichstag in Regensburg. 1655/56 vertrat er auf der Bank Kursachsen auf dem Reichsdeputiertentag in Frankfurt am Main. Nach 1650 folgte seine Nominierung zum Präsidenten des Appellationsgerichts sowie im Jahr 1655 die zum Oberhofrichter nach Leipzig. Etwa im Jahr 1660 erfolgte seine letzte Einwechslung als Amtshauptmann von Pegau und Borna an.

Ihn reizten stets aber auch andere Disziplinen. Ihn faszinierte der Reitsport mitsamt Schusstechniken der Jagd. Pistoris, da noch immer in dieser alten, dann sogar dort tief eingemeißelten Schreibweise, wurde in der Familiengruft in Seußlitz beerdigt.

Mit seiner Hängung, vor allem mit dem Namen, wird er natürlich in Osnabrück unvergänglich bleiben. Wie unser Friedenssaal und unsere Stadt eben.


Hier geht es zum ersten großen Historienfilm der OR


*Die 14-teilige OR-Serie zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens wird gefördert vom Fachbereich Kultur der Stadt Osnabrück.

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