Samstag, 27. Juli 2024

„Es reicht nicht.“

 

Ein Bericht von der Gedenkfeier für die Opfer des AEL Ohrbeck

Der Begriff „Erinnerungskultur“ beschreibt das gemeinsame Wissen einer Gesellschaft über ihre Vergangenheit. Im Kern geht es darum, sich an die Geschichte des Landes zu erinnern und aus dieser Lehren für die Zukunft zu ziehen. In Deutschland stellen die Erinnerungen an Vernichtungskrieg, Völkermord und Ausbeutung während der Zeit des Nationalsozialismus die zentralen Bestandteile gesellschaftlicher Identität und Gedenkkultur dar.

Im Idealfall gehört zur Erinnerungskultur also mehr als stumpfes, ritualisiertes Gedenken an bestimmten Tagen. Die aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit soll uns alle befähigen, die Zukunft im Sinne demokratischer Grundsätze zu gestalten. Sie soll uns ermöglichen, bedrohliche Entwicklungen zu erkennen und diesen gezielt entgegenzutreten. Im Koalitionsvertrag der Bunderegierung vom September 2021 heißt es dazu „Wir begreifen Erinnerungskultur als Einsatz für die Demokratie und Weg in eine gemeinsame Zukunft.“


Gelebte Erinnerungskultur im Osnabrücker Land

Zu einem Akt lokaler Erinnerungskultur baten am Samstag, den 7.April 2024 die Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht zum alljährlichen Gedenken für die Opfer des Arbeitserziehungslagers Ohrbeck. Im Verbund mit dieser Gedenkveranstaltung erfolgte die offizielle Eröffnung der in den Räumen des Augustaschachts angesiedelten Sonderausstellung „Der Tod ist ständig unter uns / Nāve mīt mūsu vidū“. Diese von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten in Kooperation mit lettischen Wissenschaftlern erstellte Ausstellung widmet sich u.a. der Aufarbeitung der 1941 erfolgten Deportationen von fast 25.000 „Reichsjuden“ in das deutsch besetzte Lettland sowie der in den Nachfolgestaaten zelebrierten Gedenkkultur (Heiko Schulze berichtete hierzu bereits umfassend: https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/heiko-schulze/der-tod-ist-staendig-unter-uns/).

Dass sich die Verantwortlichen der Gedenkstätten Gestapokeller und Augustschacht derart engagiert für die Vergabe der Ausstellung nach Osnabrück einsetzten, ist dem besonderen Bezug unserer Region zur Thematik geschuldet. Der Großteil der am 13. Dezember 1941 im Gestapobezirk Osnabrück verbliebenden Jüdinnen und Juden wurde an diesem Tag als Teil einer großangelegten Deportationsaktion aus dem Deutschen Reich und der annektierten Tschechoslowakei nach Riga und damit in die gezielte Vernichtung geschickt. Von den 34 aus Osnabrück stammenden Opfern dieser „Evakuierung“ sollten nur vier die Shoah überleben und nach Osnabrück zurückkehren. Unter diesen befand sich nicht nur Ewald Aul, welcher über 25 Jahre der von den „Zurückgekehrten“ wiederbegründeten Synagogengemeinde Osnabrücks vorstand. Zurückgekehrt ist auch der Vater des amtierenden Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Josef Grünberg. Als einziger Überlebender seiner Familie hat Josef so gut wie nie über das ihm angetane Unrecht gesprochen. Zu unbeschreiblich war das Erlittene, zu schmerzhaft die Erinnerungen, zu dringlich das Weiterleben. Er könne lediglich versuchen, sich vorzustellen, wie es in seinem Vater ausgesehen hat, erzählt Michael Grünberg in einer bewegenden Rede vor den Teilnehmer:innen der Veranstaltung. Könnte nur erahnen, wie es in einem Menschen aussah, der versuchte in einer Gesellschaft, welche ihn zuvor seiner Menschenrechte beraubt hatte, eine neue Existenz für sich und die nachkommende Generation aufzubauen.


„Es reicht nicht!“

Nach Ende des Krieges wurde von Osnabrücker Zeitzeug:innen vielmals behauptet, die Deportationen ihrer jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn wären heimlich, bei „Nacht und Nebel“ durchgeführt worden. Schließlich habe ja niemand etwas davon mitbekommen. Tatsächlich existierten diese „Nacht-und-Nebel-Aktionen“ nur in den Erinnerungen der Osnabrücker Bürger:innen. Wie überall im Reich und den besetzten Gebieten fand auch die Deportation nach Riga in den hellen Tagesstunden des 13. Dezembers statt (Martina Sellmeyer berichtete für die OR ausführlich über die Geschehnisse: https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/martina-sellmeyer/nicht-bei-nacht-und-nebel/).

Nebelschwaden legten sich in der Folge „lediglich“ über Aufarbeitung und Gedenken des Verbrechens selbst: bis heute stellt die Deportation der Osnabrücker Jüdinnen und Juden nach Lettland einen weißen Fleck im regionalen Geschichtsbewusstsein dar. Die Redner der Gedenkveranstaltung betonten daher die Wichtigkeit der Aufnahme dieser Geschehnisse in die aktive Erinnerungskultur, insbesondere im Kontext der aktuellen demokratiefeindlichen Entwicklungen. Michael Grünberg fasste die Bedenken diesbezüglich treffend zusammen, als er sich an die anwesenden Vertreter von Politik und Gesellschaft richtete: die wissenschaftliche Aufarbeitung sei ein wichtiger Schritt, das Gedenken unerlässlich, „aber das alles reicht nicht.“ Das Jahr 2024 hat uns als Gesellschaft die Grenzen des Wirkungsbereiches unserer (von uns selbst so viel gelobten) Erinnerungskultur bereits wieder vor Augen geführt, als am 5. April ein Anschlag auf die Oldenburger Synagoge verübt wurde.

Die schmerzhafte aber treffenden Anklage von Herrn Grünberg führt daher zu den Ausgangsüberlegungen des Artikels zurück: was muss Gedenken angesichts antidemokratischer Entwicklungen leisten? Was sagen Phantasien von „Re-Migration“ und das Erstarken rechtsextremer Parteien über die deutsche Erinnerungskultur aus? Und welche Lehren hat unsere Gesellschaft tatsächlich aus der Vergangenheit gezogen? Es geht in diesen Fragen im Kern um unser Geschichtsbewusstsein – und die Frage, wie ernst wir alle es mit diesem tatsächlich meinen.

Die Frage nach der konkreten Gestaltung des Gedenkens wird auch in Zukunft hitzige Debatten entfachen. Was bereits jetzt feststeht: eine erfolgreiche Erinnerungspraxis weist beständig auf die Diskrepanzen zwischen dem staatlich gepflegten Selbstbild der „geläuterten“ Nation und der Realität der kontinuierlichen Gewalt und Verdrängung hin. Sie setzt die konkrete Benennung von Verbrechen gegen die Forderungen nach einem „Schlussstrich“ und gegen das Erstaunen, dass „doch noch nicht alles aufgearbeitet ist.“


Weitere Informationen

„Der Tod ist ständig unter uns“ wird bis zum 1. September 2024 in den Räumen des Augustaschachts in Hasbergen zu sehen sein. Zum Begleitprogramm der Ausstellung gehören vorab zu buchende Führungen und Workshops für Gruppen und Schulklassen. Die Öffnungszeiten der Gedenkstätte sind von Dienstag bis Samstag, jeweils von 14 bis 17 Uhr, sonntags von 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen zur Ausstellung und Kontaktmöglichkeiten können der Homepage der Gedenkstätte entnommen werden: http://www.gedenkstaetten-augustaschacht-osnabrueck.de/.

 

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