Carl Meyer, der Osnabrücker Fußball und der Jüdische Sportverein – 1. Teil
Engagierter Sportler als Opfer antisemitischer Hetze (hier geht es zum 2. Teil)
Er war kein Fußballstar, aber ein Mensch, der sich für den Fußballsport begeisterte. Und er war Jude. Anfangs noch Mitglied in einem nationalistisch ausgerichteten Turn- und Sportverein, war er nach dem frühen Rausschmiss bereits Mitte der 1920er Jahre unter den ersten Mitgliedern des neu gegründeten SV Ballsport Eversburg von 1925 und zugleich Initiator der Gründung des Jüdischen Sportvereins Osnabrück im Jahre 1924. Die Rede ist von Carl Meyer, dessen Werdegang im Osnabrücker Sport hier beschrieben werden soll.
„Onkel Carl war Fußballschiedsrichter“, erzählte mir sein Neffe Erwin Voss, als ich ihn 2011 in Buenos Aires besuchte. Diese Mitteilung kam überraschend. Die Vorstellung, dass Carl Meyer, ein Jude, etwas mit Fußball zu tun gehabt haben könnte, machte neugierig. Was genau hatte Carl Meyer im Osnabrücker Fußball gemacht, war er nur Schiedsrichter oder hat er selbst Fußball gespielt?
Im größten Verein der Osnabrücker Leibesübungen – Osnabrücker Turnverein
Carl Meyer wurde 1896 als erstes von sechs Kindern des jüdischen Viehhändlers David Meyer und seiner Frau Sophie in Badbergen-Grothe, einem Ort im Osnabrücker Nordland, geboren. Seine Mutter betrieb in Badbergen ein Hutgeschäft, während der Vater als Schlachter und Viehhändler arbeitete und später sogar als Vorsitzender des „Vereins der Viehhändler für den Regierungsbezirk Osnabrück e. V.“ fungierte. Sohn Carl machte später eine kaufmännische Lehre und arbeitete in Hörde bei Dortmund als Kaufmann im jüdischen Kaufhaus Blank, von dem es in Osnabrück eine Dependance gab.
Im Oktober 1920 kam Carl Meyer nach Osnabrück. Er war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 24 Jahre alt und damit im besten „Fußballeralter“, wie man heute sagen würde. Ein Jahr später heiratete er Clara Hess und wohnte mit ihr zunächst am Kamp 16 bei den Schwiegereltern. In dieser Zeit kam Carl Meyer in Kontakt mit den führenden Schichten der jüdischen Gesellschaft. Sein Schwiegervater Jonas Hess erleichterte ihm durch seine Verbindungen zur Synagogengemeinde den Zugang zum jüdischen Establishment in Osnabrück. Seine berufliche Tätigkeit für den auch in Osnabrücks bürgerlichen Kreisen anerkannten Delikatessen- und Feinkosthändler Julius Cantor brachte Carl Meyer auch mit anderen jüdischen Persönlichkeiten in Kontakt. Auch wenn es dafür bisher keine Belege gibt, war es naheliegend, dass Carl Meyer bei seiner Begeisterung für Leibesübungen dem größten Zusammenschluss, dem Osnabrücker Turnverein von 1861 – kurz OTV, beitrat. Dieser Verein war „im gehobenen Bürgertum“ verankert. Und ihm gehörten neben Kaufleuten, Fabrikanten, Handwerksmeistern und Beamten auch die einflussreichen jüdischen Familien Nussbaum, Flatauer und Löwenstein an, die sich zum Teil auch finanziell im Verein engagierten, wie wir aus Akten im Niedersächsischen Landesarchiv Osnabrück erfahren. Der OTV, ein reiner Turnverein und ursprünglich sogar ein reiner Männerturnverein, konnte sich bald nicht mehr dem auch in Osnabrück auf dem Vormarsch befindlichen Fußballsport verschließen.
Vereinsmäßigen Fußball gab es in Osnabrück seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie wir aus der Beschreibung der Entstehungsgeschichte des Osnabrücker Fußball in dem sehr lesenswerten Buch „Fußlümmel und Lila-Weiße“ des Osnabrücker Historikers Heiko Schulze erfahren. Danach war am 17. April 1899 der „Fußballclub 1899“ als erster Fußballverein gegründet worden. Ihm folgten nur wenige Jahre später neben dem „FC Teutonia 03“ und dem „FC Olympia 06“ viele weitere Vereine. Doch schon der Weltkrieg von 1914 bis 1918 hemmte nicht nur in Osnabrück die Entwicklung dieses noch relativ neuen Sports, sondern erforderte auch eine Neuorientierung. Fußballer hatten im Krieg ihr Leben lassen müssen oder waren als Kriegsversehrte zurückgekehrt. Folglich hatten manche Vereine nicht mehr genügend Spieler, um den Spielbetrieb wieder aufnehmen zu können. Daher entschlossen sich die Vereinsverantwortlichen zu Zusammenschlüssen mit anderen Vereinen. „Die beiden Fußballvereine, in denen sich hauptsächlich die Osnabrücker Jugend zusammengefunden hatte, der FC Teutonia und der FC Olympia, litten wie kein anderer Vereine unter der wilden Kriegsfurie. So blieb den jungen heimkehrenden Olympen und Teutonen kaum ein anderer Ausweg als der Zusammenschluß“, heißt es weiter. Als ,Spiel und Sport‘-Abteilung fanden sie Anschluss an den Osnabrücker Turnverein, unter dessen Namen sie starteten. Leiter dieser Abteilung wurde der bekannte und von vielen geschätzte Osnabrücker Turn- und Sportlehrer Ernst Sievers, der zugleich als Übungsleiter fungierte. Sievers war im Jahre 1904 kurz nach der Gründung Mitglied des FC Teutonia geworden und spielte lange Jahre in der ersten Fußballmannschaft, schreibt er in seinem Lebenslauf. Als Abteilungsleiter „Spiel und Sport“ rückte er auch in den Vorstand des OTV auf und wurde sogar in den Gauvorstand des Gaues Osnabrück der Deutschen Turnerschaft gewählt.
Von Horst Höveler erfahren wir in seinem Buch „100 Jahre Sport in Osnabrück“, dass die neuformierte „Spiel und Sport“-Mannschaft des OTV den noch bestehenden Fußballplatz hinter dem „Schweizer Haus“ an der Lengericher Landstraße (heutige Rheiner Landstraße) bezogen hatte und sofort in die Meisterschaftsspiele eingriff. Das 3:1, mit dem die damals starke Arminia Bielefeld aus dem Felde geschlagen wurde, sei die erste Sensation im Osnabrücker Fußballsport nach Kriegsende gewesen. Der Mannschaft gelangen aufsehenerregende Erfolge gegen deutsche Spitzenmannschaften, die zum Teil sogar Nationalspieler in ihren Reihen hatten.
Carl Meyer wird in dieser Phase dem Treiben der Fußballer anfangs noch beobachtend beigewohnt haben und so nach und nach sich auch entsprechend seinen Möglichkeiten im aktiven Fußballspiel ausprobiert haben. In den überlieferten Mannschaftsaufstellungen, wie beispielsweise in der Dokumentation „Osnabrücker Sport. Turnen und Sport in zwei Jahrhunderten“ des ehemaligen Osnabrücker Sportamtsleiters Herbert Willecke taucht der Name Carl Meyers allerdings nicht auf.
Exkurs: Ausschluss von Juden und Demokraten aus dem OTV
Es dauerte nur wenige Jahre bis die alte Rivalität zwischen Turnern und Fußballern wieder aufkeimte und dazu führte, dass innerhalb des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen fortan keine Doppelmitgliedschaften von Vereinen in Sportfachverbänden wie dem im Jahre 1900 gegründeten Deutschen Fußballbund und der Deutschen Turnerschaft mehr zulässig waren. In der Folge kam es zur Spaltung zahlreicher Turnvereine in reine Turnvereine einerseits und in Sportvereine wie Fußballklubs andererseits.
„Der kurze, aber heftige Kompetenzstreit, der dann zwischen der Leitung des OTV und den Männern von ,Spiel und Sport‘ entbrannte, endete schließlich damit, daß sich die Fußballabteilung vom OTV ablöste und unter dem Namen ,Spiel und Sport‘ e. V. die Tradition der Teutonen und Olympen fortsetzte. An der Augustenburg im Katharinenviertel wurde schnell ein geeigneter Platz gefunden, der „geräumig genug war und eine gute Rasennarbe hatte“, heißt es bei Höveler weiter.
In Osnabrück kam noch ein weiterer Aspekt hinzu, den Ernst Sievers so beschreibt: „Schon bald nach dem Weltkriege begannen die sogenannten ,Nationalen‘ Kreise in Osnabrück die Hetze gegen alle demokratisch Gesinnten. Eine führende Stellung nahm der Osnabrücker Turnverein ein. Dieser Verein der Deutschen Turnerschaft hatte die finanziell am sichersten stehenden Juden (z. B. Flatauer, Nussbaum) als Mitglieder geworben und zu großen Geldspenden veranlasst. 1923 tarnte sich die als staatsfeindlich verbotene ,Orgesch‘ (Organisation Escherich) als ,Fechtabteilung‘ des Osnabrücker Turnvereins unter der Leitung von Fritz Frömbling sen. (verstorben) und Wilhelm Pattberg, Heinrichstr. 43. Die Abteilung ,Spiel und Sport‘ des Osnabrücker Turnvereins, die zu 90 % aus Demokraten bestand, wurde aus dem Osnabrücker Turnverein ausgeschlossen. Ich war s. Zt. ,Sportlicher Leiter‘ dieser Abteilung. Die Judenhetze in Osnabrück begann auch im Osnabrücker Turnverein, der im Jahre 1924 alle Juden ausschloss.“
Seifenfabrikant Frömbling und der Erzberger-Mord
Nach überlieferten Gerichtsakten der Staatsanwaltschaft Osnabrück, die im Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Staatsarchiv Freiburg, lagern, verkehrte der Fabrikant und Vereinsvorsitzende Fritz Frömbling im rechtsextremen Freikorps-Milieu. Frömbling und zwei seiner Kameraden aus Osnabrück, Landwehr und Hagedorn, wurden vorübergehend festgenommen, weil man ihnen eine Verstrickung in den von einem Angehörigen des Freikorps verübten Mord an dem Zentrums-Politiker Matthias Erzberger im August 1921 vorwarf.
Das SPD-Parteiorgan Der Vorwärts berichtet in seiner Ausgabe vom 11.08.1922 unter der Überschrift „Ein deutschnationales Mördernest“, dass sich der in der bayrischen rechtsextremen Szene verkehrende Willy Hörnlein „an das deutschnationale Parteisekretariat in Osnabrück mit der Angabe [gewandt hat], daß er an der Ermordung Erzbergers beteiligt sei und über die Grenze müsse. Der deutschnationale Parteisekretär Landwehr, der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Henning und die deutschnationalen Fabrikanten Meyer und Frömbling taten sich dann zusammen, um Hörnlein zur Flucht zu verhelfen. Meyer und Frömbling gaben Geld.“ Folgt man der Darstellung in dem Zeitungsartikel, „floss“ sogar mehrfach Geld, um Hörnlein mit einem Fotoapparat auszustatten und ihn getarnt als „,Wiener Journalisten‘ über die Tiroler Grenze zu schaffen.“ Schließlich entschlossen sich Meyer und Frömbling, den deutschnationalen Parteisekretär Landwehr nach Bayern zu entsenden, um Hörnlein vor Ort bei der Flucht zu unterstützen. Kontaktmann in Bayern war der rechtsradikale Major a. D. Kriebel. Als Legitimation diente „eine Visitenkarte Frömblings, die in der Mitte zickzackförmig auseinandergeschnitten wurde.“ Die eine Hälfte wurde Kriebel per Post zugeschickt, die andere Hälfte musste Landwehr bei seiner Ankunft vorzeigen. Erst danach konnten er und andere Helfer Hörnlein über die Grenze nach Österreich bringen. Wilhelm Hörnlein wurde am 31. Oktober 1921 in der Steiermark tot aufgefunden, durch einen Kopfschuss getötet.
Auch wenn Frömbling schon bald wieder freigelassen wurde, da seine Mittäter- oder Mitwisserschaft nicht nachgewiesen werden konnte, untermauern die Ermittlungsakten die rechtsextreme und antisemitische Gesinnung des Turnführers. Der Staatsanwaltschaft gegenüber hatte er als Kontaktmann in München Hermann Kriebel angegeben, einen engen Weggefährten Adolf Hitlers und Mit-Beteiligten am Putschversuch 1923. Heinz Landwehr, der mitangeklagte Osnabrücker Parteisekretär der Deutschnationalen Volkspartei und enger Freund Frömblings, gab zu, am Tag nach dem Erzberger-Mord gesagt zu haben: „War das denn nicht schön, wie Erzberger seinen dicken Bauch dahin hielt und von 12 Kugeln durchbohrt wurde? So muss es kommen, die ganze Judenbagage muss noch dran glauben, Wirth und Rathenau und die ganze übrige Judengesellschaft.“ Ein erster Schritt zu dieser Prophezeiung war in Osnabrück mit dem Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus dem Osnabrücker Turnverein bereits 1924 vollzogen.
Felix Löwenstein schloss sich zusammen mit dem demokratisch eingestellten Sportlehrer und späteren SPD-Mitglied Ernst Sievers dem ausgegliederten Verein „Spiel und Sport“ an, der im April 1925 mit dem BV 99 Osnabrück zum VfL Osnabrück fusionierte, dem Vorläufer des heutigen Profivereins.
morgen um 18.00 Uhr folgt der zweite Teil