Montag, 1. Juli 2024

75 Jahre Grundgesetz – 75 Jahre Recht auf Kriegsdienstverweigerung

 

1949: Hans Wunderlich, Osnabrücks „Vater des Grundgesetzes“, war Redakteur der Osnabrücker Rundschau

Am 23. Mai feiert das demokratische Deutschland ein besonderes Ereignis. 75 Jahren zuvor ist das Grundgesetz (GG) beschlossen worden, das in seinen zentralen Bausteinen bis heute in Kraft ist. Ein wichtiger Punkt, der das GG stark von Verfassungen anderer demokratischer Staaten unterscheidet, beinhaltet das Recht, den Armeedienst mit der Waffe zu verweigern. Das Besondere daran: Mit Hans Wunderlich zählt ein früherer Redakteur der Osnabrücker Rundschau und wackerer Demokrat zu jenen, die das Grundgesetz beschlossen und in herausragender Weise für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gestritten haben. Grund genug, angesichts aktueller Debatten zur Wiedereinführung der Wehrpflicht an den Osnabrücks Verfassungspionier zu erinnern.


75 Jahre sind vergangen

Schauplatz Bonn. Im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte wird die zunächst „vorläufige“ Verfassung für die Bundesrepublik erarbeitet. Als „Grundgesetz“ wird es schließlich vom Parlamentarischen Rat verabschiedet. Der für den Text zuständige Rat bildet für die drei Westzonen das erste demokratische Gesamtparlament, das zuvor in den elf deutschen Länderparlamenten gewählt worden ist. Die Abgeordneten tagen von September 1948 bis Mai/Juni 1949. Oft gibt es Einheit und den Aufbruchwillen in eine neue Zeit. Trotzdem wird um viele einzelne Artikel recht kontrovers, teilweise unversöhnlich gestritten. Ein Beispiel dafür ist die von der Sozialdemokratin Elisabeth Selbert mühevoll durchgesetzte Gleichberechtigung von Mann und Frau (Artikel 3 Abs. 2). Stimmberechtigt bleiben allein 65 Abgeordnete der westlichen Besatzungszonen. Fünf Abgeordnete aus West-Berlin dürfen diskutierend mitwirken, aber nicht mit abstimmen.

Am Ende der leidenschaftlichen Debatten, der Kalender zeigt auf den 8. Mai, es ist mittlerweile der vierte Jahrestag der Befreiung vom Nazi-Faschismus, wird das Grundgesetz mit 53 Ja- und 12 Neinstimmen verabschiedet. Die Ablehnung kommt von je zwei Abgeordneten des Zentrums, der Deutschen Partei sowie der KPD. Auch sechs von acht CSU-Abgeordneten stemmen sich gegen den vorgelegten Grundgesetz-Text. Bis zur Verkündung am 23. Mai hängt alles noch von der Zustimmung der Länderparlamente und von der Genehmigung der Militärgouverneure der Westzonen ab. Alle Parlamente sagen „Ja“ – mit Ausnahme des bayerischen Landtags.


Provisorium mit Dauerstatus – inklusive antikapitalistischer Artikel

Das gesamte Gesetzeswerk soll solange als Provisorium gelten, bis die Teilung Deutschlands ihr Ende findet. Anschließend, so wollen es die Verfassungseltern, soll es durch eine Verfassung ersetzt werden, welche sich die Menschen in ganz Deutschland in freier Selbstbestimmung geben sollen. Dieses Bekenntnis, das wissen wir alle, hat sich nach 1990 durch das Kohl‘sche Festhalten an westlichen Gesetzeswerken, bis heute nicht verwirklicht.

Trotzdem: In den 40 Jahren Verfassungspraxis der Bundesrepublik hat sich das Grundgesetz als ein echtes Erfolgsmodell erwiesen. Daran ändern auch gelegentliche Mäkeleien aus den Reihen der FDP und neoliberal gestrickter Unions-Sprecher nicht, die am liebsten die im Grundgesetz fixierte Sozialverpflichtung des Privateigentums (Art. 14 Abs. 1) sowie die Möglichkeit, Unternehmen im Gemeininteresse zu vergesellschaften, bis heute als pures sozialistisches Teufelswerk ansehen. Akteuren wie Christian Lindner scheint es Schaum vor den Mund zu treiben, wenn dort in Artikel 15 zu lesen ist: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Die Hoffnung aus Verwirklichung dieses Artikels stirbt zuletzt.


Die Kriegsdienstverweigerung

Über etliche Jahrzehnte ist Konservativen ein weiteres Grundrecht ein spitzer wie massiver Dorn im Auge: Es ist der Artikel 4, Absatz 3. Er lautet: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“

Der Ablehnung folgen später Taten: Nachdem die allgemeine Wehrpflicht durch die Unions-geführte Adenauer-Regierung – im Jahr des KPD-Verbots – ab 1956, damals gegen heftigen Widerstand der SPD-Opposition, ebenso vollzogen ist wie der Beitritt zur NATO, höhlen Konservative, Liberale – aber auch konservative Sozialdemokraten – das Grundrecht zur Kriegsdienstverweigerung (KDV) jahrzehntelang aus. Jeder, der einen Verweigerungsantrag gestellt hat, muss sich einer zermürbenden Gesinnungsprüfung vor einem KDV-Ausschuss unterziehen, was für etliche, die diesen Gesinnungstest in den Ohren ihrer Prüfer nicht bestehen, Zwangsrekrutierung bis Gefängnis bedeuten. Der Autor dieses Artikels hat sich einst 1973 zum eigenen Glück erfolgreich durch das Gesinnungsgremium gekämpft und durfte dann für 18 Monate „Ersatzdienst“ im Krankenhaus machen.


KDV: die Vorgeschichte

Führen wir uns die Vorgeschichte der Kriegsdienstverweigerung vor Augen. Schon in der Weimarer Republik (1919-1933) hat es innerhalb demokratischer Bewegungen eine Vielzahl von Bestrebungen gegeben, der dort immer wieder neu diskutierten und von Rechtskräften ersehnten Einführung der allgemeinen Wehrpflicht einen Riegel vorzuschieben. In den Jahren 1927/28 kann allein die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) etwa 224.000 Selbstverpflichtungen zur Kriegsdienstverweigerung für den Fall einer befürchteten erneuerten Wehrpflicht sammeln. Aktive Verfechterin dieser Linie ist zu diesem Zeitpunkt im Übrigen auch die Osnabrücker Sozialdemokratin und Landtagsabgeordnete Alwine Wellmann, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg Gründungsmitglied der Osnabrücker DFG gewesen ist. Politisch sind derartige Kampagnen in der Weimarer Zeit allerdings noch fast wirkungslos, da der Versailler Vertrag die Wiedereinführung einer deutschen Wehrpflicht ohnehin verboten hat.

Anno 1935 ist dann schließlich seitens der Nazi-Regierung die Wehrpflicht mit Gründung der Wehrmacht im Deutschen Reich wiedereingeführt worden, um den späteren Weltkrieg vorzubereiten: Kriegsdienstverweigerern drohen seither schwere Zuchthausstrafen wegen Wehrkraftzersetzung – später sogar die Einweisung in ein KZ – und bei Festhalten ihrer Verweigerung am Ende auch die Todesstrafe. Dennoch hat es bis 1945, heute vielfach vergessen, etwa 8.000 Verweigerer des Dienstes in Hitlers Wehrmacht gegeben.


Lehren aus dem Kriegsinferno

Nach dem Zweiten Weltkrieg lautet die vielfach vertretene Parole „Hände weg von der Waffe!“. Ein Recht auf individuelle Kriegsdienstverweigerung wird in den Landesgesetzen von Bayern, Hessen (1947) und Baden-Württemberg sowie in der Verfassung von Berlin (1948) festgelegt. Weitere Länderverfassungen sehen bis dahin zumindest eine generelle Ächtung des Krieges vor. Nach diesen Vorbildern beantragt die SPD im April 1948 im Parlamentarischen Rat konsequenterweise die Aufnahme eines Absatzes zur Kriegsdienstverweigerung, der nach heftigem Streit tatsächlich – gegen viele konservative und liberale Stimmen – angenommen wird.

Erst Jahrzehnte später, anno 2011, wird die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt werden. Eine Kriegsdienstverweigerung ist von nun an aber weiter, unabhängig von der Umstellung der Bundeswehr auf eine Berufsarmee, möglich. Selbst angesichts der aktuellen Debatte zur Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht, aktuell gefordert vom CDU-Bundesparteitag, dürfte das per Grundgesetz gesicherte Recht auf Kriegsdienstverweigerung Bestand haben.


Redakteur der
Osnabrücker Rundschau will Waffendienst verhindern

Foto: Archiv OR

Zurück in die Nachkreigszeit: Unter den neun vom niedersächsischen Landesparlament gewählten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates zählt auch der Osnabrücker Journalist und Sozialdemokrat Hans Wunderlich (1899-1977). Im Jahre 1946 hat der gebürtige Münchner zur Kernredaktion der ersten demokratischen Lokalzeitung der Nachkriegszeit, der Osnabrücker Rundschau, gehört. Nun ist er Redakteur der Nordwestdeutschen Rundschau, einer SPD-nahen Tageszeitung mit Osnabrücker Lokalteil. Wunderlich ist einer von vier Sozialdemokraten des neu entstandenen Bundeslandes. Weit entfernt von ihm, auf der rechten Seite des Hauses, sitzen zwei CDU-, ein FDP- sowie zwei Vertreter der nationalkonservativen Deutschen Partei. Akribisch und leidenschaftlich bringt sich der Osnabrücker außerhalb des Plenums als Mitglied des Ausschusses für Grundsatzfragen ein.

Vergeblich bleibt dort Wunderlichs aktiver Einsatz gegen die Wiedereinführung des traditionellen, vom Obrigkeitsstaat übernommenen Berufsbeamtentums. Womöglich ahnt er dies schon zu jenem Zeitpunkt: Die Wiedereinsetzung zigtausender ehemaliger Nazis in der deutschen Beamtenschaft durch den späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer wird zu einer unerträglichen Bürde der jungen deutschen Demokratie werden.

Ein Ziel treibt Wunderlich trotzdem besonders um und ist mit schmerzhaften eigenen Erinnerungen verknüpft. Denn den Ersten Weltkrieg und das dortige Massensterben hat der junge Wunderlich noch bis 1918 hautnah als Kriegsfreiwilliger in blutgetränkten Schützengräben mitgemacht, diesen Schritt für sein restliches Leben tief bereut und mit einem lauten „Nie wieder!“ verknüpft. In der Weimarer Zeit ist er lange Jahre Redakteur bei der 1933 verbotenen SPD-Tageszeitung Freie Presse und bezieht dort stets in zahlreichen Artikeln aktiv gegen Nationalismus und Militarismus eine klare Position. Die NS-Zeit kann er nach der Machtübergabe an die Nazis, auch mit versteckten Widerstandstätigkeiten, im westfälischen Lienen verbringen und sich dort beruflich als Gärtner, Obstpflanzer und Geflügelzüchter durchschlagen.


Im Geiste der „Eekenpacht“

Auch weitere Erinnerungen dürften Wunderlich kommen, während er an den Diskussionen im Parlamentarischen Rat zur Zukunft des Landes teilnimmt: In Lienen-Holperdorp hat er seit 1933 mit Gleichgesinnten die Nutzung der sogenannten „Eekenpacht“ organisiert. Dies ist ein Kotten, in dem sich oppositionelle Sozialistinnen und Sozialisten über viele Jahre hin illegal während der NS-Zeit getroffen, eine Bibliothek mit verbotener sozialistischer Literatur unterhalten und sich regelmäßig zu tagesaktuellen Fragen wie über die „Zeit danach“ ausgetauscht haben. Das unscheinbare Gebäude hat eine winzige Oase im tiefbraunen Umfeld gebildet – und zugleich als Ideenwerkstatt für ein künftiges, demokratisch-sozialistisches wie antimilitaristisches Deutschland.

Im Krieg hat es Wunderlich zum eigenen Glück geschafft, vom lebensvernichtenden Frontdienst verschont zu werden. Umso heftiger und nachdrücklicher setzt er sich nun in Plenum und Ausschuss-Sitzungen des Parlamentarischen Rates für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein. Als es beschlossen wird, feiert er mit weiteren Unterstützern einen stillen Triumph. Dass der seinerzeit erhoffte Weltfrieden später durch Wiederaufrüstung, Atomwaffen und Kalten Krieg, heute durch die aggressive Rolle Russlands ersetzt wird, kann der Osnabrücker zum Zeitpunkt der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 nicht einmal erahnen.

Mehr zu Hans Wunderlich und seine Rolle als beherzter Kämpfer gegen den Nazi-Terror ist hier nachzulesen.

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