Freitag, 3. Mai 2024

Auf dem Weg zu Wischi-Waschi-Regierungen?

Ein pessimistischer Ausblick auf kommende Wahlen

Angesichts der wachsenden Stärke der AFD hängt über zahlreichen der kommenden Wahlen eine Art Damoklesschwert: Was ist, wenn „normale“ demokratische Lager keine Koalitionen mehr untereinander bilden können? Stehen wir vor Dauerkonstellationen in Form von Regierungsbündnissen, deren Partner im Grunde kaum etwas miteinander am Hut haben? Kurzum: Nicht nur Deutschland steht, vom demokratischen Standpunkt aus, vor schwierigen Entscheidungen.


Parteien-Disput, wie er sein sollte

Was macht eine lebendige Demokratie aus? Es ist der leidenschaftliche Streit um Grundrichtungen und Visionen demokratischer Parteien in unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Lagern. Im Grunde sind, um es einmal bewusst vereinfacht auf den Punkt zu bringen, die Kontraste einfach zu zeichnen:

Sollen künstliche Schuldengrenzen, Steuererleichterungen für Reiche, Privatisierungen, Kürzungen sozialer Leistungen, Lockerung des Kündigungsschutzes, minimaler Mindestlohn und karge Arbeitslosenunterstützung wie auch reduzierte Renten, Stopps bei der Aufnahme Geflüchteter, Bewahrung des dreigliedrigen Schulsystems, Gesundheitsleistungen nach privater Kassenlage, Privatschulen bis hin zur Neubelebung der Kernenergie und Schulterzuckungen beim Klimawandel die Agenda bestimmen? Wählerinnen und Wähler, die hier leuchtende Augen bekommen, dürfen gern ihr gewohntes Kreuz bei CDU-CSU oder FDP machen.

Rote beider Parteien und Grüne sollten, zugegeben, nicht unbedingt von ihrer oft kritikwürdigen Regierungspraxis, aber zumindest doch von ihrem visionären Selbstverständnis her, für das glatte Gegenteil konservativ-liberaler Politik stehen. Rote und Grüne sind im Kern für eine Lockerung der im internationalen Vergleich geradezu irrsinnigen Schuldenbremse. Sie sind für höhere Steuern von Reichen und Umverteilung zugunsten Ärmerer, für Kündigungsschutz, Mitbestimmung und einen Ausbau des Sozialstaats, für höhere, existenzsichernde Arbeitslosenunterstützung und sichere Renten, für faire Migrationspolitik, für klassenlose Gesundheitsleistungen und Bildungsangebote nach dem Prinzip der Chancengleichheit. Rotgrüne stehen für den zählbaren Ausbau regenerativer Energien bis hin zur Forcierung von echten Maßnahmen gegen den Klimawandel.

Warum verfolge ich diese Aufzählung eigentlich bekannter Profile und Programmpunkte? Es sind die berühmten Klassiker, die – eigentlich – die Wahlentscheidung bis hin zur Bildung von Koalitionen entscheiden sollten.

Lehnt man sich angesichts der Ausgangsanalyse zurück und sinniert, darauf aufbauend, über Regierungskoalitionen auf allen Ebenen, schließen sich eigentlich nicht nur GroKo-Bündnisse, sondern auch Ampel-Konstruktionen aus. Und zwar auf allen Ebenen. Bildet man angesichts der grundlegenden demokratischen Differenzen trotzdem gemeinsame Kabinette, pflegt das heraus zu kommen, was Volkes, meinetwegen auch Volkers Stimme, als „Wischiwaschi“ bezeichnen.


Anrennen gegen die Front Deutscher Pfründesicherer (FDP)

Die derzeitige Bundesregierung macht eines verdienstvoll: Sie führt alltäglich vor, wie „Wischiwaschi“ gemacht wird. Das Hecheln nach einem Minimalkonsens führt immer mehr dazu, dass allen Beteiligten die Puste ausgeht. Der Streit, ob man Maßnahmen gegen Kinderarmut finanziert oder die Taschen der Reichen, wie Christian Lindner dies erträumt, weiter füllt, ist exemplarisch für aktuelle Regierungsdispute. Ob Mindestlohn, Ehegattensplitting, Temporeduzierung für Porsche-Fahrer bis hin zu notwendigen Sondervermögen für einen ökologisch-sozialen Umbau, wie ihn derzeit selbst Joe Biden in den USA vollzieht: „Nicht mit mir!“, schallt es aus dem Lindner-Ministerium.

Soll man darüber verzweifeln? Hätte man bei der Bildung dieser Regierung jemals etwas Anderes erwarten können? Wohl kaum! Die Einsicht in das Eintreffen des Erwartbaren ist selbst Unbedarften leicht zu erklären: Eigentlich passen Rotgrün und FDP nicht zueinander. Jeder entscheidende Schritt einer sozial-ökologischen Erneuerung der deutschen Wirtschaft scheitert an der Front Deutscher Pfründesicherer, wie sich die FDP eigentlich ausschreiben sollte. Bescheidene Kompromisse, beispielsweise beim Einwanderungsrecht, beim Selbstbestimmungsrecht der Geschlechter oder bei der beabsichtigten Legalisierung von Cannabis, zeigen zumindest auf, dass nicht jedes Mühen vergeblich ist. Und ja: Die unselige GroKo der Vergangenheit war zu keiner Sekunde eine bessere, sondern die noch weitaus schlimmere Alternative. Kompromisse auf Minimalniveau bedeuten beide Konstellationen, Wischiwaschi eben.

Das letzte Aufblinken einer streitbaren Demokratie bildete das überschaubare Bundesland Bremen. Eine satte Mehrheit für Rot-Grün-Rot und das Fehlen einer „echten“ AFD in der Bürgerschaft wird garantieren, dass man sich mit konservativen Demokrat*innen in den nächsten Jahren trefflich darüber streiten kann, ob und wie ein sozial-ökologischer Umbau, der Bedürftige statt Privilegierte im Auge hat, klappt. Auf deutsch: mehr tun für beitragsfreie Kitas, barrierefreie Schulen, sozialen Wohnungsbau, umweltzugewandte, fahrrad- und ÖPNV-freundliche Verkehrspolitik. Alles wird im armen Kleinstaat nicht einfach. Aber die Konturen stehen. Glückliches Bremen.

Auch Berlin hätte ohne Probleme als Chance sozial-ökologischer Umgestaltung hinzuzählen können. Leider hat sich hier, nach äußerst knapper innerparteilicher Abstimmung, die Giffey-Linie durchgesetzt, um sich einer Hardcore-CDU an den Hals zu werfen – und dem kopfschüttelnden Publikum eine Art SPD-Selbstmord aus Angst vor dem Tode vorzuführen. Die wohl ärgerlichste Wischi-Waschi-Konstellation der letzten zehn Jahre.


Stärke der AFD – Sargnagel für die demokratische Kultur?

Man muss nicht nur Umfragen und kommunale Wahlergebnisse der jüngsten Zeit studieren, um zu einer Erkenntnis zu gelangen: Kaum etwas macht eine Partei, die auch ein faschistisches Erbe pflegt, stärker als das Wischiwaschi demokratischer Kräfte. Je mehr Widersprüche sich in Regierungskabinetten gegensätzlicher demokratischer Parteien auftun und je weniger dabei zugunsten der Menschen herauskommt, desto stärker werden jene, die ihren Wählerinnen und Wählern das Gegenteil jeder humanen Politik versprechen: Ausländer raus! Weg mit allen Maßnahmen gegen den Klimawandel! Ein Hoch der Atomenergie! Ende mit den „System-Medien“! Ständische Gliederung der Volksvertretungen statt „Parlamentarische Quasselbuden“.

Niemand muss in eine Glaskugel schauen, um den Ausgang künftiger Wahlen voraus zu sagen. Als nächstes wählen die Bürgerinnen und Bürger am 8. Oktober 2023 in Bayern. Hier könnte es ein allerletztes Mal zu einem Ergebnis kommen, das Rotgrüne, wie auch den Verfasser dieser Zeilen, zwar furchtbar nervt, aber auch von ihm aus Respekt vor den Wählenden geschluckt werden muss: CSU und die AFD-Light-Version der „Freien Wähler“ werden sich erneut zusammenfinden und fortsetzen, was in Bayern seit rund 60 Jahren gepflegt wird: Stabilisierung des CSU-Amigo-Systems, aber zumindest, ohne Konkurrenz Putin- oder Erdogan-technisch ins Gefängnis zu befördern.

Bedrohlicher sieht es bei weiteren Wahlen aus: Wahlberechtigte in Hessen werden ebenfalls bald wählen. Im September des Folgejahres werden Wählende in Sachsen, Thüringen und Brandenburg bestimmen, wer in die jeweilige Landesregierung stellt. Weder in Hessen, erst recht nicht in Thüringen dürften die dort Regierenden hoffen können, dass die bisherigen Regierungsparteien eine absolute Mehrheit behalten. Allenfalls im Hessenland könnten Schwarzgrüne sich mit Ach und Krach retten – und schwarzgrünes Wischiwaschi der bisherigen Art fortsetzen, ohne dies mit roter Farbe einzumischen. Verbessern dürfte sich bei derartigen Konstellationen nirgendwo etwas. Und in Thüringen? Hier müsste die CDU ihren Lackmustest bestehen, irrationale Ängste gegenüber den Linken einzustellen – um auch mit ihnen eine rot-schwarz-rot-grüne Landesregierung zu bilden. Der Not geschuldet und allein deshalb gebildet, natürlich mit Recht, um eine AFD-Beteiligung, überdies mit einem Faschisten Höcke an der Spitze, an der Regierung zu verhindern. Was aber wird nach diesem zweifellos ehrenwerten Ziel folgen? Die berühmten kleinsten Nenner, die jedes politische Profil verwischen. Motto: Alles ist besser als eine AFD-Beteiligung – was natürlich stimmt! Dennoch steht die Frage: Was kommt qualitativ dabei heraus? Kleinste gemeinsame Nenner unter Demokraten. In Brandenburg gibt es dies schon und könnte sich ebenfalls fortsetzen. Anders gesagt: Wischiwaschi.

Stellen wir uns mal vor, die Dispute innerhalb der Bundesregierung verschärfen sich in der Weise, dass es Neuwahlen gibt. Die Performance der aktuell Regierenden und jene der Union könnten real dazu führen, dass es angesichts einer gewachsenen AFD urplötzlich in Berlin eine CDUCSU-FDP-SPD-Grüne-Regierung gibt. Kompromisse nicht nur zwischen Habeck, Scholz und Lindner, sondern auch noch mit Merz und Dobrindt. Schauerlich! Lesende erraten, was daraus aus Autorensicht folgte: ein noch heftigeres Wischiwaschi als bisher.


Eine andere Flanke: die Wagenknecht-Partei

Eine bislang völlig unbeleuchtete Variante wäre jene Parteineugründung, die offenbar Sarah Wagenknecht und sehr wenige andere aus der bisherigen Linkspartei erwägen. Bereits jetzt darf vorausgesagt werden, dass eine solche Partei zumindest eines erreicht: Die bisherige Linkspartei wäre liquidiert, flöge wohl künftig aus den allermeisten Parlamenten, verlöre ihren Fraktionsstatus im Bundestag und käme anlässlich künftiger Wahlgänge mangels parlamentarischer Existenz nirgendwo mehr als verlässlicher rot-grüner Regierungspartner infrage. Klar: Das angedeutete Thema wäre eine intensivere Erörterung wert. Hier soll es nur als weiteres Problem angedeutet werden. Ergebnis wäre jedenfalls auch in jenem Szenario ein Dauergrusel. Nämlich einer mit der Zukunftsvision, dass man sich Regierungsoptionen nur noch in den Varianten GroKo, Allparteienbund, Schwarzgrün, Jamaika oder Ampel vorstellen kann. Motto: Ein Wischiwaschi kommt immer.


Gibt es Alternativen? Ein schwedisches Modell muss nicht für immer scheitern

Klar: Eine Alternative, die allen Demokratinnen und Demokraten leuchtende Augen beschert, wäre ein so drastisches Absinken der AFD, dass sie nicht mehr an irgendeiner Stelle Regierungsbildungen beeinflussen kann – und eine Linkspartei, die, wie bislang immer, verlässlicher Bündnispartner für Rotgrün ist, ohne durch Wagenknecht gespalten zu werden. Die Republik bestünde wieder aus Regierungen, die sich entweder aus ökologisch-sozialen oder aus neoliberalen Weltanschauungen speisten. Leider ist all dies realistisch nicht zu erwarten – und die unsägliche Debatte um „kleinere Übel“, in der bisherigen Diktion ausgedrückt, jene um Wischiwaschi-Varianten beginnt.

Eine machbare Alternative zu dieser Gefahr für eine von Streitkultur lebende Demokratie bildete noch vor wenigen Jahren ein schwedisches Modell: Dort gibt es bereits seit etlichen Jahrzehnten das stets funktionierende Modell von Minderheitsregierungen. Selbst, als dies vor Jahren in die Krise geriet, hatten sich alle demokratischen Parteien, von den Konservativ-Moderaten, der Zentrumspartei und den Liberalen, über die Christdemokraten und Sozialdemokraten bis zu Grünen und Linkspartei – auf ein festes Verfahren nach Reichstagswahlen verständigt. Die Regel dazu lautete, dass diejenige Bündnisformation, die von beiden Lagern die stärkere ist, eine Minderheitsregierung bildet, die das jeweils andere Lagers toleriert. Zumindest führte dies dazu, dass keines der jeweiligen Lager ihr Selbstverständnis aufgeben müsste. Zumindest hat diese Regelung einige Jahre recht ordentlich geklappt und trug erfolgreich dazu bei, die menschenverachtenden sogenannten „Schwedendemokraten“ aus der Regierung herauszuhalten.

Bei schwedischen Konservativen, Christdemokraten und Liberalen ging dann irgendwann das Zähneknirschen dermaßen auf das eigene Zahnfleisch, dass sie sich zu einem Bündnis mit jenen Rechtsextremen entschlossen, damit die letzten Wahlen gewannen und nunmehr die Regierung stellen. Auf deutsch übersetzt: Die Union würde kippen und mit der AFD Regierungen bilden. Eben dies ist in Schweden passiert.


Europäische Ungemütlichkeit

Schweden ist damit leider nicht allein. Es beginnt in Europa zunehmend ungemütlich zu werden. Allerorten kommen zunehmend AFD-Zwillinge an die Regierung! Bei manchen Vergleichen erscheint Deutschland sogar noch als harmlos. Regierungsbündnisse mit AFD-Schwesterparteien zählen katastrophalerweise mittlerweile sogar zum europäischen Alltag. In Schweden, Finnland, Italien, bald wohl auch Spanien, womöglich auch in Österreich oder gar den Niederlanden könnten bald  derartige Bündnisse zwischen CDU-CSU-Schwesterparteien und Neofaschisten regieren. Und in Polen wie Ungarn bestimmen Regierende zumindest einen überaus verwandten Kurs, wie er bei einer AFD-Beteiligung droht: eben kein Wischiwaschi, sondern knallharte Pfründesicherung, Nationalismus, Migrantenhass, Aushebelung des Parlamentarismus, Gefärdung rechtsstaatlicher Grundsätze, Planierung der Pressefreiheit und Intoleranz gegen Andersdenkende.

Es bleibt zu hoffen, dass die deutschen Unionsparteien, die mit ihrer aktuellen, durchaus vorbildlich zu nennenden Abgrenzung gegenüber der AFD innerhalb ihrer europäischen Gesamtpartei EVP beinahe schon isoliert sind, bei ihrem Kurs bleiben. Insofern wäre Wischiwaschi sogar ein kleineres Übel – bliebe aber dennoch ein Übel. Oft fehlt schlichtweg die Alternative. Doch eines stirbt zuletzt: die Hoffnung auf bessere Zeiten. Und eine aktive Zivilgesellschaft, die sozial-ökologischen Fortschritt von unten erstreitet, könnte ja auch noch manches richten. Es liegt also an uns allen.

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