Freitag, 3. Mai 2024

Calmeyer, die Ambivalenz und der Respekt vor den Opfern

Symposium zu Hans Calmeyer im Osnabrücker Rathaus

Die städtische Meldung zum Calmeyer-Symposium der letzten Woche hat die Osnabrücker Rundschau bereits vollständig dokumentiert.
Wichtig war darin besonders die Neuigkeit, dass der Wissenschaftliche Beirat zur Benennung der Villa im Museumsquartier alsbald mehrere Namensvarianten präsentieren will. Laut TAZ kündigte der Beiratsvorsitzende, Professor Alfons Kenkmann, an, dass dies bis zum Jahresende erfolgen müsse.
Eher sehr knapp wurde in der stadtoffiziellen Darstellung allerdings auf den inhaltlichen Verlauf des Symposiums eingegangen. Die OR füllt diese Lücke gern aus.


Worum es ging

Calmeyer um 1940

Worum ging es beim oft verschobenen und somit lang ersehnten Symposium im Kern? Bekannt ist: Die Benennung historischer Häuser, von Straßen oder Plätzen nach umstrittenen Personen produziert immer wieder kontroverse Debatten. Dies gilt umso mehr, wenn die Person, um die es dabei geht, in ihrem Wirken ambivalent erscheint. Hans Calmeyer, um den es ging, hat in seiner Funktion im NS-Verwaltungsapparat in Den Haag vor Kriegsende zweifellos viele Menschen vor dem Tod bewahrt. Zugleich trägt er aber auch hohe Mitschuld für die Deportation anderer ins Todeslager. Hat er es tatsächlich verdient, dass die Villa des Museumsquartiers künftig nach ihm und seinem Wirken benannt wird?

Ein Symposium im Osnabrücker Rathaus sollte Antworten auf diese Frage geben. Am Ende bleibt alles eine Frage, „die noch qualmt“, wie dies der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats zur Benennung des Hauses, Alfons Kenkmann, angelehnt an die renommierte US-Historikerin Barbara Tuchmann, bereits zum Beginn des Symposiums sehr treffend ausdrückte.


Facettenreicher Diskurs

Formen und Dimensionen der Resilienz unter Deutscher Besatzung 1939-1945 nannte sich die am Freitag beendete zweitägige Zusammenkunft, welche gemäß Einladung des Museumsquartiers das offizielle Ziel verfolgte, das Handeln Hans Georg Calmeyers im Kontext des deutschen Besatzungsregimes konturieren und einordnen zu können.

Um es vorweg zu nehmen: Der Autor dieses Beitrags ist engagiertes Mitglied der „ILEX-Gruppe“, die sich gegen eine Hausbenennung nach Hans Calmeyer stellt und im Gebäude stattdessen vorwiegend Menschen präsentiert sehen möchte, die sich von Beginn an unter Einsatz des eigenen Lebens dem NS-Terror entgegenstellten. Nicht umsonst hat der ILEX-Kreis eine Denkschrift mit den Namen von rund 105 Menschen veröffentlicht, die allesamt und ohne Vorbehalte für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus einstanden. Diese Position vertrat die Gruppe natürlich während der Diskussionen auch auf dem Symposion.

Gleichwohl soll in diesem Beitrag zumindest versucht werden, auch anderen, ebenso legitimen Sichtweisen einer berechtigten Debatte gerecht zu werden.

Ein beachtlich gefüllter Ratssitzungssaal und noch mehr per Videoschaltung hinzugeschaltete Gäste sorgten jedenfalls für einen facettenreichen Diskurs. Erwartungsgemäß prallten die Ansichten insbesondere angesichts der Frage, ob die Villa des Museumsquartiers zukünftig „Hans-Calmeyer-Haus“ heißen und vorwiegend sein Wirken im besetzten Den Haag der Kriegsjahre präsentieren soll, schroff aufeinander. Besonders emotional ging es zu, wenn verhärtete historische Sichtweisen aufeinandertrafen und insbesondere durchaus nahegehende Zeitzeugenberichte eine Rolle spielten, in denen Calmeyer entweder als Retter oder als Täter gesehen wurde.

In Rede steht jene, von Calmeyer geleitete „Entscheidungsstelle“ in Den Haag, der „unklare Fälle“ etwaiger „jüdischer Abstammung“ vorgelegt wurden. Eine Akzeptanz der Widersprüche gegen die Registrierung bedeutete in aller Regel das Überleben, eine Bestätigung der Einstufung als Menschen jüdischer “Rasse“ den nahezu sicheren Tod im KZ.


Start mit Gegensätzen

Nichts hätte die aktuelle Kontroverse um die Hausbenennung konkreter ausdrücken können als Sichtweisen, die Calmeyer-Biograf Mathias Middelberg (CDU-MdB) und danach die niederländische Journalistin und Historikerin Els van Diggele vortrugen.

Middelberg belegte detailliert die Erkenntnisse aus seiner Promotionsschrift, in der aufgelistet wurde, welche juristischen Mittel der Osnabrücker Jurist in Den Haag seinerzeit nutzte, um – nach Middelbergs Erhebung – gut zwei Drittel der Calmeyer vorgelegten „Zweifelsfälle“ im Sinne der Betroffenen zu entscheiden. Das Reichssippenamt Berlin habe zeitgleich nur eine Quote von rund 7% anerkannt. Methoden wie der Nachweis angeblich „arischer“ Väter infolge von „Seitensprüngen“ hätten zahlreiche Menschenleben gerettet.

Die niederländische Historikerin Els van Diggele beeindruckte mit einem engagierten Vortrag. Foto: ORDie niederländische Historikerin Els van Diggele beeindruckte mit einem engagierten Vortrag. Foto: OR

Van Diggele, Autorin eines Buches über den „Fall Femma Fleijsman-Swaalep“, besetzte die Gegenposition: Die in den Niederlanden hohes Aufsehen erregende Ausarbeitung, die dort auch als Filmfassung hohe Wellen schlug, dokumentierte eine brutale Kehrseite der Calmeyer-Bilanz. Offenkundig gab es, wie im Fall der KZ-Überlebenden Femma Fleijsman-Swaalep, zahlreiche Betroffene, deren Weg seinerzeit aufgrund eines Ablehnungsbescheids der Calmeyer-Behörde direkt ins KZ führte. Nachweisbar ist laut Diggele, dass insbesondere Angehörige aus der Arbeiterklasse, die weder hohe Anwaltskosten aufbringen noch komplizierte Formulare ausfüllen konnten, kaum eine Chance besaßen, mit ihren Rettungsversuchen Gehör zu finden.

Eine Kontroverse zwischen Middelberg und van Diggele entpuppte sich als besonders markant: Während Middelberg ganz selbstverständlich davon ausging, dass Calmeyers gesamtes Handeln von der Intention zur Rettung geprägt gewesen sei, waren van Diggele wie spätere Vortragende gänzlich anderer Ansicht. Calmeyer, das hob van Diggele bereits frühzeitig hervor, sei keinesfalls Mitarbeiter des Reichskommissariats geworden, um „Rettungsarbeit“ zu leisten, sondern habe sich aus eigenem Antrieb aktiv um eine Stelle beworben, die der Judenverfolgung diente und sich nachweisbar über die Gewinnung dieses Postens gefreut.

Als informativ stellte sich gegen Ende der ersten Vortragsrunde die Darstellung des Frankfurters Johannes Winter dar, der sich mit einem vormaligen Mitarbeiter Calmeyers, Georg Wander, auseinandersetzte. Letzterer wird in den Niederlanden bis heute unbestritten verehrt, zumal er am Ende als Mitglied der niederländischen Widerstandsbewegung von den Nazis ermordet wurde.


Echo in den Niederlanden …

Van Diggeles Buch hat, diese Information wurde im Symposium wiederholt in Erinnerung gerufen, in den Niederlanden eine unglaubliche Resonanz erfahren, hinter die sich Verantwortliche in Osnabrück bis heute nicht einfach wegducken können. Alfred Edelstein hat über alles die erwähnte Filmdokumentation für das niederländische Fernsehen gedreht, die wie das Buch Diggeles ein imposantes Echo fand. Filmisch festgehalten wurde dabei auch eine aufsehenerregende Demonstration in Osnabrück. Fleijsman-Swaaleps Nachkommen persönlich hatten vor rund zwei Jahren vor der „Villa Schlikker“ mit Plakaten und Handzetteln ihre tiefe Empörung gegen eine mögliche Hausbenennung nach Calmeyer zum Ausdruck gebracht. Immerhin: Eine vielbeachtete Petition an Bundeskanzlerin Angela Merkel trug vor gut zwei Jahren die Unterschrift von 260 Professoren vieler Staaten, Hochschulen und Fachrichtungen, Anwälten, Rabbinern, Holocaust-Überlebenden und renommierten Künstlern. Initiiert wurde die Petition vom bekannten Philosophieprofessor Johannes Max van Ophuijsen und dem Journalisten Hans Knoop.


… und im Symposium

Dass sich anhand der beiden kontroversen Sichtweisen beide Pole auch im mitdiskutierenden Plenum spiegelten, war kaum überraschend. Karin Jabs-Kiesler, ehemalige Osnabrücker Bürgermeisterin, sah ebenso wie Ex-OB Hans-Jürgen Fip keinerlei Grund, vom bisherigen Ratswillen zugunsten einer Hausbenennung nach Calmeyer abzuweichen. Schließlich sei bereits eine Schule nach ihm benannt worden. Des Weiteren, so Fip, habe man dem Juristen wohlüberlegt anno 1995 die Mösermedaille als höchste Auszeichnung der Stadt verliehen. Calmeyer sei „Antitäter“. Ihn gelte es künftig keinesfalls als Helden, sondern auch in seiner inneren Zerrissenheit darzustellen.

Der niederländisch Soziologe Martin Sijes, Mitunterzeichner der genannten Petition und Sohn eines NS-Verfolgten, stellte dagegen fest, dass er die positive Einschätzung Calmeyers durch die Geretteten wie Robert van Galen oder Laureen Nussbaum, die per Live-Audio-Einspielung mit ihrem Plädoyer für ein Calmeyer-Haus zu Wort kam, sehr wohl verstehe und respektiere. Doch Calmeyer habe bis 1944 mit dem NS- Reichskommissar für die Niederlande, Arthur Seyß Inquart, eben auch darüber diskutiert, wie man Untergetauchten die ohnehin kargen Essensrationen weiter verringern könne: „Das war das Essen meines Vaters!“ stellte er fest. Von einem Calmeyer-Haus zu reden sei daher „Arroganz“, weil es die Leiden seiner Opfer ignoriere. Sijes nannte eine Namensnennung nach Calmeyer „einen großen Fehler“ und warnte dringend vor den Folgen für das Verhältnis mit den Niederlanden. Wenn man Calmeyer ehre, akzeptiere man den Tod von Menschen.

Dem schloss sich später auch die frühere Osnabrücker Bürgermeisterin Lioba Meyer an, die den Wandel ihrer ursprünglich positiven Haltung zur Hausbenennung angesichts neuer Erkenntnisse offen zugab und sich am Ende „aus Respekt vor den Opfern“ gegen eine Namensnennung nach Calmeyer aussprach.

Auch Martin Sabrow, per Zoom zugeschalteter letzter Vortragender des ersten Tages, maß der „moralischen Kraft“ der Aussage von Sijes Gewicht zu und warnte vor der offensiven Implementierung eines ambivalenten Namens. Ehrungen vertrügen keine Ambivalenz. Eine Namensnennung habe bei einem Museum aber eindeutig Ehrungsfunktion.


Zweiter Tag

Am Freitag standen Themen auf dem Programm, welche die Thematik in einem größeren Zusammenhang abrunden sollten. Zur Beantwortung der zentralen Ausgangsfrage konnten sie aber nur bedingt beitragen.

Zum Thema „Dokumentenfälschung durch den Polizeipräsidenten Angelos Evert in Athen“ referierte per Video-Zuschaltung Maria Vassilikou, die dort das Jüdische Museum Griechenlands in Athen leitet. Einen Blick auf das von der Reichswehr besetzte Polen gewährte Christiane Goos aus Göttingen. Der offizielle Titel ihres Referats lautete „Ich habe mich geschämt, dass ich zu denen gehöre“. Rettungswiderstand in der Wehrmacht im besetzten Polen 1939–1945. Ihr schloss sich Ulrike Jureit vom Hamburger Institut für Sozialforschungen, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ mitgearbeitet hat und zum Thema „Ausgemusterte Helden? Zum Umgang mit ambivalenten Wirklichkeiten in erinnerungskulturellen Diskursen“ sprach. Vor der Abschlussdiskussion gab es noch einen „Ausflug in das langsame Denken“, wie es die Vortragende Bettina Stangneth aus Hamburg nannte, die einen ganz anderen Blickwinkel auf das Thema öffnete. Von Pflicht und Neigung, die Schuld eines Anderen zu erkennen – eine philosophische Intervention lautete die tiefsinnige wie unkonventionell wirkende Ansprache der Philosophin.

Nach Ansicht von Alfons Kenkmann sollte generell nicht die Namensgebung des Hauses, sondern die Bildungsarbeit im Vordergrund stehen. Man müsse verhindern, dass das Erziehungssystem „Janas aus Kassel“ produziere. Ulrike Jureit stellte, in die gleiche Kerbe schlagend, fest, dass man sich anhand solcher Ergebnisse fragen müsse, wie erfolgreich die letzten 30 Jahre in der Bildungsarbeit gewesen seien: „Jugendliche können mit dem vermeintlich positiv besetzten Begriff der Erinnerung wenig anfangen, der zu ihnen keinen Bezug mehr hat.“ Sie stellte fest, dass in Deutschland in den letzten 30 Jahren die Opfer im Mittelpunkt standen und die Auseinandersetzung mit Tat und Tätern stark im Hintergrund stand. „Ist dies möglicherweise ein Grund, warum Calmeyer bisher ausschließlich als Retter gesehen wurde?“, mochte sich angesichts dieser Fakten so manche Person im Publikum fragen.

Als eine Kernfrage kristallisierte sich immer wieder jene heraus, ob es um die politische Frage der Namensgebung und das Stadtmarketing gehe oder um die bestmögliche Art der Vermittlung an junge Menschen. Insbesondere die Calmeyer-Initiative mit ihrem Sprecher Joachm Castan sprach in eigenen Beiträgen immer wieder von einem „Alleinstellungsmerkmal“.

Positionen wie diese untermalten, was Bettina Stangneth zuvor in ihrer philosophischen Intervention deutlich gemacht hatte:

Jedes Urteil über ein Handeln ist ein Bekenntnis.


Finales Podium mit eindeutigem Meinungsbild

Prosoziales Handeln während des Zweiten Weltkriegs – Potenziale für eine Pädagogik der Gegenwart? lautete die Fragestellung, der sich in der Abschlussrunde der Jurist Robert van Galen aus Amsterdam, Dr. Gerhard Hirschfeld aus Stuttgart, Lioba Meyer aus Osnabrück, der Philosoph Johannes Max von Ophuijsen aus Amsterdam und Moderator Alfons Kenkmann aus Leipzig stellten.

Der Philosoph van Ophuijsen, Mitinitiator der oben erwähnten niederländischen Petition gegen die Hausbenennung nach Calmeyer, griff das Interesse junger Menschen auf:

Am Ende würde mit einem solchen Haus eine rein moralische Überzeugung geäußert. Gerade, weil viele Schülerinnen und Schüler eher wenig aus der Historie wissen, schadet ein Calmeyer-Haus allein schon wegen dessen Ambivalenz.

Der Amsterdamer Jurist Robert van Galen sieht in einem Calmeyer-Haus dagegen Gold für Osnabrück, das glänzend zu machen ist. Ergreift man die Chance nicht, wird man es später bereuen. Der niederländische Widerstand dagegen sein zu vernachlässigen, weil die damalige Petition viele ohne ausreichendes Wissen unterschrieben hätten.

Lioba Meyer betonte nochmals ihr eigenes Dazulernen:

Ich bin offen hergekommen. Und Calmeyer bleibt für mich das Vorbild für eine besondere Form des Widerstands. Ich habe aber ebenso Hochachtung vor den Opfern. Deshalb muss es für mich nicht Calmeyer-Haus heißen.

Auch wohl im Hinblick auf die seitens der ILEX-Gruppe aufgearbeiteten Widerstands-Biografien ergänzte sie: Ich möchte unbedingt, dass neben Calmeyer auch andere Biografien in diesen Kontext gestellt werden.

Der renommierte Historiker Gerhard Hirschfeld brachte auf den Punkt, weshalb er in besonderer Weise gegen ein Hans-Calmeyer-Haus ist:

Wir wissen nicht, wie sich die Forschung entwickelt. Nichts ist peinlicher, als Benennungen wegen neuer Erkenntnisse zurückdrehen zu müssen.

Ganz am Ende durfte das Publikum seitens der Podiumsmitglieder somit ein eindeutiges 3:1-Votum erleben, für das es natürlich kein Handaufheben gab.

Ein besonderes Zitat hatte sich Diskussionsleiter Alfons Kenkmann nach dem Vortrag der Philosophin Bettina Stangneth zum Nachdenken für das gesamte Plenum aufgeschrieben. Das ursprünglich geplante Calmeyer-Haus dürfte, folgte man dieser Aussage, deshalb keine Chance auf eine Realisierung haben:

Nur was wir gemeinsam ehren können, kann uns zusammenhalten.

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