„Der ambivalente Herr Calmeyer“

Uraufführung in der Lagerhalle: Neuer Film von Reiner Wolf spiegelt die unveränderte Kontroverse

Entscheidungen, die Hans Calmeyer in seiner NS-Funktion bis kurz vor Kriegsende im niederländischen Den Haag veranlasst hat, bleiben bis heute ein Reizthema. Hat er zielgerichtet eine Vielzahl von Menschen gerettet? Oder war er doch aktiver Teil der faschistischen Besatzung und hat viele Unschuldige auf dem Gewissen? Und dann am Ende die Frage um ein „Calmeyer-Haus“: Hat der Osnabrücker Jurist aufgrund vieler Menschen, die ihn bis heute als ihren Lebensretter betrachten, mehr Recht auf eine Hausbenennung als andere, die von Beginn an Widerstand gegen die Nazis geleistet haben? Mehr als Menschen, die Verfolgung, Haft, Folter erleiden oder sogar sterben mussten?

Die Kontroverse über diese zentralen Fragen hält unvermindert an. Und das ist gut so: Geschichte darf nie dazu beitragen, Akteure kritiklos zu heroisieren. Jetzt hat der Osnabrücker Reiner Wolf im Namen des Vereins für Kleinkunst, Kultur und Bildung e.V. einen umfassenden Film zur Calmeyer-Debatte gemacht, der am letzten Dienstag in einer beeindruckend gefüllten Lagerhalle präsentiert wurde. Es lohnt sich ungemein, ihn anzuschauen.


Worum es geht

Blicken wir zurück: Hans Calmeyer (1903 -1972), Osnabrücker Rechtsanwalt, bewarb sich nach der Besetzung der Niederlande durch die faschistische Wehrmacht erfolgreich um eine Funktion  im Reichskommissariat Niederlande, die er unbedingt einnehmen wollte. Danach hatte er an entscheidender Stelle über das Widersprüche von Menschen gegen einen „Rassebescheid“ zu entscheiden, denen aufgrund ihnen unterstellter jüdischer Wurzeln die Deportation in Vernichtungslager drohte.

Weitgehend unstrittig ist bislang, dass Calmeyer deutlich mehr Widersprüche verfolgter Menschen gegen ihre Erfassung als „Juden“ anerkannte als ablehnte. Aber reicht diese Bilanz aus, ein Museum, das NS-Zeit dokumentiert, nach Calmeyer zu benennen und sich damit international zu präsentieren? Der Osnabrücker Rat hat dies – allein gegen den Widerstand der CDU-Fraktion – ausdrücklich verneint. Wolfs Film jedoch zeigt: Auch nach dieser eindeutigen Entscheidung dürfte die Debatte weitergehen – Haus hin, Haus her. Dies wird auch darin zu begründen sein, dass die historische Figur Calmeyer facettenreich in der Villa präsentiert werden soll – ambivalent eben.


Was zu sehen ist

„Der ambivalente Herr Calmeyer. Chronik einer umstrittenen Ehrung“ nennt sich das Filmwerk, das Reiner Wolf in Kooperation mit dem Kamera- und Tonexperten Mias König und mit der Musik-Untermalung von Christian Pradel geschaffen hat. Ungemein viel Zeit musste investiert werden, um ein riesiges Spektrum von Protagonist*innen unterschiedlicher Sichtweisen zu Wort kommen zu lassen. „Am schwersten war der Verzicht auf viele interessante Interviews, weil das Werk sonst viel zu lang geworden wäre“, räumte Wolf gegenüber der OR ein.

Zu Anfang lässt der Filmmacher vorwiegend „Ehrungsbefürworter“ wie den Buchautor Mathias Middelberg, seines zeichens auch CDU-MdB sowie Joachim Castan, ebenfalls Filmemacher, Autor und Sprecher der Hans-Calmeyer-Initiative zu Wort kommen. Beide kommen nicht umhin, die Pionierarbeit des früheren SPD-Ratsmitglieds Peter Niebaum zu würdigen, ohne den es die späteren Forschungsergebnisse wahrscheinlich nie gegeben hätte. Die hohe Gewichtung dieser Erkenntnisse mag auf den ersten Blick einseitig erscheinen, ist aber sachlich geboten: Niebaum, später auch Castan wie Middelberg haben sich – Kritik an ihren Schlussfolgerungen einmal ausgenommen – verdient damit gemacht, Methoden und Vorgehensweisen Calmeyers sehr detailliert anhand vorgefundener Akten und Zeugenaussagen zu beleuchten. Diese Vorinformationen sind für alle Kontrahent*innen nötig, um die zentrale Frage, in die am Ende alles mündet, mit Fakten der Befürworter eines „Calmeyer-Hauses“ zu unterlegen. Filmisch festgehaltene  Auftritte der beiden in öffentlichen Foren ergänzen die Interview-Aussagen.

Es währt jedoch nicht lang, um auch völlig andere Sichtweisen zu vernehmen. In die Niederlande reiste Wolf, um vor laufender Kamera ausführlich mit Geraldien von Frijtag Drabbe Künzel zu sprechen, die 2007 für die Stadt Osnabrück ein umfangreiches Gutachten erstellt hat. In diesem wiederum werden recht unterschiedliche Bewertungen zur Tätigkeit Calmeyers dokumentiert. Gemeinsam analysieren Wolf und Frijtag Drabbe Künzel vor der Kamera beispielsweise ältere Videos, auf denen sich Calmeyers Ex-Mitarbeiter Jaap van Proosdij (1921-2011) sehr kritisch – und aus nächster Nähe betrachtet – mit Calmeyer und der damaligen Verwaltungspraxis unter dem Osnabrücker Juristen befasst.

Hin und her geht es zuweilen mit Zahlenangaben. Hat Calmeyer – so Castan – rund 78% der zu überprüfenden Menschen vor der Deportation bewahrt oder waren es – wie es Frijtag Drabbe Künzel andeutet – wesentlich weniger? Weit deutlicher in ihrer kritischen Haltung werden im Anschluss die beiden Filmschaffenden Els van Diggele und Alfred Edelstein. Els van Diggele ist sowohl Journalistin wie Historikerin. Ihr Thema, dokumentiert in einem Buch sowie in einem vielbeachteten, mit Edelstein produzierten niederländischen Fernsehfilm, ist das Schicksal von Femma Fleijsman-Swaalep. Mitte April 2020 war dazu in den Niederlanden van Diggeles Buch „Das Rätsel von Femma – Beute eines Menschenretters“ erschienen – und anschließend von Edelstein auf die TV-Bildschirme gebracht worden. Gezeigt wird darin die Lebensgeschichte der damals noch sehr jungen Amsterdamer Auschwitz-Überlebenden, die Calmeyer auf Grundlage der Indizien offenkundig – Grund war ein katholischer Vater – vor der Deportation hätte retten können. Exakt dies hat er aber – angeblich – bewusst unterlassen. Castan und Middelberg verweisen dagegen auf die bekannte Schauspielerin Camilla Spira, die trotz offenkundig falscher Angaben von der Calmeyer-Behörde als „arisch“ erklärt worden ist. Was ein wichtiges Argument van Diggelens und Edelsteins bleibt: Fleijsman-Swaaleps Vater war einfacher Arbeiter, der sich offenkundig keinen versierten Rechtsanwalt für seine Tochter leisten konnte. Er dürfte nicht der einzige gewesen sein, dem derartige Wege aufgrund der eigenen Klassenzugehörigkeit verschlossen waren.

Empirisch – wie bislang keine zweite Person – hat sich die von Wolf ebenfalls befragte Petra van den Boomgaard im Rahmen ihrer Promotion mit der umfassenden Aktenlage befasst. Ihr Buch ist bislang nur in den Niederlanden erschienen. Nahezu alle vorfindbaren Fälle hat sie bei ihren Recherchen dokumentiert – positive wie negative Bescheide. Besonders Boomgaard ist es, die aufgrund der Faktenlage die Ambivalenz Calmeyers ausgiebig belegen kann.

Ihr dokumentiertes Schicksal bildete einen Wendepunkt der Debatte zum "Calmeyer-Haus": Femma
Ihr dokumentiertes Schicksal bildete einen Wendepunkt der Debatte zum „Calmeyer-Haus“: Femma Fleijsman-Swaalep

Das Finale: Calmeyer-Haus, ja oder nein?

Es dauert nicht lange, da tritt, ebenfalls in seinem Büro in den Niederlanden, der Jurist Robert von Galen in Erscheinung. Er plädiert, auch auf Basis eines Buches seiner damals betagten Mutter jüdischer Herkunft, die Calmeyer als ihren Lebensretter sah, ausdrücklich für eine positive Wertung des Osnabrückers. Ganz anders dagegen argumentiert danach der niederländische Philosophie-Professor Johannes-Max van Ophuijsen. Dieser spricht zugleich für jene, ungemein breit getragene niederländische Initiative, die seinerzeit vor der Villa im Osnabrücker Museumsquartier vernehmlich gegen dessen geplante Benennung in ein Hans-Calmeyer-Haus demonstrierte. Es war die gleiche Initiative,welche die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel spektakulär aufgefordert hatte, alles gegen eine Benennung des Gebäudes nach Calmeyer zu tun. Nicht zuletzt das von Diggelen dokumentierte Schicksal des Arbeiterkindes Femma Fleijsman-Swaalep hatten Ophuijsen und seine Mitstreiter um den niederländisch-israelischen Soziologen Martin Siljes dazu bewegt, offensiv zu werden, um ein „Calmeyer-Haus“ unbedingt zu verhindern.

Van Ophuijsen bildet im Wolf-Film defacto die thematische Überleitung zur zentralen Frage, die Osnabrück zuletzt bewegte: Soll es in Gestalt des ehemaligen NSDAP-Hauses und vorherigen „Villa Schlikker“ in Osnabrück tatsächlich, trotz aller Kontroversen, ein „Calmeyer-Haus“ geben, wie es vor allem Castan unverändert vehement einfordert? Insbesondere hier hat sich der Verfasser dieses Artikels, die Doppelfunktion zwischen Autor und Mitdiskutanten darf hoffentlich nachgesehen werden, sehr häufig in längeren Filmsequenzen geäußert. Seine persönliche Haltung lautet: Nein, auf keinen Fall eine Haus-Benennung nach Calmeyer! Als Mitherausgeber der Sammelbiografie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ liegen dem Verfasser, wenn schon ein Name herhalten soll, zur Auswahl vorrangig jene Menschen des aktiven Widerstands am Herzen, die, oft schon lange vor 1933, gegen die Nationalsozialisten auftraten, oft verhaftet, misshandelt, gefoltert oder auch ermordet wurden.

Gut abgerundet wird die andauernde Kontroverse, indem gegen Filmende zumindest kleine Sequenzen aus dem wissenschaftlichen Forum im Ratssitzungssaal dokumentiert werden. Auf dem wiederum hatte sich eine eindeutige Expert*innen-Mehrheit gegen ein „Calmeyer-Haus“ ausgesprochen – angeführt vom Vorsitzenden eines Beirats zur Hausbenennung, dem angesehenen Professor für Geschichte, Alfons Kenkmann.


Filmisches

Beeindruckend am Filmwerk sind Szenenwechsel, unterschiedliche Kameraperspektiven, kontrastreiche, dennoch ruhig wirkende Hintergrundaufnahmen. Die Dramaturgie von der Sachaufklärung bis hin zur filmisch dokumentierten Ratsentscheidung zur Haus-Bennenung, untermalt mit Live-Stimmen im Rathaus, ist gut begründbar. Außenaufnahmen auf dem Heger Friedhof oder in den Niederlanden lockern auf. Eine Drohnenaufnahme über der Museumsvilla zählt ebenso zu optischen Highlights wie dokumentierte historische Sequenzen – unter anderem bewegende Aufnahmen aus dem KZ Westerbork..

Kleine kritische Anmerkungen sind angebracht, wenn zuweilen optische Reize das akustisch Gesagte in den Hintergrund stellt. Mensch kann sich halt nur auf eines konzentrieren. Wer sich optisch einfangen lässt, folgt dem Wort nicht. Und: Die englisch gehaltenen Interview-Aussagen, vorwiegend von Befragten aus den Niederlanden, sind bislang noch nicht mit Untertitel versehen, was weniger Englisch-Kompetente stören wird – aber künftig doch noch durch Untertitel ersetzt werden soll.


Wie es weitergeht

Die nächsten Aufführungen sind bereits geplant: Jeweils eine findet in der Gedenkstätte im Augustaschacht, eine weitere im neuen Museum statt, beide im Herbst. Auch die ARD produziert gerade eine Film zum selben Thema. Bis dahin sind die englischsprachigen Sequenzen wohl auch untertitelt. Filmmacher Wolf zur OR: „Ich würde mich freuen, wenn die Zuschauenden mit noch mehr Fragezeichen im Kopf aus dem Kino kommen als sie hineingegangen sind. Der Film soll ja noch weiterbeschäftigen.“ Dies wiederum dürfte er richtig sehen. Sobald im Herbst die neue Villa-Ausstellung im Museumsquartier eröffnet wird, ist der Startschuss zur neuen Debatte erfolgt. Und das ist gut so – für jede historische Debatte.

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