Bemerkenswerter Verweilpunkt im Museumsquartier
In meiner Kindheit warteten gut tausend zweifelhafter Männer darauf, von mir zum Spielen aus überfüllten Kartons geholt zu werden: Ritter, Cowboys, Indianer, Nord- und Südstaatler, Mexikaner, Römer und Germanen, Soldaten des Zweiten Weltkriegs und persönlich in Originaluniformen angepinselte Zinnfiguren für die Zeit des 18. Jahrhunderts. Alle liegen längst verstaubt auf dem Dachboden. Irgendwann vertrug sich meine antimilitaristische Grundhaltung nicht mehr mit den Waffenfreunden. Die Schlachten auf dem Teppich mussten ausfallen. Seit Freitag besitze ich zusätzlich einen ähnlich großen Unbewaffneten. Als „Landmesser“ durfte ich die Plastikfigur im geschätzten Maßstab 1:30 am Freitag legal aus unserem Museumsquartier entwenden. Einzige Bedingung für die Inbesitznahme war, dass ich einen Kommentar für die Präsentation auf Klebezettel an die Wand heften sollte. Gern geschehen! Seitdem guckt der Kerl mich nun zu Hause an.
#nichtmuedewerden: eine eindrucksvolle Werkschau für Frieden und Toleranz
Entwichen ist mein kleiner „Landmesser“ aus der örtlichen Ausstellung #nichtmuedewerden. Eröffnet ist die umfassende Präsentation, die OR hat das berichtet, seit dem 10. September 2023. Was ist zu sehen? Das Museumsquartier zeigt anlässlich der neuen Ausstellung naturgemäß extra zusammengestellte Nussbaum-Werke aus aller Welt, die allesamt mit „Widerstand“ zu umschreiben sind. Zusammengestellt werden sie, und das ist das Besondere, in einem gemeinsamen Reigen mit internationalen zeitgenössischen Kunstschaffenden. Dabei begegnen den Besuchenden berühmte Namen wie Francis Alÿs, Andreas Angelidakis, Yael Bartana, Candice Breitz, Mona Hatoum, Oscar Muñoz, Dan Perjovschi, Ariel Reichman, Nasan Tur, Ai Weiwei und Carrie Mae Weems. Alle befassen sich mit ihren medial gänzlich unterschiedlichen Arbeiten mit Themen wie Flucht und Vertreibung, Rassismus, Unterdrückung, Gewalt oder Entmenschlichung. Das Signal der Präsentation könnte angesichts der aktuellen Kriege in der Ukraine und in Israel/Gaza nicht laut genug gehört und gesehen werden: Ein starkes Signal für Frieden im 375. Gedenkjahr an den Westfälischen Frieden!
Castillos Merkpunkte
Der Verfasser dieses Beitrags ist vom oben genannten „Landmesser“ besonders beeindruckt. Kreiert hat ihn der spanische Künstler Fernando Sanchez Castillo, geboren 1970 in Madrid. Castillo ist in Osnabrück kein Unbekannter. Allseits bekannt ist Stadtwandernden seine Skulptur „Fountain of Wishes“, jene Bronzeskulptur eines urinierenden Polizisten unweit des Kaufhauses L&T, mitten im Fluss Hase unter der nach der Osnabrücker Partnerstadt benannten Çanakkale-Brücke. Gegenüber an der Schillerstraße steht der Haarmannsbrunnen. Im Volksmund heißt der bronzene Gesetzeshüter auch gern „Pinkelnder Polizist“ oder „Osnabrücks Manneken Pis“. Gewidmet worden ist der Beitrag von Castillo seinerzeit dem Kunstprojekt COLOSSAL, das anno 2009 zum 2000-jährigen Jubiläum der Varusschlacht im gesamten Osnabrücker Land zu unterschiedlichen künstlerischen Fußabdrücken geführt hat. Kann man einen Bewaffneten menschlicher darstellen als beim Erfüllen urmenschlicher Bedürfnisse? Oder ist das alles etwa albern? Allein die drastischen Dispute, die seit dem frisch aufgestellten „Pinkelmann“ in Osnabrück entfacht sind, sind nichts anderes ein zentraler Beitrag vorbildlicher Streitkultur – einem Wesensmerkmal für ein demokratisches Kunstverständnis.
Jetzt also ein „Grußverweigerer“
Jedes Kunstwerk besitzt eine Geschichte. Castillo sprang irgendwann ein Foto ins Auge, das 1936 geknipst worden ist. Anlass für die dort dokumentierte Menschenansammlung war seinerzeit der Stapellauf des Marineschulschiffes Horst Wessel. Man schrieb den 13. Juni 1936. Dabei hoben zum Höhepunkt der Großveranstaltung, als das Schiff zu Wasser gelassen und schrillend die Nationalhymne gespielt wurde, (fast) alle den rechten Arm zum “Hitlergruß”. Während jene überwältigende Mehrheit von Mitarbeitenden der Werft Blohm+Voss in Hamburg, Reichskanzler Adolf Hitlers war persönlich zugegen, die Arme zum “Deutschen Gruß” hebt, verschränkt ein einzelner Arbeiter widerborstig seine Arme. In der Berliner Ausstellung „Topographie des Terrors“ wird im Erläuterungstext zu dem Foto davon ausgegangen, dass es sich bei jenem „Grußverweigerer“ um August Landmesser gehandelt haben könnte. Möglicherweise zeigt das Bild aber auch einen anderen Mann. Eventuell, so meint es zumindest später dessen Tochter, handelt es sich beim Abgelichteten auch um den zur Zeit der Aufnahme 1936 bei Blohm und Voss in Hamburg beschäftigten Schlosser Gustav Wegert, der stets aus religiöser Überzeugung den Hitlergruß verweigert hat. Entscheidend ist, dass beide, Landmesser wie Wegert, entschiedene NS-Gegner waren. Landauer, anfangs sogar ein Hitler-Sympathisant, dessen jüdische Frau im KZ ermordet wurde und der selbst, nach mehrfachen Verhaftungen, im berüchtigten Strafbataillon 999 der Wehrmacht zu Tode kam, besaß nach unterschiedlichen Repressalien bereits sehr früh allen Grund für seine Verweigerung.
Egal, ob das Foto Landmesser oder auch Wegert zeigt: Castillo, so heißt es im Begleittext der Präsentation, „setzt dem ‚Hiltergruß-Verweigerer‘ ein Denkmal, das gleichzeitig zur Partizipation aufruft. Zusammen mit den Fragen nach Zivilcourage, Widerstand oder dem gesellschaftlichen Verständnis von Demokratie fordert es zum Handeln auf …“
Unten vor den Füßen des Betrachtenden erhebt sich eine imposante weiße Bodenplatte. Auf der stehen Tausende von kleinen „Landmessern“. Allesamt mit den überlieferten verschränkten Armen. Auf dem weißen Fundament erleben Besuchende jetzt, im Gegensatz zum Originalfoto, logischerweise keine Masse von willigen „Grußgebern“, sondern Tausende von kleinen „Grußverweigerern“. Kann es eine schönere Fantasie als diese Alternative für alle gedankenlos Jubelnden und Kopfnickenden dieser Welt geben? Heute wissen wir: Verweigerung und eigenständiges Denken gehören auch in einer Demokratie zu elementaren Grundrechten – wie die Luft zum Atmen. Klasse Ansatz, finde ich. Manche fassen womöglich den Mut, sich im Alltag einmal ähnlich zu verhalten, wenn gedankenlos ein kollektives Ja-Sagen eingefordert wird. Und hier? Zivilcourage wird ganz simpel thematisiert durch eine 8 cm große Plastikfigur. Kann man mehr haben?
Alles passt zur Gesamtausstellung
Castillos Beitrag passt also exakt zur Philosophie, die man anhand eines überlieferten Zitats Felix Nussbaum entwickeln und auch künstlerisch ausprägen kann. „Ich wehre mich und werde nicht müde“, hatte der in Auschwitz von Nationalsozialisten ermordete Osnabrücker Maler einmal gesagt. Jene Aussage gilt aktuell vor allem für das 25jährige Jubiläum des Felix-Nussbaum-Hauses. Treffender als die Verantwortlichen des Osnabrücker Museumsquartiers kann man die Intention der Gesamtpräsentation nicht ausdrücken. Auf der eindrucksvollen Homepage heißt es:
25 Jahre Felix-Nussbaum-Haus. 375 Jahre Westfälischer Frieden. Und: Unzählige ungelöste soziale Konflikte, humanitäre Krisen und Kriege. Weltweit. In einer Welt, in der weiterhin politische Repressionen gegenüber Andersdenkenden, die Folgen weltweiter Fluchtbewegungen aufgrund von Kriegen, sozialen Ungerechtigkeiten oder Umweltkatastrophen und deren Auswirkungen das Leben Vieler bestimmen, drängen sich Sorgen um die Aufrechterhaltung der Werte der Menschlichkeit, der Toleranz und des Respekts auf.
Worauf noch warten? Jetzt hin ins Nussbaum-Haus! Man sollte sich beeilen. Die gesamte Ausstellung ist noch bis zum 7. Januar 2024 zu sehen. Sie ist für Studis aufgrund des Kultursemestertickets kostenlos und entlockt, ermäßigte Preise ausgenommen, Besuchenden 8 Euro, die sich lohnen. Neugierige sollten schauen: https://www.nichtmuedewerden.de/
Und den kleinen Landmesser darf man ja schließlich umsonst mitgehen lassen. Allein das sollte die Visite wert sein.