Frieden in der Ukraine: Illusion oder machbar?

Informativer Austausch mit Peter Brandt im Haus der Jugend

„FRIEDEN SCHAFFEN!“ Großgeschrieben, kurz und prägnant war das Motto einer Einladung, mit dem IG Metall, Erich-Maria-Remarque-Gesellschaft und Osnabrücker Friedensinitiative am Donnerstagabend gemeinsam in das Haus der Jugend eingeladen hatten. Zentrales Thema war der Ukraine-Krieg und die Debatte über Möglichkeiten, das blutige Geschehen möglichst schnell zu beenden. Prominentester Gast und Hauptreferent war der Sozialdemokrat Peter Brandt, Sohn des früheren Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, vielgelesener Autor und vormals Lehrstuhlinhaber für Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Exakt 220 Zuhörerinnen und Zuhörer präsentierten das aufmerksame Publikum eines voll besetzten Saales im Haus der Jugend.


Begrüßung mit Wehmut

Nils Bielkine, 2. Bevollmächtigter der örtlichen IG Metall (Foto), begrüßte namens der drei veranstaltenden Organisationen das Publikum. In Erinnerung rief er dabei ein berühmtes Zitat Willy Brandts: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Formuliert hatte der das auf dem Höhepunkt der damaligen Friedensbewegung gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss am 3. November 1981. Nicht wenige im Saal empfanden leicht wehmütige Erinnerungen an die größte Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Bielkine versäumte es nicht, auch mit persönlichen Worten auf das aktuelle Thema der Zusammenkunft einzugehen: „Aus unseren internationalen Zusammenkünften kennen wir Kollegen in Russland und in der Ukraine, die für gemeinsame Werte stehen und sich jetzt womöglich in Schützengräben des Krieges aufeinander schießen müssen.“
Nach der Begrüßung oblag es dem stets souveränen Moderator Sören Hage, bekannt als vielgefragter Fragesteller des OS-Radios, den Gast Peter Brandt auf das Podium zu bitten.


Brandt: Chancen für Verhandlungen bestehen

Der Gastreferent begann mit einem geschichtlichen Rückblick. Ein Waffenstillstand, so der Historiker, müsse natürlich von beiden Seiten gewollt werden. Er setze meistens voraus, dass eine Vorverständigung darüber bestehe, wie ein Friedensschluss in Umrissen aussehen soll. Zuweilen, so seit 1953 in Korea, herrsche seitdem sogar ein Waffenstillstand ohne Friedensvertrag.

Dass Putin nicht über einen Frieden verhandeln wolle, bliebe bislang eine unbelegte Behauptung. Die seinerzeit von beiden Konfliktparteien in Istanbul ausgehandelten Regelungen sowie die Vorschläge Chinas, das unverändert auf ein baldiges Kriegsende dränge, habe Putin zuletzt bei Gesprächen mit afrikanischen Partnern demonstrativ hervorgehoben.

Zweifelhaft sei die gängige Behauptung, die Ukrainer würden „für unsere, also die westliche Freiheit kämpfen“. Russland sei zweifellos ein System, in dem Menschenrechte zunehmend verletzt würden. Daneben herrsche unzweifelhaft eine „imperiale Agenda der führenden Kreise“. Aber auch die Ukraine bleibe „eine oligarchisch-kapitalistische Gesellschaft, eine defizitäre Demokratie und ein defizitärer Rechtsstaat“.

1990 hätte die einmalige Chance für den Westen bestanden, beide Paktsysteme des Kalten Krieges, eventuell „durch längerfristige Verschmelzung der Strukturen von NATO und OSZE, in ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu überführen“. Seinerzeit habe die USA allerdings ausdrücklich an einer von ihr geführten NATO festhalten wollen. Umgekehrt habe sich in Russland durch die massive Erweiterung der NATO-Ostgrenze der Eindruck verfestigt, vom Westen betrogen worden zu sein. Es sei egal, ob dies berechtigt wäre. Entscheidend sei, dass dieses Gefühl dort schon traditionell weit verbreitet sei.

Verhandlungen könnten nur ohne Vorbedingungen und ohne vorherige Anerkennung territorialer Veränderungen stattfinden. Das weitere Verweigern von offiziellen Gesprächen mit der Putin-Regierung durch die Ukraine und den Westen wäre auch für andere globale Handlungsfelder fatal: „Wie will man beispielsweise ohne einen riesigen Flächenstaat wie Russland der globalen Umweltprobleme Herr werden?“


Podium der ehrlichen Aussprache

Angekündigt war dem Publikum auf der Bühne eine Sesselrunde mit Peter Brandt, SPD-MdB Manuel Gava, Linken-MdB Heidi Reichinnek, FDP-MdB Matthias Seestern-Pauly sowie CDU-MdB Andre Berghegger. Alle hatten ihr Kommen zugesagt. Grünen-MdB Filiz Polat und Matthias Middelberg hatten bereits zuvor erklärt, verhindert zu sein.

Erschienen waren am Ende allein Gava und Reichinnek. Dadurch fehlten im Fortgang mutmaßlich besonders die Sichtweisen aus CDU-, Grünen- und FDP, in deren Reihen sich die wohl vehementesten Anhänger fortgesetzten Kriegseinsatzes befinden. Gavas, Reichinneks wie Brandts Aussagen ließen dennoch in ihrer Facettenvielfalt kaum Wünsche offen.

„Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser wieder einmal ein falsches Bett zu graben versucht.“ Moderator Sören Hage nutzte zum Einstieg ein weiteres Zitat Willy Brandts, um dessen ältesten Sohn gleich zu Beginn der Diskussionsrunde nach dessen Selbstverständnis in der aktuellen Debatte zu fragen. Brandt nahm die Frage gern auf, um darauf hinzuweisen, dass er vor allem innerhalb der SPD mit seiner Sichtweise keineswegs allein dastehe. Bereits im März dieses Jahres hatte er mit zahlreichen weiteren bekannten Persönlichkeiten zu einer Friedensinitiative für die Ukraine aufgerufen. Bundeskanzler Scholz wurde in dessen Wortlaut aufgefordert, zusammen mit Frankreich insbesondere Brasilien, China, Indien und Indonesien für eine Vermittlung zu gewinnen, um schnell einen Waffenstillstand zu erreichen.

Zu den rund 200 Unterstützer*innen des Aufrufs, dies sei vom Autor dieses Beitrags nachgetragen, gesellten sich auch OR-Redaktionsmitglied Rolf Wortmann und IG-Metall-Bevollmächtigter Stephan Soldansky. Daneben gehören sehr prominente SPD-Mitglieder wie die früheren DGB-Bundesvorsitzenden Reiner Hoffmann und Michael Sommer, Norbert-Walter Borjans als vormaliger SPD-Bundesvorsitzender, der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bis hin zu Ulrich von Weizsäcker als Umweltwissenschaftler sowie Ex-EU-Kommissar Günther Verheugen zum breiten Unterstützerkreis.


Gava: „Kriegstüchtig nein, verteidigungsfähig ja!“

Brandts Anspielung auf die Weltlage bildete für den örtlichen SPD-Bundestagsabgeordneten Manuel Gava, im Bundestag besonders engagiert im Bereich internationaler Entwicklungszusammenarbeit, den idealen Anlass, um auf die global völlig andere Sichtweise auf den Konflikt hinzuweisen. „Wir müssen neue Kriege und immens steigende Rüstungsausgaben immer auch vor dem Hintergrund sehen, dass mittlerweile erstmals seit den 80er-Jahren wieder weltweit 800 Millionen Menschen hungern. Der globale Süden besitzt deshalb verständlicherweise eine völlig andere Wahrnehmung vom Ukraine-Krieg. Allein in Brasilien, wo 60 Millionen Menschen nicht genug zu essen haben, interessiert der dortige Konflikt allenfalls dann, wenn Getreidelieferungen teurer werden oder ausbleiben.“ Aufgreifen sollte man dagegen das Vermittlungsangebot des Präsidenten Lula.

Bei der Suche nach dem Frieden gehe es zunächst darum, empathisch die Sichtweise der jeweils anderen Seite zu verstehen, ohne sie teilen zu müssen. Permanente Kommunikation sei von grundlegender Bedeutung. Der Einfluss einzelner Abgeordneter sei allerdings begrenzt, weil beispielsweise keine Entscheidung für zu liefernde Waffensysteme im Bundestag falle. Andererseits: Ohne vorherige Waffenlieferungen, so Gava, „würde es die Ukraine allerdings nicht mehr geben.“

Er persönlich begrüße aktuell die eher zurückhaltende Haltung des Bundeskanzlers Olaf Scholz. Persönlich lehnt es Gava strikt ab, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius im Hinblick auf die Militärstärke der Bundeswehr von „kriegstüchtig“ zu sprechen. Gava: „Kriegstüchtig nein, verteidigungsfähig ja!“ Blankes Entsetzen habe es in SPD-Reihen ausgelöst, als die Grünen-Abgeordnete Sara Nanni im Bundestag nach einer Entscheidung zur Lieferung von deutschen Leopardenpanzern ein Sweatshirt mit Leoparden-Muster getragen habe, was sich damals nahtlos an die geschmacklich umstrittenen „Free the leopards“-Hashtags angeknüpft hatte. Gava: „Nie würde ich den Satz sagen: ‚Die Ukraine muss den Krieg gewinnen!‘“ Beabsichtigte Lieferungen von Rüstungsgütern befürworte er jedoch. Im Alltag müsse er als örtlicher SPD-Bundestagsabgeordneter damit klarkommen, von den einen als „Kriegstreiber“, von anderen wiederum als „Putinversteher“ beschimpft zu werden.


Reichinnek: „Brücken für menschliche Begegnungen nicht einstürzen lassen!“

Das persönliche Befinden bildete auch für die hiesige Linken-Abgeordnete Heidi Reichinnek das geeignete Stichwort, um auf aggressive Schmähungen vor allem aus dem Unions-Spektrum hinzuweisen. In Wahrheit habe sie wie alle anderen immer eindeutig festgestellt, dass Russland in der Ukraine einen „offen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ führe. Trotzdem zähle der Vorwurf einer „Putin-Hörigkeit“ immer wieder zu ihrem Alltag im Bundestag.

Sachlich müsse sie feststellen, dass der Ukraine-Krieg einer von aktuell 50 kriegerischen Konflikten auf der Welt sei. Nahezu überall gehe es nie darum, was die Bevölkerung möchte, sondern allein um den Willen der jeweils Mächtigen. Jeder diplomatische Schritt zur Erreichung eines Friedens sei wichtig. Von zentraler Bedeutung sei im aktuellen Konflikt, bestehende Brücken zur russischen Bevölkerung, beispielsweise jene in Gestalt von Städtepartnerschaften, nicht einstürzen zu lassen.

Am Beispiel der durchaus freundlichen Kontakte der Bundesregierung zu Erdogans Türkei, zu Saudi-Arabien oder zu Katar täten sich eklatante Widersprüche auf, wenn von „wertegeleiteter Außenpolitik“ geredet würde.


Vorrang der Demokratie

Peter Brandt wiederholte seine Forderung, schnell und so intensiv wie möglich auf diplomatische Lösungen zu setzen. Aktuelle Waffenlieferungen müssen dabei nicht eingestellt werden, sondern sollten ausdrücklich zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden. Vor allem die deutsche und die französische Regierung könnten aktuell viel bewegen. Gefragt seien aber vor allem Vermittler aus dem globalen Süden wie beispielsweise Brasilien, Südafrika oder Indonesien.

OR-Empfehlung: Ein Artikel Peter Brandts in den Frankfurter Heften beinhaltet die Position des Wissenschaftlers wesentlich ausführlicher, als dies hier dargestellt werden konnte: https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/frieden-in-sicht-3805/


BU: von links nach rechts: Manuel Gava (SPD), Heidi Reichinnek (Linke), Peter Brandt und Moderator Sören Hage. Foto: OR
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