Dienstag, 30. April 2024

Friedrich Lehmann – der Osnabrücker Senator als Urvater der Grünen Finger und des modernen Bauens

Friedrich Lehmann in späten Jahren

Senator Friedrich Lehmann (1869-1961) ist heute fast nur in Fachkreisen bekannt.

Zu Unrecht. Denn jener Mensch, der von 1896 bis 1933 das Osnabrücker Bauamt leitete, davon seit 1909 als städtischer Senator, hat zeitlose, vor allem nachhaltige Spuren im städtischen Alltag hinterlassen. Konkret gesagt: Lehmann darf heute als Urvater der hochgeschätzten „Grünen Finger“ gelten. Aber auch als leidenschaftlicher Advokat eines modernen, funktionsgerechten und zugleich sozialen Baustils machte er sich bis heute einen Namen. Gründe also satt, in der OR an den Pionier moderner Stadtentwicklung zu erinnern.

 

Osnabrück 2022

Die Stadt wächst. Doch neue Wohnungen zu halbwegs erschwinglichen Mieten sind Mangelware. Die Stadtverwaltung und Ratsmitglieder nahezu aller Fraktionen sind deshalb permanent auf der Suche nach neuen Baugebieten. Angesichts knapper, dennoch vorhandener freier Flächen gilt allerdings etwas, was man als rote, in diesem Falle besser grüne Linie bezeichnen kann: Die „Grünen Finger“ gelten mit ihrer stadtökologischen Schutzfunktion gemeinhin als unantastbar, sobald es um neue städtebauliche Planungen geht. Immer wieder gibt es heftige Dispute um die Frage, ob wieder einmal ein „Grüner Finger“ leidet, falls in seinen Begrenzungen planiert und betoniert werden soll. Denn der Teufel steckt angesichts fast jeder Debatte immer wieder im Detail: Darf man irgendein Areal tatsächlich als Baugebiet ausweisen? Oder verbietet es sich, weil „Grüne Finger“ angeknabbert oder gar beseitigt werden?

Immer dann gilt: Der Disput ist eröffnet! Jüngstes Beispiel waren die VfL-Planungen eines Jugendleistungszentrum in der Gartlage, daneben auch die Planungen in Schinkel-Ost. Egal wo: Ob „Grüne Finger“ berührt werden, wird zum Lackmustest eines jeden Bauvorhabens der Stadt Osnabrück. Heute, morgen und übermorgen.

 

Osnabrück 1927: „Radiale Grünzüge“

Ein neues Problem? Blicken wir in die Stadthistorie! Was sich seit Jahrzehnten wie ein Evergreen durch kommunalpolitische Debatten zieht, besitzt tatsächlich eine Grundlage, deren geschichtlicher Ursprung bis heute weitgehend vergessen ist. Es geht um einen „Generalbebauungsplan“, der in der Osnabrücker Planungsgeschichte in seiner Weitsichtigkeit keine Konkurrenz zu scheuen braucht. Seit Geburtshelfer: Senator Friedrich Lehman.

Um übereilten Heroisierungen entgegen zu wirken: Was Lehmann, wie wir sehen werden, in Osnabrück plante, diskutierte und durchsetzte, war kein Osnabrücker „Alleinstellungsmerkmal“, wie es moderne Stadtmarketing-Experten so gern als Modewort anfügen. Die Idee, industriell geprägte Städte mit durchdachten Systemen von Grünflächen und Kaltluftschneisen zu durchziehen, war bereits in der zur Jahrhundertwende aufgekommenen Idee der „Gartenstadt“ enthalten.

 

Die Gartenstadt-Idee

Der Druck, an Grün und Stadtgesundheit zu denken, war mittlerweile im Zuge der Industrialisierung erdrückend geworden. Immer mehr Städte wurden durch qualmende Schlote inmitten lauter Fabrikanlagen geprägt, in deren direktem Umfeld Menschen wohnten und arbeiteten. Grün- und Erholungsflächen, denken wir allein an das innerhalb weniger Jahrzehnte aus dem Boden gestampfte Ruhrgebiet, galten bis Ende des 19. Jahrhunderts als Fremdwort.

Anlass genug, umzudenken und zumindest in solchen Städten das Schlimmste zu verhindern, wo dies noch möglich schien. Nicht zuletzt, seitdem der legendäre Ideenspender Bruno Taut die 1902 gegründete Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft beeinflusste, hatten Gartenstadt-Leitideen ganze Generationen von Architekten, Bau- und Grünplanern begeistert.

Eine Art Ur-Pionier der Osnabrücker Gartenstadt-Ideen, so fand es Ernst Kosche in einem vielbeachteten Aufsatz über Friedrich Lehmann in der jüngsten, bereits in der OR vorgestellten Ausgabe der Osnabrücker Mitteilungen heraus, war der oberste Stadt-Gärtner Johannes Hallervorden. Bereits 1904 hatte er vorgeschlagen, bei der Aufstellung städtischer Bebauungspläne fortan zu berücksichtigen, die an die damalige Stadtperipherie angrenzenden Grünbereiche „durch einen zweiten Ring teils nur breiter, baumbepflanzter Straßen, teils mit Anlagestreifen versehener Promenaden zu verbinden …“

Der Erste Weltkrieg und die folgenden Mangeljahre bedeuteten für Hallervorden, Senator Lehmann und andere ideenreiche Planer für längere Zeit einen Stillstand aller Planungen, die mehr Geld als üblich benötigten.

 

Lehmann wird zum Grünplaner

Dennoch ging es zumindest planerisch weiter. Nach dem gescheiterten Versuch, einen auswärtigen Planer mit grünfördernden Stadtentwicklungsplanungen zu beauftragen, landete diese Aufgabe schließlich gegen Mitte der 20er Jahre auf Lehmanns Schreibtisch. Der ließ sich nicht bitten und ging dynamisch ans Werk. Schon im Herbst 1926 war Lehmanns Plan fertig. In den Erläuterungsentwurf schrieb der Bausenator erstmals jenen Satz, der die eigentliche Leitidee aller Planungen der nächsten 100 Jahre werden sollte:

„Weiterhin soll ein wohldurchdachtes System von grünen Adern nicht zufälliger Flecken, hier trennend und dort verbindend, den Stadtorganismus durchziehen.“

Die Visionen, die heute „Grüne Finger“ und „Kaltluftschneisen“ heißen, hatten ihre Geburtsstunde erlebt. Die offizielle Stunde null des heutigen „Evergreens“ lässt sich etwas später exakt verorten: Man schrieb den 17. Mai 1927. Ort des Geschehens war die Aula des Ratsgymnasiums.

Derjenige, der hier und am Folgetag den druckfrischen „Generalbebauungsplan“ vor geladenen Gästen mit einem damals hochmodernen „Lichtbildervortrag“ präsentiert, war logischerweise Stadtbaurat Friedrich Lehmann höchstpersönlich. Den Kernpunkt des Plans bildete ein „System von grünen Adern“ beziehungsweise „Radiale Grünzüge“. Der Originalton des Lehmannschen Generalbebauungsplans liest sich auch heutzutage wie ein erhobener Zeigefinger, bestimmte Areale auch anno 2022 unbedingt vor einer Planierung freizuhalten:

„Zur Auflockerung der Wohn- und Arbeitsflächen ist ein wohldurchdachtes Grün- und Freiflächensystems vorgesehen. Die Grundlage der dabei zu verfolgenden Politik bildet die Konservierung der von Natur aus gegebenen Grüngebiete, die Grünanlagen und Parks innerhalb der Stadt (…) gilt es durch Grünzüge zusammenzufassen, untereinander und mit den äußeren natürlichen Grünbeständen in Verbindung zu bringen. Radiale Grünzüge werden, soweit es die Bebauung noch zulässt, systematisch nach dem Stadtkern eingetrieben. Durch Einschaltung keilförmiger Garten- und Landschaftsfreiflächen wird eine Durchlüftung der Stadtmasse und Verzahnung mit der Landschaft angestrebt.“

Konkret wurden daraufhin auch jene Flächen genannt, die bis heute als „Grüne Finger“ eine Rolle spielen. Aufgelistet und zusammengefasst sind diese ausführlich im richtungsweisenden, anno 1991 von Gerhard Becker herausgegebenen Standardbuch „Stadtentwicklung im gesellschaftlichen Konfliktfeld“. Danach umfassen die „Radialen Grünzüge“:

  • Natruper- und Heger Holz mit Anschluss an Eversburg
  • Sedanstraße-Westerberg-Martinistraße-Hakenhof
  • Schnatgang, Wüste, Hörner Bruch, Hauswörmannsweg, Johannisfriedhof
  • Iburger Straße, Schölerberg, Riedenbach (Süden)
  • Schinkeler Berg, Gartlage, Dodesheide (Osten)
  • Nettetal (Norden)
Grünflächenplan 1927Grünflächenplan 1927

 

Wohlgemerkt: Lehmann formulierte all dies in einer Zeit, in der Osnabrück noch weit unter 100.000 Menschen zählte, Haste noch eigenständig war, es noch keinerlei Eingemeindungen weiterer Randgemeinden gab, heute agile Stadtteile wie die Dodesheide noch gar nicht existierten und der Autoverkehr nur spärlich floss. Die heute vielbefahrenen Wälle pflegte man noch für eigene Spaziergänge zum „Sehen und Gesehen werden“ zu nutzen. Von Kutschpferden hinterlassene „Pferdeäpfel“ sollen zu jener Zeit noch weit mehr unschöne Düfte hinterlassen haben als der Benzingeruch aus den Auspuffen der wenigen Reichen, die sich eine solch moderne Blechkarre leisten konnten.

 

Planer, Bauherr, Visionär – und Dirigent des „Neuen Bauens“

Büro Lehmanns im Bauhaus-Stil

Der Stadtbaurat war zum Zeitpunkt seines Vortrags im Ratsgymnasium ein Mensch, dessen Name vielen in der Stadt sehr geläufig war. Dies ist kein Wunder: Lehmann packte während seiner langen Wirkungszeit immer wieder Themen und Projekte an, die bis in das heutige Osnabrück hineinwirken. Es ist ein Verdienst der leider viel zu früh verstorbenen ehemaligen Leiterin des Felix-Nussbaum-Hauses, Inge Jähner, 1984 – noch unter ihrem Geburtsnamen Frankmöller – das Buch „Neues Bauen in Osnabrück“ herausgebracht zu haben, in dem Lehmanns Rolle ausgiebig gewürdigt wird.

Denn es war Lehmann, der seinem Ruf als oberster Bauherr der Stadt markante Taten folgen ließ. In seiner langen, bis zum Ruhestand 1933 währenden Amtszeit entstanden unter anderem der Neubau des Ratsgymnasiums, das Gaswerk, zahlreiche Wohnbauten, ebenso das im Jugendstil errichtete Stadttheater am Dom, dessen Baustil zu jener Zeit als außergewöhnlich galt. Gemeinsam war allen Bauten, dass Lehmann auf unnötige Schnörkel wie Stuck-Elemente oder Ziertürmchen weitgehend verzichten ließ. Funktionsbezogen und sachlich sollte gebaut werden.

Eine Besonderheit Lehmanns, die viel über seine modernen gesellschaftlichen Ideen aussagt: Im Zuge der nach dem Ersten Weltkrieg ab 1919 wirkenden Grundsätze des Bauhauses zeigte sich der Stadtbaurat von Beginn an aufgeschlossen und unterstützte Bauhaus-inspirierte Architekten wie Justus Haarmann, Otto Schneider oder Paul Thor auch gegen viele Anfeindungen konservativer und nationalistischer Kräfte. Aufsehen erregte auch ein unter Lehmanns Verantwortung genehmigtes Denkmal: 1928 realisierte Justus Haarmann das später unter NS-Einfluss abgerissene Ebert-Erzberger-Rathenau-Denkmal am Herrenteichswall, ausgeführt ganz in der Sprache des Neuen Bauens, finanziert und feierlich eingeweiht von der sozialdemokratisch-republikanischen Schutzformation „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“.

Zum Beleg seiner modernen Einstellung konnte in der damaligen Zeit auch Lehmanns Büro herhalten: Es war bis zum Schluss ein Musterbeispiel für Bauhaus-Ideen. Die Beweisführung begann mit der kugelförmigen Beleuchtung, setzte sich fort über einen geometrisch perfekt gestalteten, bewusst schmucklosen Schreibtisch und mündete in einer schlicht aussehenden, aber in jeder Weise gut funktionstüchtigen Schiebetafel, vor der Pläne getrachtet und diskutiert werden konnten. Produzent der äußerst funktionsorientierten Möbel war übrigens kein Geringerer als Friedrich Vordemberge-Gildewart.

Belege für die Lehmannsche Bauhaus-Freundlichkeit waren unter anderem die mit Flachdach versehenen Thorschen Häuser in der Kornstraße, das Moskau- wie Pottgrabenbad, nicht zuletzt markante, privat finanzierte Bauhaus-Schöpfungen wie das Haus Bartlitz in der Krahnstraße 12/13. Modernes Bauen sollte dabei keineswegs trist, sondern bunt erscheinen. „Richtlinien zur Erläuterung und Ergänzung des Bemalungsplanes für die Alt- und Neustadt von Osnabrück“ nannte sich ein ausgeklügeltes Regelwerk aus Lehmanns Feder, das sogar als Sonderdruck der Zeitschrift „Die farbige Stadt“ anno 1927 reichsweit Furore machte. Ein exemplarisches Beispiel für die fantasievolle Farbgestaltung eines Einzelhauses bildete jener Farbentwurf, der für die Gestaltung des „Haus Bartlitz“ vorgesehen war.

Haus Bartlitz

Makabrer Nachtrag, der viel über das Denken in den 60er und 70er Jahren aussagt: Das Haus des Schlachters Bartlitz wurde in den frühen 70ern im Zuge der Verbreiterung der Dielinger Straße abgerissen.

 

 

 

Ein Hochhaus für Osnabrück!

Die Kooperation mit dem später als Konstruktivisten international bekannt gewordenen Künstler Friedrich Vordemberge-Gildewart sollte sich für Lehmann nicht nur in seiner persönlichen Büro-Ausstattung, sondern auch im Baubereich widerspiegeln. „VG“ konnte sich zu Beginn der 30er auch im sogenannten Osnabrücker „Hochhaus“ mit einigen Beweisen seiner Kunst des Konstruktivismus in Gestalt keramischer Arbeiten betätigen. „Hochhaus“ nannte sich seinerzeit im Sprachgebrauch der Bevölkerung das frisch errichtete Stadtkrankenhaus am Natruper-Tor-Wall deshalb, weil es damals noch kein anderes, ähnlich hohes Gebäude in Osnabrück gab. Das Gebäude war bis 1931 ganz im Stile des Neuen Bauens, also ohne unnötigen Pomp, allein sachlich und funktionsbestimmt, vor allem mit dem Ziel, „Luft, Licht und Sonne“ ins Gebäude zu lassen, errichtet worden. Statt des gewohnten Sattel- oder Walmdaches fügte sich alles in einen von überflüssiger Ornamentik befreiten Kubus, der, ähnlich wie zahllose Wohn- und Siedlungshäuser der weniger gut situierten Einwohner, ganz in rot-braunen Klinker gekleidet war.

 

Plan des Stadtkrankenhauses – unterzeichnet von Lehmann persönlich Plan des Stadtkrankenhauses – unterzeichnet von Lehmann persönlich

 

Die von Lehmann durchgesetzte architektonische Botschaft auch dieses Hauses entsprach somit ganz dem Geiste des republikanisch inspirierten Neuen Bauens: Statt überflüssiger Dekors dominierten schlichte Fassaden mit großen Fenstern, die viel Licht und Luft in das Gebäude ließen. Die geografische Lage am Hang des klimatisch begünstigten Westerbergs ermöglichte offene Terrassen und viel Stadtgrün. Im Inneren wartete das Stadtkrankenhaus mit immerhin 12 Stationen auf, in denen das qualifizierte medizinische Fachpersonal seinen Dienst tat. Im Untergeschoss befanden sich moderne Kurbäderanlagen sowie eine Lichtbehandlungsabteilung, kombiniert mit Massage- und Ruheräumen. Ungewöhnliche Lichtsignalanlagen, vor allem eine Warmwasserversorgung in jedem einzelnen Krankenzimmer, dokumentierten das Bemühen, Kranken ihre Zeit im Haus so angenehm wie möglich zu gestalten.

Nachdem das Gebäude im Krieg zerstört worden war, wurden im Neuaufbau, speziell im Obergeschoss, viele Änderungen vorgenommen. Die im Inneren befindlichen Keramiken von „VG“ wurden für immer zerstört. Dass das heute als „Stadthaus“ genutzte Gebäude wichtige Kernbereiche der Osnabrücker Stadtverwaltung beherbergt, ist eine nette, aber ungewollte Reminiszenz an Senator Lehmann.

 

Was folgte

Friedrich Lehmann stand für moderne, republikanisch inspirierte Ideen der Weimarer Republik. Dass er allein damit im Widerspruch zu Deutschlands Nazis stand, war logisch. Noch vor der endgültig gefestigten Machtübernahme der Braunen verließ der Visionär die Verwaltung. Im März 1933, reichte der Senator einen Antrag auf sofortige Versetzung in den Ruhestand ein. Das Gesuch wurde von Nazi-OB Erich Gärtner, wahrscheinlich gern und triumphierend, genehmigt. Lehmann wurde Pensionär, der fortan nichts mehr in der städtischen Grün- und Baupolitik mitgestalten konnte. Die Wiederaufbaujahre nach 1945 besaßen andere Akteure.

Als Lehmann anno 1961 im Alter von 92 Jahren starb, hatte er bis dahin noch einige Würdigungen durch die Stadtspitze erleben dürfen. Die in den Folgejahren Fuß fassende Vision einer „Autogerechten Stadt“ hat er nicht mehr verfolgen können. Wir dürfen annehmen, dass er seinen warnenden Finger erhoben hätte. Dies wäre auch im Sinne seines bis heute wirkenden Vermächtnisses. Denn sein Vermögen hat der Kinderlose in eine „Friedrich-Lehmann-Stiftung“ überführt, die unverändert Projekte fördert, die gesunde, vor allem dem historischen Erbe Osnabrücks verpflichtende Projekte voranbringen. Besser lässt sich kaum eine nachhaltige Lebensbilanz ausdrücken.

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