Donnerstag, 25. April 2024

Geplatzte Kragen – Teil 2

Neupräsentation einer vielgelesenen OR-Serie in 6 Teilen
Vorbemerkung: Wenige Monate nach ihrer Neugründung zum Jahresbeginn 2021 startete die Osnabrücker Rundschau eine vielbeachtete historische Serie. Im Mittelpunkt stand jener Aufstand von Handwerksgesellen im Jahre 1801, der als blutigster Arbeitskampf in die Stadtgeschichte eingegangen ist. Passend zu freundlichen Gaben der Weihnachtszeit erlaubt es sich die OR-Redaktion, unserer deutlich gewachsenen Leserschaft die Serie zum Jahresende als aktualisierte Fassung jeweils am Donnerstag
 erneut zu präsentieren.

 

Osnabrücks Gesellenaufstand von 1801

Um was es geht

Am 13. Juli 1801 marschieren 120 rot uniformierte Soldaten eines Hannoverschen Regiments vom Osnabrücker Schloss in Richtung Gartlage. Die Truppe soll einen Streik Osnabrücker Handwerksgesellen beenden. Zahllose Menschen aus der Bürgerschaft bekunden ihre offene Sympathie mit den Streikenden. Es herrscht Aufruhr in der Stadt!
Im Umfeld eines Gasthauses in der Gartlage kommt es zu einem blutigen Gemetzel. Der erste Osnabrücker Generalstreik endet mit zehn Toten. Sie stammen aus den Reihen der Handwerksgesellen wie der mit ihnen sympathisierenden Bevölkerung. Um was ging es damals, und wie konnte es dazu kommen? Die OR setzt ihre Zeitreise in Osnabrücker Geschehnisse fort, die in diesem Sommer exakt 220 Jahre zurückliegen.

Nachdem sich Teil 1 unserer Serie mit Gebräuchen, Kultur und erkämpften Rechten von Handwerksgesellen auseinandergesetzt hat, wirft Teil 2 den Blick auf jene Situation, die den damaligen Aufstand auslöst.

Zeugnis der Geschichte am Wegesrand: Gesellenweg und Informationstafel zum Osnabrücker Gesellenaufstand von 18o1 in der Gartlage, gelegen am Haster Weg. Foto: Heiko SchulzeZeugnis der Geschichte am Wegesrand: Gesellenweg und Informationstafel zum Osnabrücker Gesellenaufstand von 18o1 in der Gartlage, gelegen am Haster Weg. Foto: Heiko Schulze

Teil 2:
Schwitzen am Johannistag: Ein Streik gärt in der Auflagestube

Der 24. Juni des Jahres 1801 fällt auf einen Mittwoch. Normalerweise herrscht in den Werkstätten der Osnabrücker Handwerksbetriebe zur Wochenmitte ein reges Treiben. Heute aber ist Johannistag. Der wiederum besitzt im Osnabrücker Wirtschaftsleben eine besondere Bedeutung. Denn in Handwerkerkreisen herrscht, so ist es hier Brauch, an jedem Johannistag des Jahres ein reges Kommen und Gehen. Es ist der Tag des Abschieds und der feierlichen Begrüßung. Immer wieder sieht man neu in der Stadt eintreffende Wandergesellen. Andere ziehen durch die Stadttore hinaus, die durch Angehörige der grau uniformierten Stadtwache oder durch Soldaten des rot berockten hannoverschen Bataillons gesichert werden.

Schuhmacher um 1800Schuhmacher um 1800

Alle Gesellen tragen, wie es der Handwerksbrauch vorschreibt, ihr bescheidenes Hab und Gut in Gestalt eines geschulterten „Felleisens“ mit sich. So nennen die wandernden Arbeitnehmer ein eigentümliches, meist mit grober Leinwand gefüttertes Behältnis, in dem sich neben den persönlichen Utensilien auch die sorgsam behütete Kundschaft befindet. In dieses Dokument trägt ein verabschiedender Handwerksmeister wichtige Daten und Notizen zum Arbeitsverhältnis seines Gesellen ein. Für den wiederum ist seine Kundschaft mit Hilfe dieser Angaben ein Beleg für Erfahrungen und Qualifikationen, die der befristet Beschäftigte in seiner Werkstatt erworben hat. Zugleich bildet das Dokument, das Angaben vieler Meister enthält, die Offenlegung einer Wanderroute. Diese Übersicht gewinnt wiederum eine Bedeutung, falls irgendein „Spitzkopp“, wie der damalige Polizist oder Gendarm im Gesellenslang spöttisch genannt wird, kritische Fragen stellt oder verdächtig erscheinenden Gesellen aufgrund fehlender Belege sogar mit „Kittchen“ droht.


Zugeknöpft in die Morgensprache?

Der Johannistag verheißt vor allem den beachtlich vielen Gesellenherbergen innerhalb der Stadtmauern ein reges Innenleben. Zumindest die größeren Gewerke Osnabrücks, allen voran die Schuhmacher, Tischler, Schmiede und Schneider, besitzen eigene, selbstverwaltete Herbergen, die von ihren Gästen, falls sie nicht im Meisterhaus nächtigen, gern auch „Penne“ genannt werden.

Wappen von Schuhmachergesellen

Geladen ist heute zur „Morgensprache“, die in einer „Auflagestube“ der jeweiligen Herberge stattzufinden pflegt. Neu eintreffende Wandergesellen ersetzen solche, die weiterziehen. Alle Anwesenden entrichten ihre Beiträge für die Lade. Mit diesem Begriff wird eine gut versiegelbare, massive und hübsch bemalte Holztruhe bezeichnet. Das gesammelte Geld dient als Hilfskasse, die immer dann in Funktion tritt, sobald Mitglieder der „Gesellschaft“ geldliche Unterstützung im Falle von Arbeitslosigkeit oder Krankheit benötigen. Ansprachen der Altgesellen werden aufmerksam verfolgt, zumal Wandererzählungen immer wieder mit wichtigen Informationen und Erkenntnissen über überregionales Geschehen bereichert werden. Vor allem Fragen nach Wanderzielen warten auf spannende Antworten: In welchem „Kaff“ herrscht ein schlechtes Klima? Wo sind Gesellen willkommen und wo werden ihre Rechte geachtet?

Eine gnadenlos brennende Sonne dringt diesmal auch in solche Winkel der Stadt, die ansonsten mit ihren schräg aufkragenden Häusern als dunkel gelten. Zumindest sorgen Sonne und wenig Wind am heutigen Tage aber dafür, dass üble Gerüche, die auf grob gepflasterten Straßen von Tierfäkalien, Misthaufen und der mittigen, für Abwasser aller Art genutzten Mittelrinne ausgehen, die Nasen der Passanten nicht über Gebühr belasten. Umso muffiger ist es offenkundig inmitten der Gesellenherbergen, deren meist kleinen Räume größtenteils schwer zu durchlüften sind.


Kleiderordnung gerät ins Wanken

In der Herberge der jungen Schuhmacher ist es diesmal besonders stickig und brütend heiß. Dummerweise kollidiert die Temperatur am heutigen Johannistag mit einem festen Brauch, denen sich ganze Generationen von wandernden Schuhmachergesellen eigentlich verpflichtet fühlen. Der Rockkragen, so verheißt es die strenge Kleiderordnung, soll bis zum Hals fest verschlossen sein.

Im Wissen um den alten Brauch, den merkwürdigerweise allein die Schuhmacher pflegen, geschieht an jenem 24. Juni 1801 das Ungeheuerliche: Noch während der rituellen Ansprache zur Begrüßung neuer und zur Verabschiedung fortziehender Gesellen knöpfen die ersten der Anwesenden ihren obersten Rockkragen auf. Es geschieht keineswegs spontan, sondern auf ausdrückliche Empfehlung des „Magdeburgers“. Jener wird, wie alle anderen Gesellenbrüder, nach seinem Herkunftsort genannt. Als Altgeselle, der bei rituellen Ansprachen stets das Wort hat, besitzt er genügend Autorität, so dass seiner Empfehlung immer mehr Anwesende folgen. Für viele der Schwitzenden ist es ein Akt der Befreiung. Es herrscht eine gelöste Stimmung.


Einer gegen alle

Nur einer ist komplett anderer Meinung. Es ist der Waldecker, der sich lautstark bemerkbar macht und das „unzünftige Gebaren“ seiner Kollegen anprangert. Mit Blick auf das eingeforderte Hinstellen vor der geöffneten Lade ruft er jenen Satz, der die Stimmung postwendend zum Brodeln bringt: „Wir wollen nicht wie Bauernjungs davor kommen!“

Handwerksgesellen als „Bauernjungs“? Der Gesellenstolz ist tief verletzt. Als wandernder Geselle fühlt man sich wissend, klug, fachlich versiert, erfahren und weit gereist, ist stolz auf eigene Kultur und Gebräuche, auf den solidarischen Zusammenhalt und vor allem auf gemeinsam erkämpfte Rechte. Junge Bauern dagegen gelten als provinziell, unwissend und rechtlos. Es kommt zum Gerangel mit dem Waldecker. Auch Fäuste fliegen.

Der Waldecker wiederum löst sich aus seiner Umklammerung. Hektisch und wutentbrannt stolpert er die Herbergstreppe hinunter. Unten trifft er zufälligerweise auf die Gildemeister um ihren Sprecher Fürbrock, die sich allesamt im Erdgeschoss aufhalten. Der Waldecker macht aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er beginnt damit, den Meistern den vermeintlichen Frevel am Brauchtum der Gesellenschaft in allen Einzelheiten zu erzählen. Andere Gesellen kommen währenddessen von oben in Windeseile hinunter. Der Waldecker muss seine Klage über die Kollegen unterbrechen, denn es setzt erneut ein heftiges Gerangel ein.


Strafedikt der Meisterschaft

Fürbrock und seine Meisterkollegen sind hellauf empört. Gildemeister wie sie dulden keinen Widerspruch. Mit lauten Anordnungen beenden sie die Rangelei. Doch nicht nur das: In Windeseile verhängen sie schmerzliche Geldstrafen gegen alle, die sie für die Beteiligten halten. Einige der auferlegten Strafgelder betreffen offenkundig aber völlig Unbeteiligte. So soll auch der Wiedenbrücker einen Strafbeitrag entrichten, obwohl er bis zum Gerangel auf der Krankenstube Dienst getan hat. Er hatte sich allein deshalb ins Geschehen gestürzt, weil er den Streit unter seinen Gesellenbrüdern schlichten wollte. Auch andere Beteiligte versuchen nachzuweisen, dass sie gar nicht an der Rangelei beteiligt gewesen sind.

Für Gildemeister Heune zählt all dies nicht: „Ein Meister kann mehr bezeugen als fünf Gesellen!“, brüllt er in die Runde. Der Wiedenbrücker, so ordnen die Meister an, soll nicht nur Strafgeld zahlen, sondern zugleich seinen Arbeitsplatz verlieren und die Stadt Osnabrück verlassen. Dem guten Manne wird, wie es offiziell heißt, „das Handwerk gelegt“.

Irgendwann verschwinden die Meister – mit sich und ihren Entscheidungen rundum zufrieden.


Verletzung der „Gerechtsame“

Da kommt schon mal Wut hoch: Geselle auf Wanderschaft

Die Gesellen sind wieder unter sich. Die Wut ist groß. In ihren Augen ist Ungeheuerliches geschehen. Denn es ist ein mühsam in Jahrhunderten erkämpftes Recht der Gesellenbruderschaft, dass unter ihnen die so genannte „Gerechtsame“ herrscht und von allen Beteiligten streng befolgt wird. Mit anderen Worten: Streit innerhalb der Gesellen wird allein durch Gesellen geschlichtet! Kein Meister, von welchem Rang in der Zunft auch immer, darf sich in Gesellenstreitigkeiten einmischen. Zudem empört die Bestrafung von solchen, die, wie der Wiedenbrücker, gar nicht an der Rangelei beteiligt gewesen sind. Wut herrscht überdies über die fristlose Entlassung des Lübbeckers. Sie ist ein Verstoß gegen ein weiteres Recht. Denn Gekündigten steht zumindest eine Kündigungsfrist von zwei Wochen zu, in denen das Einkommen gesichert ist. Diese Regelung ist ebenfalls etwas, was allgemeingültig und mühsam erkämpft worden ist.

Seitens der Gildemeister ist somit, so sehen es alle Gesellen mit einziger Ausnahme des Waldeckers, Gesellenrecht gleich in zweifacher Weise gebrochen worden. Ganz zu schweigen von der Aussage Meister Heunes, das Wort eines Meisters sei angeblich so wertvoll wie das von fünf Gesellen. Auch infolge erkämpfter Rechte fühlen sich Gesellen gemeinhin als gleichwertig. Sie wollen nicht mehr „Knechte“ sein, wie sie in längst vergangenen Zeiten noch tituliert worden sind. Wer Gesellen herabsetzen möchte, benutzt diesen Begriff allerdings noch immer – und erregt dafür regelmäßig Empörung..

Eine Delegation von Altgesellen und weiteren Gewählten, die später, nach den Geschehnissen am Johannistag, mit den Gildemeistern verhandelt, wird unverrichteter Dinge wieder zurückkehren. In den Werkstätten der einzelnen Gesellen, vor allem beim gemeinsamen Umtrunk nach Feierabend in der Herberge ihres Krugvaters Pennig, brodelt fortan die Stimmung. Dies prägt alle Gespräche der kommenden Tage. Beinahe zehn Tage wird es hin und her gehen. Was mit dem banal anmutenden Streit um geöffnete Kragen begann, hat jetzt, im modernen Sinne, zu „geplatzten Kragen“ geführt.

Am Samstag, dem 4. Juli, wird am Ende der Beschluss gefasst, die Arbeit in den Werkstätten gemeinsam niederzulegen. Dieser Beschluss, seine Hintergründe und Folgen, wird Gegenstand der nächsten Folge unserer Serie sein.

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