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Hänsel auf dem Fahrrad: eine verdrängte Urlaubstour

Von einem, der losfuhr, das Fürchten zu lernen

Vom Fluch dunkler Wälder

Haben die Lesenden dieser Zeilen auch zu den Menschen gehört, die als Kinder mit leuchtenden Augen Grimms Märchen studiert haben?  Haben sich alle – viel später – wie ich selbst darüber aufgeregt, wie madig die beiden Märchenbrüder die gutmütigen Kräuterhexen, die großen Wälder oder einsamen Wölfe gemacht haben?

Meine Empörung in Diensten des deutschen Waldes muss ich schon seit einigen Jahren zurücknehmen. Feierlich! Mir ist es nämlich viel schlimmer ergangen als Hänsel. Denn der hat es ja zuletzt im Duo mit Gretel ohne Blessuren geschafft, die böse Hexe zu verbrennen und glücklich aus dem endlosen Wald heraus zu finden. Meine Hexe jedoch verblieb ungestraft in der Einsamkeit. Und mein Riesenwald entließ mich erst, nachdem er mich gefoltert hatte.

Behelmt – aber noch hoffend. Foto: OR

Doch nun von Anfang an. Es ist eine bis heute verdrängte Geschichte, die sich schon vor einigen Jahren zugetragen hat. Es ist an der Zeit! Ich muss darüber reden. Gut, dass es dazu endlich die Osnabrücker Rundschau gibt!

 

Die Hexe im Wirtskostüm

Es geschieht während meiner sechstägigen Radtour über Berlin-Spreewald-Oder-Ostsee-Müritz. Alles beginnt am fünften Tag mit dem wohlgemeinten Tipp einer ungemein sympathisch wirkenden Wirtsfrau, in der ich nachträglich eine verkleidete Hexe vermute. Ich treffe sie nach einer Fahrrad-Irrfahrt bei über 30 Grad im Schatten in einer einsam gelegenen Gaststätte. Bei kaltem Hefeweizen, Matjes mit Brot und Salat erläutert sie mir meine weitere Radroute. Schließlich will ich mich an diesem Tag nicht noch einmal umfangreich verfahren. Nie wieder will ich geheimnisumwitterte vorpommersche Dörfer – so ging es mir mit zwei Orten, die beide Heinrichswalde hießen – zweimal ansteuern. Nie mehr will ich heute sonstige Irrwege durchschwitzen.

Ich trample, schwitze und entsinne mich noch an die letzten Tage. Schon im Oderbruch hatte ich auffällig wenig Planwege und viel Bruch am Wegesrand. Ich hätte auf solche Vorwarnungen hören sollen!

Viel Naturgewalt und Bruch – schon im tristen Oderbruch. Foto: OR

Zuletzt hatte eine schwere Eisenschranke in voller Breite einen Waldweg versperrt, den ich zuvor eigentlich als richtige Route angepeilt hatte.

Die Gastwirtin klärt mich auf: Ich möge doch den Weg durch einen Wald nehmen und die Barriere irgendwie überwinden. „Das haben bestimmt die Privateigentümer gemacht. Die meinen, sie können sich alles erlauben“, vernehme ich. Ich bin begeistert! Ein Feindbild wird bestätigt. Alles trifft sich also ideal mit meiner sozialistischen Vorstellung, dass Grund und Boden, Wald ohnehin, sowieso in Gemeineigentum überführt werden müssen. Ich radle also kampfesmutig los, um dem kapitalistischen Baumspekulanten ein Schnippchen zu schlagen.

„Sch… Waldbesitzer“, fluche ich, als ich kurze Zeit später mein schwer bepacktes Rad – mühsam seitwärts gekippt – unter der Sperrschranke hindurch wuchte. Triumphierend schwenke ich sekundenschnell die linke Faust. „Diesem Waldkapitalisten habe ich es so richtig gegeben“, schwärme ich noch in kriechender Haltung. Jetzt will ich mir zumindest die Belohnung für dieses Hindurchwuchten meines Gefährts abholen: eine Tour durch einen wunderschönen Waldweg! Und das alles noch im Triumphzug einer privat vollzogenen Enteignung und Vergesellschaftung.

Zugegeben: Die Wirtsfrau hatte auch von heftigen Steigungen gesprochen. Ach, die werde ich locker bewältigen. Wozu hat mein 29er-Mountainbike exakt 24 Gänge? Ich strample also die nächste Anhöhe hinauf und schwitze. Die folgende erhebt sich ebenfalls vor mir. Hinter der Kurve die nächste. Aber das wusste ich ja, irgendwie jedenfalls. Allerdings hatte die Gastwirtin mir nichts davon erzählt, dass der Weg infolge des nächtlichen Platzregens vollkommen matschig ist. Und nicht nur das:

Zwischen den Matschtälern tauchen immer mehr kindskopfgroße Pflastersteine auf, die den Weg offenbar für schwere Gefährte befahrbar machen sollen. In meinem Fall sind es eher buckelige Hindernisse mit dem kostenlosen Service, meine Hämorriden durchzuschaukeln.

 

Wo zum Teufel geht es weiter?

Eine andere Eigenart des Weges ist das gänzliche Fehlen irgendwelcher Hinweisschilder. Ein fieses Manöver des Waldkapitalisten? Ich beginne an meinem Feindbild zu zweifeln. Hatte Hänsel sich bei seiner ersten märchenhaften Waldverirrung noch dadurch beholfen, dass er Brotkrumen gestreut hat, bin ich jetzt nur noch selbst zerstreut. Der Waldweg endet nämlich irgendwie überhaupt nicht. Im Gegenteil: Alles wird dunkler und dichter!  Wohin ich auch blicke, sehe ich Anhöhen, breite Baumkronen und tief zerfurchten Boden. Komme ich an Weggabelungen, entscheide ich mich beinahe willkürlich für irgendeine Richtung. „Hätte ich doch bloß einen minimalen Rest von Orientierungssinn!“, wünsche ich mir still und sehnsüchtig. Außerdem wirkt hier – trotz sengender Sonne am Firmament  – alles immer dunkler. Und dann noch die ständigen, matschunterlegten Steigungen!

Die wiederum hören endlich nach gefühlten Stunden auf, indem sich eine lange Talfahrt ankündigt. Also bleibe ich im Sattel und rase irgendwann pausenlos in die Tiefe. Ich lasse jetzt sogar genussvoll rollen. Immer schneller. Schließlich habe ich ja gute breite Reifen. Hinunterrollen ist für alle Radfahrer ja stets die verdiente Belohnung für das Erklimmen steiler Höhen. Das alles währt dieses Mal aber nicht allzu lange gut: Obwohl ich mich redlich bemühe, die richtige Spur zwischen matschigen Pfützen und hochtreibenden Pflastersteinen zu finden, erwischt es mich!

 

Dem Fahrrad geht es gut!

Mit vollem Krawumm knalle ich zur Seite. Die Gewichte von Rad und Fahrer werden beim Sturz allein von Knie, Ellenbogen und vollgepackten Ortlieb-Taschen abgepuffert. Knie und Oberschenkel erwischt es noch leidlich, denn sie landen auf Matsch und kleineren Steinen. Auch mein edles Rad bleibt unbeschädigt, dem natürlich meine erste Sorge gilt. Fuß, Knie und Bein ziehe ich sorgsam aus dem gestürzten Vehikel. Gebrochen ist wohl nur mein Gemüt. Echten Schmerz verspüre ich allein im geknickten Arm. Denn mein bedauernswerter linker Ellenbogen ist mit einem mächtigen Pflasterstein kollidiert, der den Kampf dann auch sichtbar gewonnen hat. Die Flüche, die ich ausstoße, verhallen sinnlos im Unterholz.

Jedenfalls kann ich noch gerade aufstehen. Ich bin von oben bis unten mit Schmöttke beschmiert, unter dem sich nach und nach Blutspuren offenbaren. Weh tut vor allem der blöde Ellenbogen. „Gerade der linke, den man in der kapitalistischen Ellenbogengesellschaft doch immer wieder braucht!“, nuschele ich still in mich hinein. Hat jetzt auch noch der kapitalistische Waldbesitzer gegen mich gewonnen? Egal! Ich klettere mühsam wieder auf den knallharten Sattel und rase weiter den Abgrund hinab. Das Rad tut es einstweilen ja noch.

 

Ein schemenhafter Retter

Endlich! Es müssen weitere gefühlte Stunden gewesen sein. Tatsächlich kommt eine Lichtung mit Landstraße in Sicht! Zum Jubeln fehlt mir jetzt das Selbstvertrauen, das ich offenbar am Unfallort zurückgelassen habe.

Im Konsum kauften kluge Leute. Sie scheinen diese Hoffnung eines Depots schon vor Jahrzehnten leergekauft zu haben. Foto: OR

Zur Verzweiflung trägt bei, dass ich dringend Nahrung zu mir nehmen muss. In Sichtweite taucht ein alter DDR-Konsum vor mir auf. Im Westen kauften da angeblich immer kluge Leute. Hier kauft kein Schwein mehr ein. Ich wische Blut, Schweiß und Tränen aus dem Gesicht und strample weiter.

Im Sonnenlicht erblicke ich schemenhaft endlich einen echten Menschen samt Haus am Wegesrand! Das Glück scheint mir wieder hold zu sein. Der freundliche Passant erklärt mir nun sogar, wo ich bin. Alles ist wie befürchtet: Wieder mal bin ich weit vom Schuss und am vollkommen falschen Waldende herausgekommen. Aber das ist nun fast zweitrangig. Der gute Mann bietet mir freundlicherweise einen Eimer mit Wasser an. Damit befreie ich mich grob vom gröbsten Dreck und von einigen Blutspuren. Die Wunden selbst sind zum Glück überschaubar. Dankend, noch immer etwas gekrümmt, verlasse ich meinen Helfer und radle weiter.

Der nächste Abzweig in Gestalt eines Anstiegs naht: Ich will gerade schwören, fortan alle Wälder dieser Welt zu meiden und nur noch glatt asphaltierte, meinetwegen sogar von stinkenden Autos wimmelnde  Straßen zu befahren, da knallt plötzlich meine Kette aus ihrer Zahnradbahn. Mist! Jetzt ist auch noch der Plastik-Kettenschutz kaputt. Ich baue mein Gepäck ab und stelle mein Rad auf den Kopf. Grimmig bringe ich die Kette wieder mit ölverschmierten Fingern auf das Zahnrad und beerdige das hosenbeinschützende Teil wehmütig im nächsten Mülleimer. Kettenschutzlos fahre ich weiter. Alles tut weh.

 

Der Kampf geht weiter!

Aber vorwärts komme ich trotzdem noch. „Stillstand ist Rückstand“ gilt ja auch in der Politik, vor allem natürlich beim Radfahren.

Irgendwann erreiche ich nach knapp 110 Kilometern Neubrandenburg. Noch immer steht hoch über mir die sengende Sonne. In der ersten Tanke kaufe ich ein Regal mit Getränken leer. Ich trinke die Liter in Guiness-Rekord-Manier, wälze mich ohne Durst erneut auf den Sattel und erreiche am Ende doch den Zug.

Der bringt mich – ziemlich erschöpft, aber dann doch zufrieden – in die Jugendherberge von Waren/Müritz. Ich beziehe mein Bett und versperre mein Rad für den Rest des Tages im Schuppen. Im Ortshafen verschlinge ich einige Kilo Spaghetti. Als ich spät ermattet einschlafe, habe ich den späten Triumph der Brüder Grimm längst vergessen …

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