Donnerstag, 2. Mai 2024

Handgiftentag 1948: Töne und Wirkungen aus den Aufbaujahren Osnabrücks

Heinrich Herlitzius: Wie ein Oberbürgermeister per Rufmord sein Amt verliert

Seit Jahrhunderten wird in Osnabrück ein uralter Brauch gepflegt: Kurz nach Beginn des neuen Jahres reichen sich Stadtverantwortliche anlässlich des „Handgiftentages“ ihre beidseitig über den Kopf gehobenen Hände. Sie versprechen sich mit dieser Geste, ein weiteres Jahr zum Wohle der Stadt zusammenzuarbeiten.

Vor exakt 76 Jahren ist es der Sozialdemokrat und Antifaschist Heinrich Herlitzius, der in seiner Handgiftenrede erläutert, wie eine rundum zerstörte Stadt neu aufgebaut und mit Demokratie gefüllt werden soll. Keine vier Jahre später wird der demokratisch Gewählte per Rufmord aus seinem Amt gejagt. Angeblich soll er den Gatten seiner vermeintlichen Geliebten in die „Irrenanstalt“ befördert haben. Es ist eine Legende ohne Faktenbasis. Feinde des Sozialdemokraten werden sie aber trotzdem, Jahrzehnte nach seinem Tod anno 1953, genüsslich und sehr erfolgreich zelebrieren.


Demokratie aus Ruinen

Der Handgiftentag 1948 ist unvermindert von Kriegsfolgen geprägt, die eine historische Zäsur darstellen. Als britische Soldaten am 4. April 1945 die Stadt Osnabrück nach über 12 Jahren Nazi-Terror und fast sechs Jahren Kriegsinferno befreien, gleicht die historische Innenstadt einer Kraterlandschaft: Fast neun von zehn Gebäuden sind zerstört, in der Gesamtstadt sind es zwei von dreien.

Im Januar 1948 sind bestenfalls die Straßen vom Schutt freigeräumt. Im Stadtgebiet bemühen sich knapp 100.000 Menschen, durch den Alltag zu kommen. Mühsam werden die ersten Gebäude ausgebessert. Falls Steine, Kalk und Zement, Dachziegel, Bauholz, Kabel und Beton, vor allem aus Trümmerresten, vorhanden sind, werden Häuser wieder oder sogar ganz neu errichtet. Ohne finanzielle Mittel und Materialien scheint sich aber alles nur in Zeitlupe zu bewegen.

Unverändert finden die meisten ihre kärgliche Unterkunft in überfüllten Hausetagen, in feuchten Kellern, in Nissenhütten aus Wellblech oder auch in notdürftig erweiterten Lauben von Schrebergärten. 32 öffentliche Gebäude, darunter das Rathaus, die Stadtwaage und der Hauptbahnhof, 56 Betriebe, sieben Kirchen, 13 Schulen und das Marienhospital sind zum Kriegsende nicht mehr nutzbar gewesen und werden nun schrittweise wieder aufgebaut. Notküchen der britischen Armee, Schwarzmärkte, Tauschhandel und Hamsterausflüge ins Umland sichern 1948 eine notdürftige Versorgung. Stromsperrstunden und Mangel an Heizmaterial machen vor allem die kalte Jahreszeit zum Härtetest. Osnabrückerinnen und Osnabrücker, die ihre Not nicht bewältigen können, erleiden den Tod durch Krankheit, Hunger oder Erfrieren.

Rathaus: zerstört 1945, wiederaufgebaut 1948Rathaus: zerstört 1945, wiederaufgebaut 1948

Aber auch Positives gibt es zu vermelden: Die ersehnte demokratische Ratswahl hat endlich am 13. Oktober 1946 stattgefunden. Das erste Votum seit gut 13 Jahren hat zu einer absoluten Mehrheit der SPD geführt. Begünstigt hat den Wahlerfolg das von den Briten eingeführten Mehrheitswahlrecht: In den Rat zieht ein, wer im jeweiligen Wahlkreis mehr Stimmen als die demokratische Konkurrenz erhält. Erst am 28. November 1948, knapp ein Jahr nach dem Handgiftentag, wird wieder nach einem repräsentativen Wahlrecht abgestimmt werden.

Die SPD wird danach mit 37,1 % zumindest wieder mit gutem Abstand zur stärksten Partei. Die absolute Mehrheit aber verfehlt die Sozialdemokratie. Danach wird für kurze Zeit der Christdemokrat Adolf Kreft zum OB gewählt werden, ehe ihn Ende 1949 wiederum Herlitzius ablösen wird.


Herlitzius: einige Lebensdaten

Mit Heinrich Herlitzius, geboren am 31. Oktober 1887 in Osnabrück, ist seit über tausend Jahren erstmals ein Stadtoberhaupt gewählt worden, das ohne bürgerlichen Bezug ist und stattdessen aus der Arbeiterklasse stammt. Nicht wenige aus dem großbürgerlichen Lager Osnabrücks mokieren sich von Beginn an, meist unter vorgehaltener Hand, über einen Stadtrepräsentanten, dessen Ansprachen nicht so elaboriert, rhetorisch geschliffen und mit ständigen Avancen an irgendeine akademische Bildung verknüpft sind.

Deutlich viele sehnen sich nach Ex-OB Dr. Erich Gärtner zurück, der stets den Nazis die Treue hielt, aber den Ruf als Verwaltungsfachmann genoss. Gärtner wird noch bis 1954 in Osnabrück bleiben, ehe er nach Freiburg verzieht. Bis dahin gibt es nicht wenige aus dem bürgerlichen Parteienlager und altgediente Verwaltungsmitarbeiter, die gern Gärtners Rat und Empfehlungen in Anspruch nehmen.

Beim Sozialdemokraten Herlitzius stoßen sich etliche auch an Bemühungen des OB und seiner Genossen, immer wieder Ex-Nazis aus dem städtischen Dienst zu entfernen oder zumindest heraus zu halten. Herlitzius, wohnhaft in einer bescheidenen Wohnung am Kirchenkamp 27, versieht das Ehrenamt als OB im Übrigen so, wie man es angesichts seines bisherigen Lebens erwarten sollte. Er versteht sich vorrangig als Ansprechpartner jener, die weniger im Rampenlicht stehen und kümmert sich auch persönlich um in Bedrängnis geratene Mitmenschen.

Der Sohn eines Schuhmachers hat, wie die allermeisten seiner Zeit, die Volkschule besucht. Danach ist er bei der Druckerei Kisling am Neumarkt in die Lehre gegangen und wird dort vier Jahre später Maschinensetzer. Schon seit seinem 19. Lebensjahr ist er gewerkschaftlich organisiert. Seit 1908 tritt er der SPD bei. Zwischen 1920 und 1933 bekommt er immer wieder das Vertrauen seiner Kollegen und wird zum Vorsitzenden des Verbandes der Deutschen Buchdrucker im Bezirk Osnabrück gewählt. Aktiv beteiligt er sich an allen Aktivitäten von Partei und Gewerkschaften, den aufkommenden Nationalsozialisten entgegenzutreten. Immer wieder warnt auch er vor den Gefahren von Krieg und Diktatur. Während der Nazidiktatur wird er auch deshalb zunächst aus politischen Gründen arbeitslos. Mehrfach wird er verhaftet, verhört und drangsaliert. Zumindest gelingt es aber, Schlimmeres abzuwenden.

1938 wechselt Herlitzius, nachdem er zwischenzeitlich in einer Druckerei in Münster gearbeitet hat, zur Firma Meinders & Elstermann, die das Tageblatt herausgibt. Das Kriegsende inmitten der zerstörten Heimatstadt erlebt er als 58-Jähriger, der sofort das Vertrauen der Briten für die Übernahme verantwortlicher Positionen erhält.

Auch 1948 das häufigste Transportmittel: der „Bollerwagen“. Fotoarchiv Karl Schulze

Bis zu seiner ersten Wahl zum ehrenamtlichen Oberbürgermeister am 5. November 1946 wirkt Herlitzius weiter bei M&E als Maschinensetzer und Korrektor. Seit 1946 ist er Mitglied des zunächst von den Briten ernannten, später auch des gewählten Stadtrates von Osnabrück. Die Kirchengemeinde St. Katharinen hat den überzeugten Christen und Sozialisten Anfang 1946 zusätzlich in den Kirchenvorstand gewählt. Herlitzius wird zweimal Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück werden. Seine erste Amtszeit währt von 1946 bis 1948. Ein zweites Mal wird er für die Zeit von 1949 bis 1951 gewählt.


Handgiftenrede in unsäglicher Zeit

Viele Teilnehmenden erfüllt es mit Stolz, dass in Osnabrück erstmals seit langer Zeit wieder der traditionelle „Handgiftentag“ stattfindet. Die traditionelle Rede des Stadtoberhaupts von 1948, hinterlassen auf zehneinhalb, eng getippten Schreibmaschinenseiten, mutet schon beim ersten Lesen eher geschäftig als feierlich an. Kein Wunder: Demokratie kann sich in Zeiten großen Mangels niemals feiern. Sie ist zum Handeln und Problemlösen gezwungen.

In seiner Rede bezieht sich OB Herlitzius auf den künftig dritten Jahrestag, „an dem die alliierten Truppen in unserer Vaterstadt einrückten und der grauenvollste aller Kriege in unserer Vaterstadt sein Ende fand.“ Es sei „ein Regime zusammengebrochen, das das einst so tüchtige, fleißige und ehrliche deutsche Volk durch seine unverantwortliche Politik in die tiefsten Tiefen hinabgestürzt hat.“ Die Rede ist von einer ziemlich verzweifelten Lage, von einer „Hoffnungs- und Mutlosigkeit“.

Auch die äußere Lage mit dem beginnenden Kalten Krieg deutet der OB konkret an: „Jedermann weiß heute, dass die Welt wieder in zwei feindliche Lager gespalten wurde: Ost und West, Kapital und Bolschewismus.“

Unsagbar fern erscheint in jenem Moment die große sozialdemokratische Vision eines eigenen demokratisch-sozialistischen Weges jenseits von Stalinismus und Kapitalismus. Dennoch bleibt sie für Menschen wie Herlitzius die eigentliche Triebfeder seines Handelns. Unverblümt beschreibt er dennoch die kommunale Ausgangssituation:

„Für uns aber ist die Feststellung zu treffen, dass man der wirtschaftlichen Erholung Deutschlands und des Kontinents den Weg verlegt hat, denn Demontagen und Reparationen sowie wirtschaftliche, politische und seelische Behandlung der Besiegten zeigten bisher in ihren Auswirkungen nur ein rein negatives Bild. So ist Deutschland jetzt zu einem einzigen Armenhaus geworden, und es lebt sich sehr schlecht in diesem Hause, dessen Lebensbedingungen für breite Bevölkerungskreise von Tag zu Tag schlechter werden und in dem nur ein kleiner Kreis auf Kosten der breiten Massen und mit Hilfe des Schwarzen oder Grauen Marktes sich rücksichtslos bereichert und dadurch in der Lage ist, an vollen Tischen zu leben.“ (…)

Drei zentrale Aufgabenfelder der Kommunalpolitik bringt Herlitzius schnell auf den Punkt:

„In erster Linie waren es die drei Fragen: Nahrung, Bekleidung und Wohnung, die fortgesetzt alle Ratsmitglieder mit ernsthaftester Sorge erfüllten …“

Bei der Schaffung von Wohnraum geht der OB niemals geschönt, sondern durchaus unverblümt mit der Situation um:

„Auf dem Bausektor sind die Wünsche des Rates nicht im Entferntesten in Erfüllung gegangen (…). Soweit mir nun bekannt, liegt zurzeit ein Bedarf an Wohnungen vor, der sich etwa auf die Höhe von 8.000 bewegt, und zwar wünschen rund 3.000 noch immer evakuierte Osnabrücker Familien, wieder in die Stadt zurückzukehren, während etwa 5.000 Familien, die zwar in der Stadt wohnen, in völlig unzureichenden Wohnverhältnissen leben müssen. (…)
Wie beengt manche Menschen unserer Stadt heute wohnen, lässt sich daran ermessen, dass es noch Fälle gibt, in denen bis zu sechs Personen in einem Raum hausen und die Wohnfläche für den einzelnen bis auf etwa 4 qm zusammengeschrumpft ist.“

Derartige Zahlen nennt Herlitzius sogar im Wissen um zukünftig noch härtere Herausforderungen, die im Zuge der Vertreibung von Deutschen aus vormaligen Ostgebieten auf Osnabrück zukommen: „Diesen neuen Flüchtlingen eine Heimat zu bieten, wird eine selbstverständliche Pflicht des Westens sein.“ Als er später die Zahl von 7.400 gemeldeten Flüchtlingen im Dezember 1947 nennt, wird dem letzten im Saal die Herausforderung einer bestmöglichen Integration dieser Menschen klar.

Auf der Positivseite vermerkt der OB die Fortschritte beim Wiederaufbau des im Innenkern restlos zerstörten Rathauses, dass im Jubiläumsjahr rechtzeitig zum 25. Oktober anlässlich des 300. Jahrestages des Westfälischen Friedens wieder nutzbar sein wird. Das Rathaus besitzt für alle Osnabrückerinnen und Osnabrücker einen hohen Symbolwert.

Viel alltagsorientierter klingen uns heute Plane wie den, „im Moskaubad Brausebäder für den Winter zu schaffen.“ Nicht minder wichtig ist der erwähnte Fortschritt bei der Schaffung von Schulräumen, Krankenhausbetten und Verwaltungsbauten. Dagegen hapere es bei der Wiederinbetriebnahme im Straßenbahnbetrieb. Reale Fortschritte hätte es dagegen bei der Wiederherstellung von Freiräumen wie dem Bürgerpark oder dem Schölerberg gegeben, wobei es umgekehrt bei der Wiederherstellung des Bahnhofsbetriebs noch erhebliche Defizite gäbe.

Einigermaßen handlungsfähig zeigt sich das sozialdemokratisch regierte Osnabrück laut Herlitzius auf jeden Fall für die Ärmsten der Stadt: „Unterstützt wurden im Sommer 2.501 Parteien oder 4.804 Personen, Heim- und Anstaltspflege erhielten 230 Personen, und das städtische Altersheim wurde von 75 Männern und Frauen belegt. (…) Die Fürsorgestelle für Kriegsopfer betreut 6.500 Kriegsbeschädigte (davon allein 2.000 Schwerbeschädigte).“

Keinen Hehl macht der OB aus der allgemeinen sozialen Situation:

„Die sittliche Verwahrlosung, namentlich unter den Jugendlichen, nimmt in erschreckendem Umfange zu. Größte Sorge des Jugendamtes in Zusammenarbeit mit der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege muss es sein, Maßnahmen zur Unterbringung dieser halt- und wohnungslosen Menschen zu ergreifen. Auch auf dem Gebiete der Altershilfe haben wir uns mehr denn je einzusetzen, um diese hilflosen und vereinsamten Menschen vor Hunger und Kälte zu bewahren und sie nicht der Verzweiflung und dem Lebensüberdruss preiszugeben.“

Trümmer prägen den städtischen Alltag. Foto: Archiv Karl Schulze

Um der Öffentlichkeit dennoch Mut zu machen, die beschriebenen Probleme trotzdem zuversichtlich anzupacken, nennt Herlitzius, nicht zuletzt unter seiner persönlichen Verantwortung, am Ende seiner Handgiftenrede auch mühsam erreichte Fortschritte: Immer mehr Klassenräume seien wieder für den regulären Schulunterricht nutzbar, die Volkshochschule könne wieder 2.600 Besuchende aufweisen, auch das kulturelle Leben besitze mit dem Orchester als seinem „beachtlichen Klangkörper“, der sich „äußerst rege und vielseitig“ entwickele. 750 gesundheitsgefährdete Kinder konnten, so der OB, in Heimen am Meer oder im Gebirge ihren Erholungsurlaub verbringen.

Zum Schluss dankt der OB neben verantwortlichen aus Rat und Verwaltung auch „den Herren von der Militärregierung“, die „uns bei unserer Arbeit mit Rat und Tat zur Seite standen.“ Ein besonderer Dank gilt „den Ratsherren und Ratsherrinnen“, dem sich, zusammenfassend, der Schlussappell anschließt:

„Unsere Arbeit aber wird auch im Osnabrücker Jubiläumsjahr 1948 nicht abreißen. Hier muss es vorwärtsgehen, um das Elend unserer Tage zu überwinden. Möge uns das kommende Jahr ein Stück auf diesem Wege weiterbringen und unsere Arbeit zum Wohle unserer Stadt und ihrer Bevölkerung eine fruchtbringende und gesegnete sein.“


Wegweisungen der Nachkriegszeit

Nach seiner Handgiftenrede darf OB Herlitzius erleben, dass sich der Wiederaufbau der Stadt mit Hilfe des von ihm geführten Rates sichtbar, wenn auch eher im Schneckentempo und mit ungemein viel Eigeninitiative vollzieht. Am Sonntag, dem 20. Juni 1948, wird die lang erwartete Währungsreform in Kraft treten, mit der die neue Deutsche Mark die alte inflationäre Reichsmark-Währung ablöst. Sie schafft mit der Bevorzugung ohnehin kapitalkräftiger Unternehmen zwar große Ungerechtigkeiten, wird aber trotzdem zur allmählichen Erholung der Wirtschaft beitragen. Mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das unter Mitwirkung des Osnabrücker Abgeordneten im Parlamentarischem Rat, dem Sozialdemokraten Hans Wunderlich, am 23. Mai 1949 als neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verkündet wird, wird schließlich das rechtliche Fundament des neuen Staates gelegt. Die Bundestagswahlen, die am 14. August 1949 stattfinden und unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer ab dem 20. September die Wiederherstellung alter Vormachtstellungen politischer, gesellschaftlicher und vor allem wirtschaftlicher Eliten einleiten, werden von da an die weiteren Machtverhältnisse widerspiegeln. Die Sozialdemokratie wird bis 1966 allenfalls in Kommunen und Ländern begrenzten Einfluss nehmen dürfen.

Hart zeichnen sich allerdings nicht nur im Bonner Bundestag, sondern auch im Osnabrücker Stadtrat immer stärker die politischen Gegensätze ab. Dies gilt vor allem, sobald die SPD versucht, mit Grundsatzpositionen durchzudringen, bei denen Privilegien reicher Stadtmenschen gefährdet erscheinen. Versuche, eine von zahlungskräftigen Bürgern zu entrichtenden Wohnsteuer durchzusetzen, um mehr Wohnraum zu schaffen, scheitern ebenso wie die SPD-Forderung, auch Enteignungen von Immobilien zu ermöglichen, sobald das Gemeinwohl dies nötig mache. Blockaden muss die Osnabrücker SPD auch der sozialdemokratisch geführte Landesregierung unter Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf vorwerfen, der bis 1955 meist gemeinsam mit der CDU oder anderen bürgerlichen Kräften koaliert und dabei fragwürdige Kompromisse macht.

Ein vorläufiger Höhepunkt der Dispute mit den örtlichen bürgerlichen Parteien geschieht nach der Konstituierung des zweiten Nachkriegs-Stadtrats. Trotzdem die SPD mit großem Abstand die stärkste Fraktion stellt, verbünden sich die maßgebenden konservativ-liberalen Parteien wie CDU, die rechtskonservative Deutsche Partei (sie geht später weitgehend in der CDU auf) und die FDP. Alle erreichen am Jahresende 1948, dass CDU-Kandidat Dr. Adolf Kreft mit 17 zu 15 Stimmen bei der Enthaltung der sonst mit der SPD verbündeten Zentrumsvertreter zum neuen OB gewählt wird. Zumal die bürgerlichen Parteien sich im Jahresverlauf 1949 selten einig zeigen und wenig zuwege bringen, ist es allerdings wiederum Heinrich Herlitzius, der die kurzzeitige Dominanz der bürgerlichen Seite an der Stadtspitze beendet. Bei der im Jahresturnus stattfindenden OB-Wahl am 20. Dezember 1949 wird er erneut zum Oberbürgermeister gewählt. Zu seinem großen Bedauern ist die Zeit einer absoluten SPD-Mehrheit, die ihm Gestaltungsfreiheit verschafft hätte, allerdings vorbei. Er wird ständig auf Kompromisse mit den bürgerlichen Parteien angewiesen sein.

Osnabrücker SPD-Wahlplakat von 1946

Während seiner Verantwortung als Oberbürgermeister gelingt es zumindest, bestimmte soziale Wegweisungen einzuleiten. Ein nicht unwesentlicher Schritt ist die auch im Vergleich mit anderen Städten massive, deutlich überdurchschnittliche Ausweisung von Kleingartenflächen rund um das Stadtzentrum. In der frühen Nachkriegszeit besitzen diese Nutzgärten einen unschätzbaren Wert für die Selbstversorgung aller Familien, die sich keinen eigenen Garten leisten können. Erreicht wird dies unter anderem durch gut ausgehandelte Kompromisse mit den Briten, die dafür eigene Sportflächen aufgeben. Das eifrige „Einmachen“ von Obst und Gemüse sichert Menschen in der Stadt fortan vielfach das Überleben. Zur leichten Entspannung trägt laut einer Aufstellung in Wido Sprattes Buch „Osnabrück 1945-1955“ auch bei, dass In Osnabrück inzwischen trotz der großen Bauschwierigkeiten bis Mitte 1948 rund 2.560 neue Wohnungen mit insgesamt 8.940 Räumen geschaffen worden sind. Auch der Friedensgedanke wird gestärkt. Jüngere Schüler*innen freuen sich darüber in besonderer Weise: Am 22. Oktober 1948 wird unter OB Herlitzius und Stadtarchivar Ludwig Bäthe das allererste Steckenpferdreiten als Friedensmanifestation aller Kinder veranstaltet, das ab 1953 jährlich stattfinden wird. Von hoher symbolischer Bedeutung für das Selbstbewusstsein der Bürgerschaft wird die Wiederinbetriebnahme des Theaters am Domhof am 9. September 1950. Begeisterung löst am 1. Juni 1951 auch die Wiedereröffnung des Pottgrabenbades aus. Am 24. Oktober des gleichen Jahres wird im wiederaufgebauten Hakenhof an der Süsterstraße ein Jugendwohnheim eröffnet, das sich zu all jenen gesellt, die auch andernorts bereits im Stadtgebiet bestehen und vor allem auf Druck der SPD durchgesetzt worden sind, um sinnvolle Jugendarbeit zu fördern.


Rufmord und politische Kaltstellung

Trotz einer engagierten Amtstätigkeit sind die Gegner des sozialdemokratischen OB keineswegs müde geworden. Alljährlich trachten sie nach Gelegenheiten, die jeweils zum Jahresende angesetzte OB-Wahl für eine Auswechslung in ihrem Sinne zu nutzen. Emsig sind die Bemühungen, unter allen bürgerlichen Parteien ein Bündnis zu schließen. Vergeblich werden immer wieder Anknüpfungspunkte gesucht. Ein lupenrein privater Ehekonflikt sollte sich am Ende als jenes Mittel erweisen, einen beliebten OB zu stürzen und ihn danach zusätzlich mit Hohngelächter dem Spott auszuliefern.

Der Fall macht sogar bundesweit Furore. Wer das Manöver zur Amtsentfernung des OB zurückverfolgen will, kann auf jeweils eine Ausgabe des Spiegels sowie der Wochenzeitung „Die Zeit“ zurückgreifen, die seinerzeit, Anfang 1952, ausgiebig über das Osnabrücker Geschehen berichten.

Der am 8. Januar 1951 erschienene Spiegel-Artikel „Der Fluch des Krotofil“, zugeordnet dem Oberbegriff „Affären“, widmet sich einem rein privaten Ehekonflikt. Die Rede ist von einem, mittlerweile in Ibbenbüren weilenden „Handelsvertreter Johann Krotofil, 41“, der „in einer Kleinstzeche am Rande Westfalens die mageren Kohlenbrocken aus der Erde“ klaube, „anstatt mit dem Musterkoffer über Land zu ziehen.“ Krotofil hatte zuvor seiner Frau einen „Privatkrieg“ erklärt. Mehr noch: Einem gemeinsamen Hausfreund, dem SPD-Oberbürgermeister und Landtagsabgeordneten Heinrich Herlitzius, hat er zuvor wütend androht: „Dich werde ich noch stürzen!“

Was war geschehen? 1946 ist Johann Krotofil aus der englischen Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Er leidet an einer schweren Kriegsverletzung infolge einer Verschüttung. Denken und Handeln sind davon schwer beeinträchtigt. Wegen der Warenknappheit kann er seinem Beruf als Handelsvertreter nicht mehr ausüben, was ihn zusätzlich verbittert.

Ehefrau Maria Krotofil verkauft beruflich die dort produzierten Produkte einer Blindenanstalt. Aus der Ehe jedoch ist mittlerweile eine Hölle geworden. Die schreckliche Angst vor einem unberechenbaren Gatten produziert bei Frau Krotofil zunehmend große Ängste. Befreundet ist sie, wie auch ihr Mann, mit OB Heinrich Herlitzius, dessen Frau kurze Zeit zuvor infolge eines Gehirnschlags verstorben ist. Bei den Krotofils ist die Ehesituation zunehmend verzwickter. Der Spiegel schreibt im besagten Artikel davon, dass „der Ehemann oft solo zum flüssigen Seelentrost greift und seiner Frau dann den handlichen Schnapsstutzen aus Ruhrglas an den Kopf wirft.“

Auch Stühle gehen offenbar zu Bruch. Immer aggressiver werden die Schimpfworte, was sich schnell auch in der Nachbarschaft herumspricht. Im Juli 1950 kümmert sich erstmals auch die Polizei um den randalierenden Ehemann. Seine Frau sieht in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg, ihn in eine psychiatrische Anstalt einliefern zu lassen: „Der hat doch Granatsplitter aus dem Krieg im Kopf“, zitiert sie der Spiegel-Journalist. Aber der Amtsarzt lehnt alles offenbar zunächst ab, auch ein Obermedizinalrat Dr. Bernhard Jutz, Leiter der Osnabrücker Heil- und Pflegeanstalt, beurteilt das aggressive Gebaren Herrn Krotofils, so der Spiegel, nicht unbedingt als „Symptom von Geistesgestörtheit.“ 

Ausgerechnet am Heiligabend 1950 schüttet er seiner Frau im Streit offenbar einen Kübel schmutziger Waschbrühe ins Gesicht. Es folgen massive Faustschläge, schließlich der Griff zum Messer, mit dem er dem hineilenden Schwager offenkundig ins Bein sticht. Weitere Verwandte werden alarmiert. Johann Krotofil wird sicherheitshalber mit einer Hundeleine gefesselt. Dann holt ihn das alarmierte Überfallkommando der Polizei ab. Heiligabend bleibt Krotofil im Gefängnis.

Folgt man dem Spiegel-Bericht weiter, sieht sich Frau Krotofil, die zitiert wird, am Folgetag in einer verzweifelten Lage und ergreift in ihrer Angst die Initiative:

„Am nächsten Tag kam ein Polizeibeamter zu mir und sagte, mein Mann müsse entlassen werden und ich solle ihm Kleider mitgeben. Ich habe darauf Herlitzius gebeten, ob er nicht bei der Polizei erreichen könne, dass mein Mann noch dabliebe … mein Mann wurde darauf auch in die Heil- und Pflegeanstalt gebracht.“

Herlitzius selbst wird vom Spiegel zum Folgegeschehen wie folgt zitiert:

Als Krotofil Ende Dezember entlassen werden sollte, fragte mich Frau Krotofil, was man unternehmen könnte. Ich habe mich erst mit der Polizei in Verbindung gesetzt und wurde auf meine Frage, was man tun könne, an das Gesundheitsamt verwiesen. Nachdem ich mit Herrn Obermedizinalrat Dr. Osthoff, der sich nicht für zuständig erklärte, gesprochen hatte, sprach ich mit Herrn Amtsarzt Dr. von der Becke über den Fall. Von der Becke erklärte mir, er wolle sich den Fall ansehen. Ich bat um Benachrichtigung über das Ergebnis.“

Oberbürgermeister Herlitzius will somit helfen und weitere Gewaltexzesse in der Familie verhindern. Er geht zum Leiter des Ordnungsamtes, um sich nach der vollzogenen Einweisung zu erkundigen. Die Nachricht, die er bekommt, bereitet Sorgen. Denn Krotofil wurde offenbar nur bis zum 2. Januar 1951 in der Anstalt festgehalten, weil der zuständige Amtsgerichtsrat Avenarius den Unterbringungsantrag abgelehnt und die sofortige Entlassung verfügt hat. Offenkundig wandert der aggressive Gatte nach Hause und verbreitet in der Familie weiter Angst und Schrecken.

In der Folgezeit beantragt Krotofil die Scheidung. Im Sommer wird er nach weiteren Exzessen trotzdem erneut in die Landesheil- und Pflegeanstalt eingewiesen. Seine Schwiegermutter ist es daraufhin, die den Mann dabei beobachtet, wie er per Säureverschüttung die gesamte Kleidung im Schrank seiner Frau vernichtet. Krotofil kommt erneut in die Anstalt, wird aber nach einer Verfügung des Amtsgerichts wieder entlassen und kehrt nach Hause zurück. In der Stellungnahme vom Amtsgericht, klingt wiederholt Verständnis für einen angeblich betrogenen Ehemann durch.

Irgendwann, die Ehe ist sichtbar nicht mehr zu kitten, verschwindet Krotofil aus Osnabrück in Richtung Ibbenbüren, um dort im Bergwerk zu arbeiten. Ganz offenkundig hinterlässt er aber Spuren und verfolgt unablässig sein Ziel, den Oberbürgermeister um sein Amt zu bringen. Führende Ratsmitglieder finden plötzlich in ihrem Briefkasten einen hektographierten Brief mit der Überschrift: „Demokratische Ratsdiktatur!“ Der Text enthält Auszüge aus einer Akte des Osnabrücker Amtsgerichts, die normalerweise kein Außenstehender einsehen darf. Nachzulesen ist darin ein Zitat der gerichtlichen Aussage des Herrn Krotofil:

„Schon in den ersten Tagen, als Herlitzius bei mir im Hause feierte, belästigte er meine Frau … Sie ist mit ihm auch auf Reisen gewesen, einmal eine Woche nach Hannover und je einmal nach Burgsteinfurt, Köln, Frankfurt.“

Herlitzius selbst verweigert auf die Frage, ob er „ehebrecherische Beziehungen“ zu Krotofils Frau unterhalten habe, auf juristisches Anraten hin die Aussage. Andererseits gibt er gemeinsame Reisen mit Frau Krotofil zu.

Viel zu spät muss der OB erkennen, dass sein Privatverhalten längst zum Politikum geworden ist. Vor allem die Ratsmitglieder der Osnabrücker CDU und der mit ihr verbundenen Deutschen Partei zeigen auffallendes Interesse am besagten, mit immerhin 200 Exemplaren verbreiteten Schreiben. Am 18. Dezember 1950, kurze Zeit vor dem nächsten Wahlgang, an dem Herlitzius im Rat erneut zum OB hätte gewählt werden sollen, sehen sich Osnabrücks Konservative in einer für sie vorzüglichen Position. CDU-Ratsherr und Rechtsanwalt Dr. Hermann Ungemach beantragt, das anonymem mutmaßlich von Krotofil stammende Schreiben über die „erwähnten Verfehlungen des Oberbürgermeisters genau zu prüfen, bevor man ihn als Kandidaten für die Neuwahl“ zulasse.

Ein interfraktioneller Untersuchungsausschuss sieht sich anschließend nicht in der Lage, die Vorwürfe gegen den OB zu entkräften. Eine erfolgreiche Kandidatur mit einer Ratsmehrheit ist daraufhin unmöglich. Herlitzius resigniert und tritt nicht mehr an.

»Auch zum Don Giovanni muss man eben geboren sein«, zitiert der Spiegel seinerzeit Osnabrücker Besitzbürger, die sich darüber mokieren, dass ihr ehemaliger Oberbürgermeister noch im höheren Alter dort angeeckt haben soll, wo man es bei ihm, dem biederen Ruhestands-Schriftsetzer, am wenigsten erwartet habe.

Dr. Friedrich Janßen

Osnabrücks neuer CDU-Oberbürgermeister, der fortan für ein Jahr die Stadtgeschicke leitet, heißt Dr. Friedrich Janßen, der endlich wieder dem von Konservativen so lange eingeforderten bürgerlichen Milieu entstammt. Er ist Vorsitzender des Vorstandes der Kromschröder-AG., bei der sein CDU-Fraktionskollege Dr. Ungemach, der das Geschehen mit seinem Ratsantrag eingeleitet hat, Syndikus ist. Einer neuen bürgerlichen Ratsmehrheit ist der Weg geebnet. Die örtliche Sozialdemokratie wird bis 1956 aus der Verantwortung gebannt. Nachfolger von Dr. Friedrich Janssen wir ab 1952 Heinrich Buddenberg von der Deutschen Partei sein, die später, wie oben angedeutet, in der CDU aufgeht.

Nicht minder aufschlussreich liest sich heute ein Beitrag von Claus Jacobi in der „Zeit“ vom 10. Januar 1952, der folglich nur zwei Tage später als der Spiegelbericht erscheint und das dargestellte Geschehen bestätigt.

Jacobi nimmt sich bemerkenswert viel Raum, um die Stimmungslage des geschassten OB nach einem Besuch in dessen Wohnung darzustellen. Der Befragte liegt zu jenem Zeitpunkt infolge einer Grippe im Bett.

Eine Aussage sticht für den Fragenden besonders heraus: Das langjährige Engagement für SPD und Gewerkschaften, selbst Verhaftungen in der NS-Zeit hat Herlitzius danach in besserer Erinnerung als die Geschehnisse um seinen Amts- und Image-Verlust. Jacobi zitiert den Ex-OB: „Es war dennoch für mich die schönste Zeit“, meint der schwer grippekranke Mann im Bett bitter. Er berichtet über seine Gemütslage, nachdem seine Frau an einem Gehirnschlag gestorben ist, über die lange Freundschaft mit dem Ehepaar Krotofil, auch über dessen fast 50jährige Frau Mimi und ihren neun Jahre jüngeren Mann Johannes. Er habe Mimi, mit der er in der Tat eng verbunden sei, nur helfen wollen.

Jetzt aber haben es die Feinde des Herlitzius offenkundig geschafft, ihm anzuhängen, einen „Nebenbuhler in die Irrenanstalt zu befördern.“ Ganze Generationen wird sich dieses Gerücht in Osnabrück hartnäckig halten. Jacobi zitiert hier einen Wortbeitrag des CDU-Manns, der das Verhängnis des Herlitzius offenkundig zuvor im Rat eingeleitet hat und der anschließend gern sinngemäß verbreitet wird:

„Kein Mensch ist mehr einen Augenblick sicher, nicht ebenfalls in die Heilanstalt eingeliefert zu werden.“

Bei Heinrich Herlitzius, dem sein zeitgleich aktiv ausgeübtes Landtagsmandat in Hannover keinen wirklichen Ausgleich verschafft, hinterlässt das Geschehene erhebliche gesundheitliche Schädigungen. Am 13. September 1953, keine zwei Jahre nach den Ereignissen, stirbt Osnabrücks erster „Arbeiter-OB“.

Zur Tragik des Geschehens trägt bei, dass Herlitzius nach seinem abgenötigten Abgang vollständig rehabilitiert wird. Jacobi zitiert eine offizielle Erklärung des niedersächsischen Sozialministeriums, das mittlerweile zur Aufklärung befragt worden ist.

„Die Ärzte des Gesundheitsamtes der Stadt Osnabrück haben ihr Gutachten auf Grund des festgestellten Tatbestandes und eigener Wahrnehmungen nach bestem Wissen und Gewissen und nicht auf Grund fremder Einflüsse erstattet.“

Diese Rehabilitierung des Heinrich Herlitzius kommt zu spät. Nicht wirklich hilft, dass ihm zumindest seine eigene Partei erneut das Vertrauen ausspricht und er wieder einmal dem neuen Stadtrat angehört, der sich am 9. November 1952 konstituiert.

Was für die heutige Zeit verbleibt, ist ein Lehrstück. Es darf bis heute als Paradebeispiel für Rufmorde im demokratischen Geschehen gelten. Wir sollten daraus lernen.

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