Donnerstag, 2. Mai 2024

Heiko Schulze: Gedanken vor einer wichtigen Wahlentscheidung im Herbst

Fettnäpfchen oder Wegweiser?

Dieser Beitrag könnte weltpolitisch eingeleitet werden. Der Bogen spannte sich vom fatal gescheiterten Experiment, in Afghanistan demokratische Verhältnisse zu schaffen. Er endete mit einer bedrohlich anmutenden Weltkarte, welche farblich aufzeigt, wie gering im globalen Maßstab funktionierende Demokratien verbreitet sind.

Doch schauen wir mal auf uns selbst! Fast 76 Jahre nach dem Ende des deutschen Faschismus dürfen wir Deutschen selbstbewusst davon sprechen, zu jenen mehr oder weniger funktionierenden Demokratien zu zählen. Das ist nicht wenig, sobald man sich die nationale Geschichte mit all ihren Katastrophen vor Augen führt. Dennoch zeigt sich ein bitterer Beigeschmack, der sich nicht zuletzt im aktuellen Bundestagswahlkampf offenbart.

Gemeint ist hier nicht die bedenkliche Stärke der AFD und ihrer rassistischen, völkischen und teils faschistischen Fangemeinde. Eine solche weist allein in Westeuropa mittlerweile fast jeder Staat auf, der sich als demokratisch sieht. Der „Appell an den inneren Schweinehund im Menschen“, den Kurt Schumacher einst im Weimarer Reichstag im Rahmen einer mutigen Rede auf die Nazis bezog, ist allein in Staaten wie Frankreich oder Italien, mittlerweile auch in Spanien, noch weit gefährdender verbreitet als bei uns. Allein die Lega-Stärke in Italien, der französische Front Nationale oder die spanische Partei Vox liefern uns jede Menge Anlässe, dass einem angst und bange werden kann. Angst und bange, weil dort und auch andernorts irgendwann Zustände herrschen könnten, wie wir sie schon heute aus Ungarn, Polen oder der Türkei kennen.

Streitkultur auf der Intensivstation: Ersetzt falsches Grinsen die Debatte?

Aber auch demokratische Diskussionskultur kann gewaltig kriseln. Angst und bange kann uns nämlich auch werden, wenn wir uns selbstkritisch vor Augen führen, wie jämmerlich sich für uns derzeit die bundesdeutsche Wahlkampfdebatte präsentiert. Sie liegt derzeit nämlich auf der Intensivstation und erfordert künstliche Beatmung. Diese funktioniert leidlich, kann aber durchaus zu Dauerschäden führen.

Die Kultur eines gesunden demokratischen Streits darbt speziell unter demokratischen Parteien, von denen man eine völlig andere Debattenkultur erwarten sollte als von der AFD. Um mehr Gerechtigkeit walten zu lassen: Es geht um demokratische Streitkultur, wie sie uns anlässlich des Bundestagswahlkampfes zum Urnengang am 26. September in traditionellen wie neuen Medien präsentiert wird. Es liegt also weniger an den eigentlichen Parteiprofilen.

Die Misere beginnt mit der Präsentation des Spitzenpersonals. Weshalb ist es eigentlich wichtig, dass ein Kanzlerkandidat wie CDU-Laschet im 15-stündigen Blitzgewitter irgendwelcher Paparazzi-Fotografen einmal zum falschen Zeitpunkt lacht? Welchen Sinn macht es, irgendwelche Formfehler im Online-Lebenslauf der Grünen-Kandidatin Baerbock zu betrachten und daran ihre Qualifikation festzumachen? Wieso wird auch beim SPD-Mann Scholz ständig nach unbestrittenen Fehlern in der Amtsvergangenheit gekramt, die längst als Problem erkannt und angegangen sind?

Geht all dies so weiter, wären alle, die an der Spitze der demokratischen Parteien kandidieren, gut beraten, Schauspielunterricht zu nehmen. Motto: Welche Sprüche, Mimik und Tonlage gefallen am besten? Welcher Joke erregt sympathieweckende Heiterkeit? Welche persönliche Kritik an der Konkurrenz produziert die schönste Schlagzeile? Wo hängt der nächste Bergmanns-, Polizei- oder Feuerwehrhelm, der in Pose setzt und Tatkraft suggeriert? Welche Currywurst muss heruntergewürgt werden, um volksnahe zu wirken?

Die Reihe könnte beliebig fortgesetzt werden. Wahrscheinlich könnten PR-Strategen ganze Seiten voller Spiegelstriche damit füllen, um eine Person als populär, charakterfest und damit kanzlertauglich darzustellen. Nur eines scheint derzeit kaum eine Rolle zu spielen: programmatische Ideen, welche die deutsche Politik für die nächsten vier Jahre bestimmen sollen.

Blick auf die Unterschiede

Dabei wäre es so einfach: Man blicke schlichtweg auf die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien! Lesende würden, trotz unbestritten demokratischer Ausrichtung, ganze Welten von Differenzen erkennen. Es geht schlichtweg um links oder rechts:

  • Soll der Klimawandel endlich als Aufgabe begriffen werden – oder soll er weiter, wie dies Liberale und Union wiederholen, konfliktfrei und „marktgerecht“ beantwortet werden?
  • Soll die schon seit Schröders Zeiten massiv gewachsene Schere zwischen Armen und Reichen weiter ausgedehnt werden? Konkret: Sollen Millionäre weiter ihren Reibach machen und sogar steuerlich entlastet werden, wie dies Union und FDP wie ein Mantra vor sich hertragen?
  • Oder gilt es, reduzierte Steuersätze für Geringverdienende bis zum gut situierten Mittelstand durchzusetzen, die mit höheren Sätzen für Reiche kompensiert werden? Also um einen Weg, den – in unterschiedlicher Ausprägung, aber eindeutig – SPD, Linke und Grüne beinahe einmütig fordern?
  • Wollen wir die NATO-Staaten weiter mit Irrsinns-Summen aufrüsten und tatsächlich das imaginäre Ziel „2% des Bruttoinlandsprodukts“ realisieren? Ein nackter Faktencheck kann da übrigens nicht schaden. Nach Zahlen des anerkannten Stockholmer SIPRI-Instituts für das Vorjahr wurden prozentuale Militärausgaben der wichtigsten Mächte aus globaler Sicht ermittelt: Die USA tragen davon 39% (!), China 13%, Russland 3,1% (!), Deutschland Frankreich und Großbritannien zusammen 8,4% (!). Kurzum: Allein diese Fakten belegen eine NATO-Überlegenheit gigantischen Ausmaßes!
  • Und da soll „der Westen“ aufrüsten, wie die Union und FDP wie eine tibetanische Gebetsmühle wiederholen?
  • Oder wäre es nicht weit eher an die Zeit, an weltweite Abrüstung zu denken, um das ersparte Geld zur Linderung der Umweltschäden und des Hungers in der Welt auszugeben, wie dies allein mit den linken Parteien des Bundestages, auch in Besinnung auf die Friedenspolitik eines Willy Brandt, möglich wäre?
  • Muss weiter an der Ideologie der „Schuldenbremse“ festgehalten werden, die in Staaten wie den USA und Japan unbekannt ist und dort trotzdem nie zu einem volkswirtschaftlichen Kollaps geführt hat? Union und FDP halten eisern daran fest und werden sie am Ende, dies darf prophezeit werden, mit Kürzungen zu Lasten sozial Schwächerer durchsetzen.
  • Oder soll die grundgesetzlich fixierte Schuldengrenze zumindest hinter elementaren volkswirtschaftlichen Investitionen und grundlegenden Sozialprogrammen zur Erhaltung unserer sozialen Sicherungssysteme zurückstehen, um den Staat zukunftssicher zu machen? Auch eine solche Politik wäre allen mit den linken Parteien – mehr oder weniger ausgeprägt – umsetzbar.
  • Soll der gescheiterte Weg der Zwei-Klassen-Medizin fortgeführt werden, wie Union und Liberale dies wollen?
  • Oder soll eine neue Bürgerversicherung schnellstmöglich den gleichen Schutz für alle bieten?
  • Soll der Marsch in die Altersarmut mit Renten, die heute in etwa die Hälfte der Bezüge in Österreich, der Schweiz oder den Niederlanden betragen, fortgesetzt werden? Exakt dies wäre mit Union und FDP zu erwarten, die allenfalls private Anlagesysteme hinzupackten.
  • Oder soll es eine den Lebensleistungen angemessene Alterssicherung geben, wie dies linke Parteien mit ähnlichen Zielen anstreben?
  • Soll das menschenverachtende, seinerzeit von der Schröder-Regierung auf den Weg gebrachte Hartz-4-System mit seinen Repressalien gegen Langzeitarbeitslose im Sinne von Union und FDP fortgeführt werden – oder kann endlich ein Richtungswandel in Puncto garantierter und höherer Grundsicherung, Qualifizierung und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in Angriff genommen werden, wie dies die linken Parteien anstreben?
  • Soll der Mindestlohn weiter zu prekären Einkommen führen, die Altersarmut bedeuten, wie dies Union und FDP in Gestalt ihres Festhaltens an Untergrenzen befürworten?
  • Oder soll es einen Mindestlohn von 12 Euro aufwärts geben, der allein von einer rotrotgrünen Regierung zu erwarten wäre?
  • Sollen die immer gigantischer steigenden Mieten allein dem „freien Markt“ überlassen werden, wie dies von schwarz bis blau-gelb betont wird?
  • Oder sollen endlich Mietobergrenzen festgelegt und der soziale Wohnungsbau massiv ausgebaut werden, wie dies von links gefordert wird?

Es geht um eine Richtungswahl!

Die hier nur skizzenhaft angedeuteten Themen machen es notwendig, die Bundestagswahl im September endlich in ihrer historischen Dimension zu erkennen. Ein „Weiter so!“, das auch eine Regierung unter FDP-Beteiligung unweigerlich bedeutete, wäre verheerend für Mensch und Umwelt.

Mehr noch: Sie spiegelte – allein durch die Nichtbeteiligung der Unionsparteien – eine Richtungsänderung vor, die es mit den Liberalen niemals geben wird. Ein Kabinett Scholz-Baerbock-Lindner böte allenfalls eine andere Kosmetik für das hässliche Gesicht neoliberaler Verirrungen.

Die Zeit ist deshalb überreif für eine neue Debattenkultur, die Unterschiede benennt, statt Scheinalternativen zu erfinden.

 

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