Donnerstag, 2. Mai 2024

„In Stein gemeißelt“: Virtuelle Mahnmale – besuchbar in drei Staaten – Osnabrück ist dabei!

Geschichte einmal anders: Forschende der Uni Osnabrück suchen Spuren internationaler Erinnerungskultur

Botschaften aus der Geschichte entstammen zumeist unserer Leselektüre. Sie beruhen außerdem auf Filmen, Bildern, Museumsbesuchen bis hin zu mündlichen Erzählungen. Auch können sie durchaus „in Stein gemeißelt“ sein – wie sich ein Kooperationsprojekt nennt. Beteiligt an einer virtuellen Reise durch Gedenkorte in drei Staaten sind Geschichtsforschende aus der örtlichen Universität, aus Göttingen, dem Museum Friedland sowie Kooperationspartner, die aus Lettland wie Belarus stammen. In Osnabrück erblickte das einmalige Projekt jetzt öffentlich das Licht der Welt.

 

https://isg.gbv.de/ 
https://isg.gbv.de/

Vorstellung der Projektarbeit

Der Projektabschluss wurde der Öffentlichkeit am 12. März in der Universitätsbibliothek auf dem Campus Westerberg, natürlich im Beisein der OR, vorgestellt. Mit-Koordinatorin Annika Heyen, die das Projekt einführend vorstellte, konnte auf eine Vielzahl von Mitwirkenden verweisen, deren Spürsinn für neue Erkenntnisse niemals abhandengekommen, sondern eher gewachsen ist: „Erinnerungskultur in Gestalt von Mahnmalen ist international in sehr vielfältigen Facetten vorhanden. Bei uns hat sich im Rahmen des Projekts ein gut arbeitendes Netzwerk aus den Universitäten Osnabrück, Göttingen, Minsk bis Riga gebildet, dem auch über 40 Studierende angehören. Ein Jahr lang haben wir gemeinsam gearbeitet. Besonders schön ist, dass unsere Kontakte nicht enden werden, sondern auch in Zukunft viel Potenzial für die weitere Zusammenarbeit bilden.“

Die offizielle Bezeichnung des jetzt per Internet zu erlebenden Projekts lautet „In Stein gemeißelt? Digital erfahrbare Erinnerungsdiskurse im Stadtraum von Niedersachsen und Osteuropa.“ Beteiligt waren neben dem Team der Professur Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung der Universität Osnabrück das Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen, die Geschichtswerkstatt Minsk, die Fakultät für Geschichte und Philosophie der Universität Lettlands in Riga und das Museum Friedland.


Einbettung in die Erinnerungskultur am Beispiel der Bundesrepublik

Es oblag der Göttinger Historikerin Dr. Maria Rhode, Akademische Rätin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen und gemeinsam mit Prof. Dr. Christoph Rass Leiterin des Projekts, einführend auf Facetten deutscher Erinnerungskultur einzugehen.

„In der Bundesrepublik ist die Erinnerung an die NS-Zeit lange Jahrzehnte vorwiegend durch Schweigen oder durch sogenannte Selbstviktimisierung geprägt gewesen, in der man das deutsche Volk vornehmlich in einer Opferrolle gesehen hat“, stellte die Göttingerin fest. Sie streifte im Grobüberblick symbolhafte Stationen, die nach jener Verdrängungsphase eine allmähliche Wende ausdrückten: die Auschwitz-Prozesse in den 60er-Jahren, die Würdigung der Opfer des 20. Juli 1944, Geschichtswerkstätten in den Achtzigern, die grundlegende Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäcker zum 8. Mai als „Tag der Befreiung“, das Holocaust-Mahnmal in Berlin, die Wehrmachtsausstellung Mitte der 90er-Jahre, am Ende die Stärkung von Gedenkstättenarbeit, zum Beispiel auf dem Gelände früherer Konzentrationslager sowie mittlerweile sehr breit getragene Stolpersteinverlegungen.

Eine wichtige Aufgabe der Zukunft sei es, neben den NS-Opfern auch Opfer anderer Genozide, wie etwa die Herero und Nama, die Opfer des Holodomor (zu Beginn der 30er-Jahre herbeigeführte Hungerkrise in der Ukraine) sowie die verfolgten und ermordeten Armenier darzustellen.


Erfahrungen in Weißrussland

Dr. Aliaksandr Dalhouski, stellvertretender Leiter der Geschichtswerkstatt Minsk, Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück und zuständig für die Erarbeitung der belarusischen Projektbeiträge, war der erste, der sich anhand des belarussischen Beispiels dem Thema „Deutschland, Lettland und Belarus: Das Zeitalter der Extreme in der Erinnerungskultur“ widmete. Die Herausforderung in Weißrussland ist es offenkundig, nicht nur die Erinnerung an NS-Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs wachzuhalten, sondern zugleich auch auf die Verbrechen des Stalinismus einzugehen. So sei Kurupaty der wohl größte Erschießungsort während des Stalinismus in der Minsker Umgebung gewesen. Immerhin gebe es dort inzwischen eine Gedenkanlage. Auch existiere erstmals eine eigenständige Erinnerung an jüdische Menschen als zentrale Opfergruppe während der NS-Besatzung. Veröffentlichungen und die Ausgestaltung derartiger Erinnerungskultur seien vorwiegend eine Aufgabe nichtstaatlicher Initiativen.

Eine traditionell vorfindbare, ursprünglich prosowjetische Erinnerungskultur sei über Jahrzehnte naturgemäß zu NS-Verbrechen vorhanden gewesen. Nicht wenige dieser Gedenkorte seien jedoch im Zuge zivilgesellschaftlichen Engagements „demokratisiert“ worden – beispielsweise mit zusätzlichen Informationen. Letzteres beträfe vor allem eine Erinnerung an die Deportationen von Jüdinnen und Juden in Minsk.

Große, noch zu erforschende und zu präsentierende Leerstellen der Forschung und Präsentation seien aber unverändert vorhanden. Dies beträfe beispielsweise Gruppen wie Zwangsarbeitende und Roma. Dalhouski nannte ein besonders großes Defizit: „Es fehlen Infozentren an den wichtigsten Gedenkorten wie Malyj Trostenez oder am Standort des Minsker Ghettos.“ Deren Geschichte sei bisher nur teilweise, dies wiederum nach sowjetischer Tradition, im „GVK-Museum“ ausgestellt, in dem thematisch, nach alter Lesart, der „Große Vaterländische Krieg“ präsentiert werde. Überhaupt müsse festgestellt werden, dass es schwierig sei, neue Formen und wissenschaftliche Erkenntnisse in die belarussische Erinnerungskultur einzubeziehen. So trete die Erinnerung an den Holocaust stark in den Hintergrund.

Mahnmale in Riga: Auch an das Schicksal jüdischer Menschen aus Osnabrück wird dort erinnert. Collage:
Mahnmale in Riga: Auch an das Schicksal jüdischer Menschen aus Osnabrück wird dort erinnert. Collage:Mārtiņš Mintaurs

Erinnerungskultur in Lettland

Dr. Katja Wezel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der GAU Göttingen, und Dr. Mārtiņš Mintaurs, Assistenzprofessor an der Fakultät für Philosophie und Geschichte an der Universität Lettlands, beide aus dem Team Riga, stellten daraufhin die lettische Variante der Erinnerungskultur dar. Im Unterschied zu aktuellen Präsentationsformen würden in Lettland sehr wohl die sowjetisch veranlassten Deportationen seit 1941 ein zentrales Thema bilden. Wezel: „Als die Reformpolitik im Zeichen der Perestroika und Glasnost unter Staatschef Michael Gorbatschow dies erstmals erlaubte, begannen die Letten sofort damit, dieser Ereignisse zu gedenken.“

Wissen müsse man, dass rund 6% der Vorkriegsbevölkerung Lettlands, deutlich über 100.000 Menschen, am 14. Juni 1941 Opfer von stalinistischen Massendeportationen gewesen seien. Am 25. März 1949 habe sich dies wiederholt. „Entweder sind die Menschen in kleineren Repressionswellen deportiert oder zu langjährigen Haftstrafen in Gulag-Straflagern verurteilt worden.“ Die Erinnerung an die Verfolgung jüdischer Menschen während der NS-Besatzung finde ebenso in Lettland statt. Bereits innerhalb der lettischen Unabhängigkeitsbewegung sei seit 1990 der 4. Juli zum Holocaust-Gedenktag erklärt worden. Seit 2001 und 2002 zeugten Denkmäler von Massenerschießungen jüdischer Menschen, die jeweils in Riga-Bikernieko und Rumbula eröffnet worden seien. 2004 sei Lettland außerdem der „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Embrance and Research“ beigetreten.

Beiden Varianten der Verfolgung, der durch NS-Deutschland wie auch jener durch die Sowjetunion, widme sich regelmäßig in Gestalt von Tagungen und Publikationen die lettische Historikerkommission. Orte der Erinnerung an sowjetische Verbrechen seien beispielsweise der Gedenkstein am Bahnhof Tornakalns, das Mahnmal am Güterbahnhof Skirotova, eine Rote Wand als Denkmal für die Opfer des kommunistischen Terrors am Okkupationsmuseum, ein Denkmal für die Opfer der kommunistischen Staatssicherheit an deren früherem Gebäude sowie ein Denkmal für die nach Sibirien deportierten Kinder.

An NS-Besatzung erinnere unter anderem ein Holocaust-Mahnmal an der zerstörten Synagoge in Riga, ein Rigaer Ghetto-Museum, jeweils ein Denkmal an den Erschießungsorten Rumbula und Bikernieki, jeweils eines in den früheren Konzentrationslagern Kaiserwald und Salaspils, ein Gedenkstein auf dem ehemaligen Rigaer Jüdischen Friedhof sowie ein Zanis-Lipke-Museum, wo an ein Versteck für jüdische Menschen erinnert werde.

Dr. Mārtiņš Mintaurs, digital aus Riga zugeschaltet, stellte beispielhaft das Innere des Okkupationsmuseums im Zentrum von Riga vor. Für dessen Konzeption sei bewusst entschieden worden, dort die „doppelte Diktaturerfahrung während des Zweiten Weltkriegs“ widerzuspiegeln – die jeweiligen Besetzungen durch Sowjets wie durch Nationalsozialisten. Mintaurus: „Unser Okkupationsmuseum ist der zentrale Erinnerungs- und Dokumentationsort für die Verbrechen der beiden diktatorischen Regime.“ Der lettische Wissenschaftler zeigte sich sehr erfreut darüber, dass auch mehrere Studierende seines Staates engagiert am Projekt mitwirken konnten. Weiter geforscht werde auf jeden Fall, beispielsweise zur Rolle von lettischen Mitgliedern der Waffen-SS, die an zahlreichen Verbrechen beteiligt gewesen seien.


Rass: Neue Dimensionen über virtuelle Wege

Es oblag dem Gastgeber für die Universität Osnabrück, Dr. Christoph Rass, in seinem Beitrag auf einen besonderen Aspekt der örtlichen Forschung hinzuweisen, der zuvor offenbar nur wenig betrachtet worden ist: „Hunderte von Letten, unter anderem ehemalige Angehörige der Waffen-SS, haben hier als Displaced Persons den Briten als Besatzungsmacht in Gestalt von Ordnungskräften gedient.“

Zur Gedenkstättenarbeit sei anzumerken, dass sie immer wieder neu mit jeweils neuen Erkenntnissen erstritten werden müsse. Insbesondere nach der konservativen Wende in der Bundesrepublik der 80er-Jahre habe diese Beharrlichkeit zur regelmäßigen Praxis aller in der Erinnerungskultur Aktiven gezählt. Rass zog daraus eine Lehre: „Erinnerungskultur wird stets neu ausgehandelt.“

Der Osnabrücker Historiker nutzte seinen Beitrag zur Überleitung auf die ausgearbeiteten digitalen Präsentationsformen. In einer Umwelt, in welcher das Digitale von Wissensangeboten bis hin zu Computerspielen ständig zunehme, müsse dies in besonderer Weise auch für Gedenkstätten gelten, die sich – real wie fiktiv – auch dreidimensional darstellen ließen. Dies alles biete wiederum die große Chance, Denkmäler als Informationsquelle, aber auch als eine Art Archiv zu erfassen, das auch nach einer möglichen Beseitigung oder – im Falle einer fiktiven Präsentation – Nichtentstehung genutzt werden könne. Die Stadt Wien biete dazu viele Praxisbeispiele. Rass: „Zivilgesellschaftlich ergibt sich dann zusätzlich die große Chance, ‚Citizen-Science‘ mit Hilfe professioneller Paten und damit demokratische Werkzeuge zu entwickeln. Merke: Es wird nichts so bleiben, wie es war. Es geht alles – ganz im Gegenteil – viel schneller. Dabei dürfen wir keinen Abschluss für einen Abschluss halten, sondern allenfalls für eine Etappe.“

Annika Heyen oblag es, zum Werdegang des Osnabrücker Projekts überzuleiten: „Anhand der virtuellen Präsentation Osnabrücker Erinnerungsorte können wir unterschiedliche Erinnerungsvarianten anhand jeweiliger Beispiele aufzeigen. Zusätzlich können wir Vernetzungen sichtbar machen und den gesamten Prozess zukünftig zur Erzeugung kostenlos nutzbarer Werkzeuge nutzen.“ Rund 43 Erinnerungsorte seien nun virtuell zugänglich und könnten durch niedrigschwellige Formate sichtbar gemacht werden. Stets gebe es eine Biografie des Ortes und Informationen zu den jeweiligen geschichtlichen Ereignissen. Deren Ursprung wiederum sei zumeist seit den 2oer-Jahren zu finden.

Einen besonders eindrucksvollen Abschluss fand die Zusammenkunft, indem Studierende ihre jeweils persönlichen Erfahrungen und Lernprozesse im Rahmen des Projekts darstellten. Tim Ott, Johannes Pufahl, Jannik Meier und Jan Otto machten auf erfrischende Art deutlich, dass Geschichtsprojekte mit recht unterschiedlichen Werkzeugen lehrreich wie erlebnishaft sein können. „Das war für uns wirklich eine schöne Alternative zum bibliothekslastigen Studium“, brachte es einer der Nachwuchsforscher*innen auf den Punkt.


Hinweis zum Anklicken

Jetzt kann auch das Lesepublikum dieses OR-Beitrags alles betrachten: Gedenkorte werden, die Karte oben zeigt es, an fünf Projektstandorten dargestellt. Zu sehen sind danach, dies wirkt besonders reizvoll, an den einzelnen Standorten digitalisierte dreidimensionale Modelle von Denkmälern. Auch deren Umgebung wurde über 360°-Panoramafotografien eingefangen. Heyen verspricht: „Wer die in Stein gemeißelte Erinnerungskultur dreier Länder lieber vor Ort und mithilfe eines mobilen Endgerätes entdecken möchte, kann in Kürze auf unseren digitalen Stadtrundgang zurückgreifen.“ Die recherchierten Orte und ihre Bedeutung sind schon jetzt mit Unterstützung des Kulturerbes Niedersachsen auf einer gemeinsamen Website (genannt bereits oben unter der Abbildung) dargestellt: https://isg.gbv.de/ 
Ein weiterer ausführlicher Bericht zur Tagung ist hier nachzulesen: https://nghm.hypotheses.org/21054

Auch die OR hatte im Vorjahr gleich mehrere Osnabrücker Gedenkorte textlich wie per Video, Fotos oder Podcast dargestellt. Womöglich bietet dieser Beitrag einen Anreiz, sich dies noch einmal anzuschauen: https://os-rundschau.de/category/os-und-umzu/westfaelischer-friede/or-serie-zum-375-jubilaeum/

 

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