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Jahresmotto 2025: Es lebe der demokratische Streit!

Wahl am 23. Februar: Warum wir lernen müssen, mit Unvereinbarkeiten umzugehen

Egal, wie man es betrachtet: Im kommenden Jahr dürfen wir eine gänzlich andere Regierungs- und Oppositionskonstellation im Bundestag erwarten. Völlig egal, wie die Wahl ausgeht, dürfen wir eine unschöne Konstante aber schon jetzt prophezeien: Streitigkeiten werden zunehmen! Und dies viel mehr als weniger – was an völlig gegensätzlichen Programmen von Union wie Rot-Grünen liegt. Aber das ist auch gut so!

Wer nun verzweifelt die Stirn kraust und beide Hände über die Augen hält, sollte weiterlesen – und vor allem in sich gehen! Denn Streit um der richtigen Sache Willen ist und bleibt ein Lebenselixier der Demokratie. Fehlte jener demokratische Streit, triumphierten nur Ultrarechte von Musk bis Weidel, für die Demokratie allenfalls eine Vorstufe zur eigenen Machtergreifung ist.

Worum geht es bei der Wahlalternative? Die Unterschiede zwischen den Wahlprogrammen von Unionsparteien und SPD, Grünen wie Linken auf der anderen Seite bleiben mehr denn je geprägt von völlig konträren Schwerpunkten – und vor allem Ideologien. Richtig gelesen! Ideologie? Ist das nicht etwas Furchtbares? Keineswegs: Ideologien bleiben vor allem grundsätzliche Wertesysteme, begleitet von Visionen, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen könnte. Und so etwas bereichert den politischen Disput, der sonst nur aus richtungsloser Orientierungssuche bestünde.


Beton-Ideologie aller Neoliberalen

Aller Originaltöne zum Trotz gebärden sich ausgerechnet an neoliberalen Doktrin orientierte Parteien wie AfD (da sind sich die Ultrarechten mit Konservativen und Liberalen völlig einig), CDU, CSU und vor allem FDP als die dogmatischsten aller Ideologen. Ihr gemeinsames Credo in der Wirtschafts- und Finanzpolitik lautet: Entlastung der Reichen und Superreichen, keine Vermögens- oder Erbschaftssteuer, Senkung des Höchststeuersatzes, Sozialabbau, „schlanker Staat“ und Privatisierungen. Ökonom Jens Südekum hat, wie andere Wirtschaftswissenschaftler, bereits öffentlich vorgerechnet, dass allein das Programm der Unionsparteien auf Sichtweite bis zu 100 Milliarden an Steuermindereinnahmen bedeuten würde. Und dies bei einem Jahresetat, der etwa 500 Milliarden Euro umfasst. Angeblich, so die uralte, nie realisierte Ideologie, würde durch die Entlastung der Reichen die Konjunktur angeworfen und Wachstum mit enormen Prozentzahlen folgen. Nur: Bislang fehlt hier, auch international, jedes Erfolgsbeispiel. Es bleibt die klassische Umverteilung von unten nach oben. Ideologie und Dogmatismus eben. Hauptsache Porsche und Privatflieger. Wen interessieren Schlangen vor der Tafel?

Was real, auf den Bundesetat angewandt, folgen würde, wird von der Union nur zart angedeutet, lässt aber Furchtbares erahnen: massive, an gesellschaftlichen Dammbruch erinnernde Einsparungen beim Bürgergeld und im Sozialetat, was am Ende die Renter*innen mit Kürzungen zu begleichen hätten. Dass das aktuelle Bürgergeld, auch nach Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts, eigentlich das Existenzminimum der Betroffenen sichern muss, scheint niemanden der neoliberalen Marktanbeter zu interessieren. CDU-Merz und Linnemann haben ja bereits gefordert, Bürgergeld für sogenannte „Arbeitsverweigerer“, deren Zahl sie, entgegen allen seriösen Ermittlungen, in Millionen erfassen, auf Null zu setzen. Regierungsamtlich kommt dies real einem staatlich verordneten Verhungern gleich. Todesstrafe für „Faule“ gewissermaßen – was immer Merz oder Linnemann als „faul“ verstehen.

Am gravierendsten zeigt sich die Ideologiebesessenheit der Marktradikalen vor allem an deren Festalten an der „Schuldengrenze“, für deren Einführung Deutschland in aller Welt völlig allein dasteht und die mitverantwortlich für die verheerende aktuelle Investitionskrise zu Lasten jeder nachhaltigen Infrastrukturförderung ist. Kurzum: Wer für seine Entlastungsprogramme der Reichen keine Kredite aufnehmen will, kann das Geld logischerweise nur den sozial Benachteiligten wegreißen. Brutaler kann Klassenkampf von oben nicht verkündet werden.


Marktanbeterei oder sozial-ökologisches Kontrastprogramm?

SPD, Grüne, Linkspartei, selbst die nicht-linke, in anderen Politikfeldern eher reaktionäre Wagenknecht-Partei setzen völlig andere Akzente: Aufweichung der verheerenden Schuldengrenze, höhere Steuern für Reiche und florierende Unternehmen, um soziale Programme zu finanzieren. In der Sozialpolitik geht es um den Ausbau des Sozialstaates, um die Sicherung und Verbesserung der Renten und um die die Bekämpfung von Armut. Alle setzen auf eine Erhöhung des Mindestlohns und auf bessere Arbeitsbedingungen.

Völlig inkompatibel sind reaktionär-konservativ-liberale mit sozialökologischen Zielsetzungen auch in der Umwelt- und Klimapolitik. Während rechts von der politischen Mitte über Aufweichung der Klimaziele, Neuerweckung der Atomenergie und Beibehaltung des Verbrennermotors philosophiert wird, geht es Roten und Grünen um das exakte Gegenteil: um ambitionierte Klimaziele und um den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien. Hier wäre es allenfalls der Wagenknecht-Fanclub, der dem rechten Spektrum zur Seite springt.

Nahezu unvereinbar sind die Differenzen nicht zuletzt in der Migrationspolitik, wobei auch hier die „Wagenknechte“ eher auf CDU-Seite stehen. Obwohl selbst in Privatunternehmen aufgrund des demografischen Wandels nach besseren Voraussetzungen von Zuwanderung geworben wird, scheinen große Teile der Union noch unbeirrt ihrer jahrzehntelang vertretenen Analyse nachzuhängen, nach der Deutschland schlichtweg kein Einwanderungsland sei. Geflüchtete Menschen will ein CDU-Merz – analog seiner Interpretation des Dublin-Abkommens – allenfalls noch über Nord- oder Ostsee zulassen. Nur: da kommt wohl auch in Zukunft niemand per Schlauchboot an. Kurzum: Geflüchtete werden schlichtweg, getreu dem Motto „Seht selbst, wie ihr überlebt!“, ihrem Schicksal überlassen.

Last, but not least firmiert das Thema Rüstung und Frieden am Horizont: Wer, wie große Teile der Union, mit Drohgebärden, Ultimaten und Taurus-Lieferungen gegen das kriegerische Russland agitiert, riskiert sehr real, dass irgendwann die Schwelle zur Kriegsbeteiligung der NATO überschritten wird. Trotzdem spielt man hier unbeirrt weiter ein verhängnisvolles Spiel – die Hofreiter-Fraktion der Grünen leider eingeschlossen. Wäre man konsequent den Kriegsappellen eines CDU-Kiesewetters gefolgt, hätte Deutschland schon längst alle Grenzen zur Kriegsgefahr überschritten. Nur: Wer weiter auf Aufrüstung mit gigantischen Summen setzt, anstatt dieses Geld in den realen Dritten Weltkrieg gegen den globalen Klimawandel und zur Linderung des weltweiten Hungers einzusetzen, begeht ein Verbrechen an künftigen Generationen.


Was folgt?

Es würde an die Selbstaufgabe der eigenen Grundsätze grenzen, sollte es einem der großen Lager gelingen, dem jeweils anderen die eigene Ideologie überzustülpen. Angesichts der realen Gefahren infolge eines Anwachsens der deutschen Rechten könnte umgekehrt der Zwang zu einer schwarz-roten wie schwarz-grünen Koalition kaum zu vermeiden sein. Der Trump-Staat jenseits des Atlantik macht alles nicht leichter.

Wünschenswert wäre es allerdings schon, zuvor in aller Seriosität Alternativen wie Minderheits- oder Expertenregierungen in Betracht zu ziehen, um Debatten und Entscheidungen in das demokratische Parlament zu verlagern. Aber egal, wie man es wendet: Zukunftskooperationen werden angesichts der riesigen Differenzen unter den demokratischen Lagern streitiger denn je werden. Im Gegensatz zur Ampel könnte man vage auf schnellere Gesetzgebungsverfahren und mehr Professionalität in der Außendarstellung hoffen. Viel mehr als Kosmetik wäre dies allerdings nicht. Streit im künftigen Regierungsbündnis, völlig gleich, von welchen demokratischen Kräften es getragen wird, ist also so gewiss wie die Zukunft. Zugleich ist er ein unbezahlbarer Dienst an der Demokratie. Empfänden Menschen das Parteienspektrum jenseits der AfD nur als uniforme, synchron geschaltete Masse, wäre dies fatal für die Republik.

Als demokratisch denkende Menschen sollten wir demokratische Dispute also akzeptieren. Enden dürften grundlegende Streit-Kooperationen nur, sobald eines der demokratischen Lager wieder eine demokratische Mehrheit besitzt. Zugegeben: Nicht realistisch. Aber die Hoffnung auf Gutes stirbt ja zuletzt.

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