Donnerstag, 25. April 2024

Lange vergessen, heute präzise erforscht: das Osnabrücker Schienen-KZ

Das Osnabrücker Schienen-KZ Hörne

Volkshochschule und die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit widmeten sich am Donnerstagabend einem brisanten stadtgeschichtlichen Thema. Karl Kassenbrock, der seine Forschungsergebnisse im Vortragssaal der Volkshochschule vorstellte, leistete mit seinem Vortrag einen wichtigen Beitrag, um 77 Jahre nach Kriegsende zentrale Wissenslücken der Stadtgeschichte zu schließen.

Auf dem Betriebsbahnhof Hörne gab es nämlich von Oktober 1944 bis April 1945 ein KZ-Außenlager. Es war zunächst dem KZ Buchenwald, dann dem KZ Mittelbau und ab Januar 1945 dem KZ Sachsenhausen unterstellt. Untergebracht waren die Häftlinge allerdings nicht in altbekannten Holzbaracken. Die Malträtierten der „5. SS-Eisenbahnbaubrigade“ wurden in einem Güterzug zusammengepfercht, der für etliche Häftlinge ihre letzte Lebensstation darstellte.

 

Ein Blick zurück: Osnabrück als KZ-Standort?

Womöglich hätte es örtlichen Geschichtsforschern weit eher auffallen können: Bereits bei den Nürnberger Prozessen, die zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 gegen führende Nazi-Verbrecher durchgeführt wurden, konnten NS-Angeklagte wie Ankläger mit einem dramatischen Film konfrontiert werden, der sich in Gestalt leidvoller Dokumentationen mit dem Massenmord in allen Konzentrationslagern auseinandersetzte. Das Überraschende für die hiesige Region: Auch Osnabrück zählte damals auf der Landkarte des alten Reiches zu den Standorten von Konzentrationslagern. Welche Einrichtung die damaligen Filmemacher dazu bewegte, Osnabrück entsprechend zu markieren, blieb lange auf vage Vermutungen gestützt.

Selbst die facettenreiche Nachkriegsforschung hat diese Feststellung bis in die jüngste Zeit hinein nicht überzeugend untermauern können. Mit der von Volker Issmer angestoßenen Forschung zur Geschichte des „Arbeitserziehungslagers“ Augustaschacht begann zumindest die Gewissheit, dass es hier mindestens eine KZ-ähnliche Einrichtung gab, in der Mord und Folter an der Tagesordnung war. Später kamen Erkenntnisse über die „II. SS-Baubrigade“ hinzu, die mit einem Teil ihrer Häftlingsmannschaft ein KZ-Außenlager in Osnabrück einrichtete.  Die Häftlinge der SS-Baubrigade II aus dem KZ Neuengamme waren zu Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen während des Winters 1942/43 eingesetzt und in der Overbergschule untergebracht. Ab Herbst 1944 verrichteten die in der VHS-Veranstaltung thematisierten Häftlinge der 5. SS-Eisenbahnbaubrigade Reparaturarbeiten im Streckennetz der Reichsbahndirektion Münster. In Osnabrück waren sie im Stadtgebiet bei Aufräumarbeiten, zur Bombenräumung und im Behelfsheimbau eingesetzt. Ein 1. Bauzug operierte von der Blockstelle Leeden bei Hasbergen aus auf der Osnabrücker Südumgehung und in Rheine.

 

„KZ auf Schienen“

Es ist das bleibende Verdienst von Karl Kassenbrock, mit seiner umfangreichen Arbeit eine wichtige Lücke in der Erforschung von NS-Folterstätten geschlossen zu haben. Kassenbrocks Thema, die 5. SS-Baubrigade war, wenn diese makaber anmutende Bezeichnung erlaubt ist, eine Art „KZ auf Schienen“. Von Oktober 1944 bis April 1945 war es in Osnabrück in einem Güterzug auf dem Betriebsbahnhof Hörne stationiert.

Der 69jährige Forscher Karl Kassenbrock ist seit nahezu 12 Jahren eng mit dem Thema, dem er auch ein detailreiches Buch gewidmet hat, befasst. Er ist pensionierter Lehrer und wohnt in Osnabrück. Anlässlich seiner Forschungen zur „5. SS-Eisenbahnbaubrigade“ interessiert er sich vor allem für das Schicksal der im Verlauf des gesamten Einsatzes mehr als 700 KZ-Häftlinge.

 

Im Rahmen des Informationsabends nannte der Referent zunächst die wichtigsten Fakten: Die Häftlinge mussten vor allem Bombenschäden an den Eisenbahnanlagen beseitigen, um den Nachschub für die „Vergeltungswaffen“ zu liefern, wie die Marschflugkörper „V1“ und die Flüssigstoffraketen „V2“ genannt wurden. Nur intakte oder zumindest reparierte Schienen konnten im Nazi-Sinn absichern, dass ihre Terrorwaffen noch inmitten der letzten Kriegsmonate in Richtung London und Antwerpen abgefeuert werden konnten.

Von Ende 1944 bis zum Kriegsende zählten die Gefangenen zuweilen sogar zum öffentlichen Erscheinungsbild im Stadtgeschehen. Die KZ-Häftlinge waren dabei eingereiht in rund zehntausend Zwangsarbeitende, die aus ihren jeweiligen Lagern herangekarrt worden waren, um Trümmer wegzuräumen, Leichen zu bergen und Bomben aus ihren Kratern zu holen. Sie müssen somit, dies lässt sich zwingend vermuten, mit ihrer gestreiften KZ-Montur durchaus Gesprächsstoff für damalige Osnabrückerinnen und Osnabrücker abgegeben haben. In Wahrheit blieben sie über Jahrzehnte ganz offenkundig einen Teil kollektiver Verdrängung des Nazi-Alltags. „Die Zeitzeugen müssen sich danach fragen lassen“, blickte Karl Kassenbrock auf die damalige Osnabrücker Zeitzeugen zurück.

Was das mangelnde Interesse der Nachkriegsjahrzehnte noch empörender macht: Mindestens 40 Häftlinge starben, so Kassenbrock, während des Einsatzes in Osnabrück durch Erschöpfung, Misshandlung oder Erschießung. 20 gelten bis heute als vermisst. Über 200 wurden in die KZ-Stammlager Mittelbau und Neuengamme zurückgebracht, um dort in aller Regel wegen ihrer „Arbeitsunfähigkeit“ zu sterben.

 

Furchtbare Arbeits- und Lebensbedingungen

In seinem Vortrag zeichnete Referent Karl Kassenbrock ausgiebig vor allem die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Osnabrücker KZ-Häftlinge anhand historischer Quellen und Augenzeugenberichte nach. Ein Zitat hatte es dem Vortragenden besonders angetan: „Lumpen, keine Kleidung, fast nichts zu fressen, entsetzlich schlechte Behandlung, Kälte und schwere Arbeit, dazu kamen noch fortdauernd Bomben …«

Mit diesen zitierten Worten hat ein ehemaliger Häftling die Lebensverhältnisse in der 5. SS-Eisenbahnbaubrigade beschrieben. Das offizielle Einsatzgebiet der 500 Häftlinge war das Streckennetz um die Eisenbahnknotenpunkte Osnabrück und Rheine. Die Baubrigade besaß die Order, die durch alliierte Luftangriffe entstandenen Schäden an den Bahnlinien zu beseitigen, um den militärischen Nachschub zu sichern. Auf der Grundlage bisher kaum beachteter Quellen, darunter das Einsatztagebuch der Brigade und zahlreiche Augenzeugenberichte, hat Kassenbrock die Organisation der 5. SS-Eisenbahnbaubrigade, die Arbeitseinsätze und die Lebenssituation der KZ-Häftlinge beschrieben. Flankierend hat der Autor die Biografien einzelner Häftlinge rekonstruiert und weitere Einblicke in den Alltag der Brigade aus der Sicht der Betroffenen ermöglicht. Seine Erkenntnisse gewann der Forscher über Dokumente, Briefe, Protokolle sowie das Tagebuch der Arbeitseinsatzleitung der 5.SS-Eisenbahnbaubrigade. Überstellt worden waren die 500 Häftlinge, die zuvor oft schon in verschiedenen anderen Konzentrationslagern inhaftiert waren, dem Konzentrationslager Buchenwald bzw. dessen ehemaligen Außenlager Mittelbau-Dora, das zum 1.10.1944 selbstständiges KZ wurde. Ab 1.1.1945 fiel die formale Zuständigkeit für die SS-Bau- und Eisenbahnbaubrigaden an der KZ Sachsenhausen. Häftlingsaustausche fanden jedoch mit dem KZ Neuengamme statt.

Kassenbrock projizierte eindrucksvolle Fotos und Abbildungen und dokumentierte damit die unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Häftlinge leben mussten. Alle waren in rund 50 umgerüsteten Güterwaggons untergebracht. In einem einzigen Waggon waren 24 Häftlinge zusammengepfercht, die ihre Nächte in dreistöckigen Verschlägen verbringen mussten. 24 Männer teilten sich einen Raum von 6,90 mal 2,70 Meter. Kassenbrock stellte recht anschaulich ganze Tagesabläufe der Häftlinge dar. Beginnend vom frühmorgendlichen Appell, körperlich schwerer Tagesarbeit bis hin zum abendlichen Verschließen der Waggontüren zeichnete sich die wahre Tortur des Alltags ab. An sechs Tagen der Woche musste jeweils bis zu 12 Stunden gearbeitet werden. Statt nötiger 3.500 Kalorien gab es allenfalls 800 bis 1.000 für die Nahrungsaufnahme. Die Verpflegung bestand aus Brot, Margarine und Rübensuppe, was zu ständigen Durchfallerkrankungen führte. Flankiert war alles von mangelnder Hygiene, miserabler Versorgung und brutaler Gewalt durch die KZ-Aufseher. Ihren Tod oder lebenslange Schädigungen erfuhren die Häftlinge nicht allein durch Wachpersonal und brutale „Kapos“, sondern auch durch alliierte Bombenangriffe, denen die Opfer ohne jeden Schutz ausgeliefert waren.

Kassenbrock schilderte auch das Schicksal einiger Häftlinge der Baubrigade. So wurde aus dem dänischen Offizier und KZ-Häftling Flemming B. Larsen nach dem Krieg ein NATO-General und Chef über mehr als 60000 dänische und deutsche Soldaten. Andere, wie der 23jährige Russe Stepan Karawajew und 40 seiner Kameraden, starben in Osnabrück. Mehrere von ihnen wurden, wie es im Häftlingseinsatztagebuch lapidar heißt, „ auf der Flucht erschossen“.

 

Täter blieben ohne Anklage

Am Ende musste Karl Kassenbrock einräumen, dass von den Verantwortlichen der wachhabenden SS nach dem Krieg nicht ein einziger zur Rechenschaft gezogen worden ist. Weder Politik noch Justiz haben ausreichend intensiv versucht, die Schuldigen zu fassen. Ganz im Gegenteil: Viele Täter durften in der Bundesrepublik noch eine ansehnliche Karriere machen. Insofern reihten sie sich erfolgreich in den Wiedereinzug unzähliger Ex-Nazis in Verwaltungen, Unis, Gerichte, Kasernen und Chefetagen von Unternehmen ein, was die Adenauer-Regierung allzu gern auf den Weg gebracht hatte.

Wer mehr erfahren möchte, sollte jenes Buch erwerben, in dem alles genau nachzulesen ist: Karl Kassenbrock, „Konzentrationslager auf Schienen, Die Geschichte der 5. SS-Eisenbahnbaubrigade“, Göttingen: Wallstein Verlag, 2019, 245 Seiten, 26,90 Euro, ISBN 978-3-8353-3419-9.

 

spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Instagram
Spotify