Sonntag, 28. April 2024

Niedersachsenwahl 2022: Osnabrücker Einsichten

Ein Kommentar zur Landtagswahl von Heiko Schulze

Kriegsfurcht, explodierende Energiepreise, Rekordinflation, nicht zu vergessen wachsende Corona-Zahlen: Selten in der jüngsten deutschen Geschichte fanden Landtagswahlen unter derartig dramatischen Bedingungen statt. Wahlsieger Stephan Weil dürfte in dieser Krise so etwas wie die Sehnsucht der Menschen verkörpern, Probleme ohne populistische Effekthascherei anzupacken. Noch mehr als in ganz Niedersachsen drückt besonders das Osnabrücker Wahlergebnis aus, dass Vertrauen und Glaubwürdigkeit mehr zählen als Leerformeln, Scheinalternativen und verballerte Werbeetats aus Parteispenden der Großwirtschaft.

Warnblinklichter bitte anschalten!

Dies sollte vorab gesagt werden: Mehr als eine bittere Pille war aus Sicht aller demokratischen Parteien das Abschneiden der AFD. Zwar können sich Wählerinnen und Wähler in der Hasestadt zugutehalten, dass die Rechtsaußen vor Ort mit ihren hetzerischen Parolen nur etwa halb so stark sind wie im Landesdurchschnitt. Trotzdem sind rund 6% auch in Osnabrück ein Rekordergebnis für die Hetzpartei. Kein Grund zur Panik. Aber eine Pflichtaufgabe für all diejenigen inklusive seriöser Medien, dem hetzerischen Stumpfsinn Aufklärung entgegen zu setzen. Im Vergleich zu anderen Städten und Regionen des Landes ist die Friedensstadt Osnabrück mit erlebbarer Toleranz auf gutem Wege. Trotzdem können wir besser werden. Arbeiten wir gemeinsam daran!


Freier Fall für Konservative und Neoliberale

Eine ganz andere Ebene der Betrachtung bildet der Wettstreit unter demokratischen Parteien. Hier ist der Befund eindeutig: Was sich bereits bei den Wahlen zum Stadtrat und zum Bundestag angedeutet hat, konnte die Landtagswahl eindrucksvoll bestätigen: Insbesondere die örtliche CDU befindet sich seit einigen Jahren im freien Fall: Mit 23% weit weniger als ein Viertel (!) der Wähler*innen trauen es der Osnabrücker CDU derzeit noch zu, Politik für sie zu machen. Ein historisches Desaster. Offenkundig bildete der Erfolg der Kandidatin Katharina Pötter bei den OB-Wahlen allein deshalb einen Einzelfall, weil dieses Votum klar als Persönlichkeitswahl gesehen werden muss. Parlamentarische Wahlen belegen dagegen nun zum dritten Mal hintereinander deutlich, dass konservatives und neoliberales Denken insbesondere bei Menschen jüngeren und mittleren Alters ohne zählbare Resonanz in der Hasestadt bleibt. Massiver Mitteleinsatz, der die Wahlkampfetats aller restlichen Parteien weit in den Schatten stellen dürfte, hat offenkundig nicht fruchten können.

Bei eher stabilen rot-grünen Mehrheitsstrukturen bleibt es aus derzeitiger Sicht allein spannend, ob SPD oder Grüne im partnerschaftlichen Wettstreit die Nasen vorn haben. Bei der Kommunalwahl waren es die Grünen, bei Bundes- und Landtagswahlen war es eindeutig die Sozialdemokratie. Rund 30% der Zweitstimmen dürften Genossinnen und Genossen zufrieden stellen. Die Grünen sind ihnen mit bis zu 28% sportlich eng auf den Fersen. Warten wir ab, wie sich dieses Duell unter Geschwistern weiterentwickelt!

Boris Pistorius bei der StimmabgabeBoris Pistorius bei der Stimmabgabe
und Volker Bajus in der Lagerhalle bei der Feier der Grünenund Volker Bajus in der Lagerhalle bei der Feier der Grünen

Personen statt Programme

Belegt wurde bei der Landtagswahl auch, dass angesichts der aktuellen Krise offenkundig auf Personen und um das in sie gesetzte Vertrauen, weniger auf programmatische Ziele gesetzt wird. Dies muss im Interesse einer demokratischen Streitkultur bedauert werden, zählt aber zum Befund. Beispielhaft deutlich wird dies am Erststimmenergebnis der beiden wiedergewählten Landtagsabgeordneten. Während das Resultat des Sozialdemokraten Frank Henning als klar und solide gedeutet werden kann, ragt insbesondere jenes mit fast 40% sensationell hohe Ergebnis seines Genossen Boris Pistorius heraus. Erreicht wurde es in Stimmbezirken, die noch vor wenigen Jahren eine Domäne der CDU gebildet haben.


Fragen, die bewegen

Wagte man es dennoch, aus dem Wahlergebnis ein Votum für programmatische Antworten sehen zu wollen, fallen zunächst alte konservative Ladenhüter auf, die offenkundig nicht mehr fruchten: Die noch von einem Ministerpräsidenten Christian Wulff geschürte Panik vor neuen Gesamtschulen dürfte endgültig Vergangenheit sein. Starke Justiz und handlungsfähige Polizei sind längst keine Domäne von Konservativen mehr, sondern werden weit eher auch Menschen aus dem rot-grünen Lager zugetraut. Allein das Desaster der FDP belegt, dass der hektische Schutz der 1% Reichsten keinesfalls als Beitrag zur Stabilität, sondern zur gesellschaftlichen Spaltung angesehen wird. Über den Bundesrat für mehr Besteuerungen reich gefüllter Taschen zu kämpfen, hat jeden Schrecken verloren. Last, but not least haben altkonservative oder liberale Appelle nach dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ längst jede Attraktivität eingebüßt. Die große Mehrheit will längst mehr Tempolimits und neue Radwege. Kurzum: soziale und ökologische Ziele bilden die Richtschnur zukünftigen Handelns – in Europa, in Deutschland, in Niedersachsen und in Osnabrück. Es bleibt allerdings harte Arbeit, jene Ziele angesichts der desaströsen Zeitumstände und des Erstarkens von Kräften rechtsaußen bestmöglich umzusetzen.

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