Mittwoch, 24. April 2024

OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 29: Hermann Tempel

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.


Hermann Tempel
Auch eine deutsch-niederländische Geschichte

Der SPD-Reichstagsabgeordnete Hermann Tempel (1889-1944) vertritt von 1925 bis 1933 den Wahlkreis Weser-Ems, zu dem auch Bremen wie Osnabrück zählt. Zwischen Bad Iburg, Bremen und den ostfriesischen Inseln wird der gefragte Redner vor allem in der Endphase der Republik ständig bemüht sein, in Kundgebungen vor den Folgen einer Nazi-Machtübernahme zu warnen. Tempel, beheimatet im ostfriesischen Leer, besucht Osnabrück bemerkenswert oft mit jederzeit großer Resonanz. 1933 muss er vor den NS-Machthabern in die Niederlande fliehen. Dort hält er engen Kontakt mit Gleichgesinnten. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1940 versteckt er sich, wird von der Gestapo aber aufgegriffen und inhaftiert. Geschunden und schwer krank kehrt er ins Reich zurück und wird zunächst im Osnabrücker Polizeigefängnis eingesperrt. Als Folge zahlloser Verhaftungen und Misshandlungen stirbt der Antifaschist ein halbes Jahr vor Kriegsende in Oldenburg. Wer war dieser Mann mit oft traurig anmutendem Blick und rundlicher Brille?


Person und Werdegang

Der heranwachsende Hermann Tempel, Sohn eines Volksschullehrers, besucht die Volksschule in Ditzum. Der beschauliche Ort ist ein Fischer- und Hafendorf am Südufer der Unterems in Ostfriesland. Es befindet sich etwa zwei Kilometer vor deren Mündung in den Dollart. Infolge des teuren Schulgeldes ist dem jungen Hermann, der gemeinsam mit drei Schwestern aufwächst, der Zugang zu einer höheren Schule verwehrt. Möglich ist ihm aber, wie bei seinem Vater, eine Ausbildung zum Volksschullehrer. Dazu absolviert er eine Präparandenanstalt und das anschließende Lehrerseminar in Aurich. Klaus Dede und Werner Vahlenkamp zitieren in ihrer 1979 erschienenen Tempel-Biografie auf Seite 6 einen Zeitzeugen und Mitschüler Friedrich Geerdes, der Tempel lebenslang gut kennt und dessen Verhältnis zu seinen Mit-Präparanden so ausdrückt:

„Sie liebten ihn nicht sonderlich, akzeptierten aber sein großes Wissen und Können und seine Charakterhaltung.“

Bereits in der Lehrerausbildung fallen seinen Mitschülern das große Redetalent, sein Fleiß und der immense Gerechtigkeitssinn des angehenden Pädagogen auf. Innerhalb der Ausbildungszeit führt Tempel einen für jene Zeit außergewöhnlichen Aufstand gegen einen unbeliebten autoritären Lehrer an, dessen Versetzung aufgrund dieser Proteste tatsächlich durchgesetzt wird. 1910 legt Tempel die Lehrerprüfung ab und ist fortan qualifiziert, die Klassen 1-9 einer klassischen Volksschule zu unterrichten. Zumal diese Schulform neun von zehn junge Menschen in Deutschland besuchen, entwickelt deren Lehrer bereits früh eine große Nähe zu Heranwachsenden. Schon als Junglehrer gibt er sich als entschiedener Schulreformer gegen die geistliche Schulaufsicht und gegen engstirnige Nationalisten zu erkennen.

Ein Jahr nach Kriegsbeginn 1914 wird Tempel zum Militärdienst eingezogen. Bis 1916 nimmt er als Infanterist am Ersten Weltkrieg teil, wo er hautnah die Schrecken eines bestialischen Weltenbrandes kennenlernt. Im Gefecht wird er schwer verwundet, weshalb er nicht mehr zur Front einrücken muss. Nach Kriegsende kehrt er als Lehrer einer evangelisch-reformierten Volksschule in Leer ins zivile Leben zurück. Von 1920 bis 1921 zieht es ihn sowohl in die Elbmetropole wie auch in die Reichshauptstadt. Tempel studiert an den Universitäten Hamburg und Berlin die Fächer Psychologie und Philosophie, ohne allerdings einen Abschluss erlangen zu können. Weil die horrende Inflation seine Geldmittel aufzehrt, muss er sein hoffnungsvoll begonnenes Studium aufgeben.


Erste Parteiaktivitäten

Im Alter von 30 Jahren tritt Tempel im Jahre 1919 der SPD bei. Seine Konsequenz aus den Kriegserlebnissen ist, dass er sich fortan auch öffentlich als Pazifist bezeichnet. Politisch bilden für ihn weder die 1917 abgespaltene USPD noch die frisch gegründete Kommunistische Partei eine Alternative. Vor allem die KPD lehnt er zusehends ab. Die Mehrheitssozialdemokratie erscheint ihm als Garant der Republik und des Parlamentarismus. Schnell gehört Tempel dem Bürgervorsteherkollegium, bald auch dem Magistrat seiner Heimatstadt Leer an. Seit 1924 wird er Mitherausgeber der von ihm geprägten regionalen SPD-Wochenzeitung „Volksbote“, für die er fortan leidenschaftlich und vielfältig schreibt. Reportagen, sachliche Berichte bis hin zu anspruchsvollen Gedichten machen sein textliches Repertoire aus. Schnell wird auch sein rhetorisches Talent entdeckt. 1924 avanciert der vielgefragte Versammlungsredner zum SPD-Reichstagskandidaten. 1925 wird er, zunächst als Nachrücker, Mitglied des Berliner Parlaments. Bis 1933 wird er seinen Parlamentariersitz verteidigen. Schwerpunkte seiner Reichstagarbeit sind Agrarpolitik, vor allem die bäuerliche Siedlung im Osten und die Neulandgewinnung an der Küste.

Tempel bei einer Reichsbannerkundgebung in Hannover 1932. Foto: Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Schon früh grenzt Tempel sich von den aufkommenden Nationalsozialisten ab. Die Sozialdemokratie dagegen erscheint geeinter als vorher. Die meisten Funktionsträger der USPD sind mittlerweile wieder in ihre vorherige Partei zurückgekehrt. Stets legt Tempel Wert auf eine große Loyalität gegenüber der Parteispitze und wird bis zum Ende Republik jede grundlegende Kritik am Kurs der Führung vermeiden. Insbesondere in der Parteilinken stößt er deshalb oft auf Kritik. Gleichwohl steht er zur Vision des demokratischen Sozialismus und damit einer nicht kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Am 25. Mai 1925 schreibt er im Volksboten, auf damalige Wahlniederlagen bürgerlicher Parteien und Erfolge der eigenen Partei blickend, aber durchaus zukunftsbezogen:

„… wir siegten, weil wir für eine Idee kämpften. Die Idee des demokratischen Sozialismus. (…) Der Kapitalismus ist der Appell an die Gier, nicht an die Seele des Menschen. Er kann nicht begeistern, er zieht die Menschen hinab.“

Intensiv ist Tempel um eine Verständigung mit den Völkern benachbarter Staaten bemüht. Oft nimmt er an Reisen zu Schwesterparteien im Ausland teil. Besonders eng sind seine Kontakte zu Gleichgesinnten in den Niederlanden. Mit Genossinnen und Genossen der dortigen Sozialdemokratie gibt es immer wieder gemeinsame Treffen auf beiden Seiten der Grenze. Nicht zuletzt seine internationale und friedliebende Gesinnung bringt Tempel zusehends in einen scharfen Gegensatz zu den erstarkenden Nationalsozialisten.


Scharfe Worte gegen rechts

Aus seiner Verachtung der braunen Hetzer macht Tempel niemals einen Hehl. Am 14. März 1930, noch ist die NSDAP schwächer als die SPD, beschreibt er im Volksboten, worum es sich für ihn bei den Nazis handelt:

„Beschäftigungslose Offiziere, aufgeputschte Bauern, um ihre Zukunft besorgte Studenten, unorganisierte und durch den Kommunismus infizierte Erwerbslose, politische Analphabeten aus den Mittelschichten, Lumpenproletarier des fünften Standes, die in den Verbrecherkneipen der Großstädte vorhanden sind: Das sind die Elemente, aus denen der Nationalsozialismus heute seine Banden rekrutiert.“

Mit diesem Duktus hält er es ähnlich wie der spätere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, der die Nazis im Reichstag am 23. Februar 1932 mit dieser Wendung konfrontiert und wie Tempel unbändigen wie unversöhnlichen Hass auf sich zieht:

„Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen. […] Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist.“

Angesichts derartiger Kommentare ist es kein Wunder, dass Tempel wie Schumacher für Deutschlands Braune schnell zu Todfeinden werden. Mit „Vaterlandsverrätern“ wie ihnen wollen sie eines Tages abrechnen. Schumacher wird später rund 10 Jahre lang im KZ interniert.


Dauergast in Osnabrück

Tempel ist während seiner Wahlkreisarbeit ständiger Gast im Zugabteil, um in unzähligen Orten des Wahlkreises auf Einladung jeweiliger SPD- oder auch Reichsbanner-Gliederungen gegen die Nazis aufzutreten. Die Wehrformation des republikanischen Reichsbanners, mit übergroßer Mehrheit der SPD zugetan, spricht den Ostfriesen besonders an. Regelmäßig ist er immer wieder auch in Osnabrück. Immer wieder werden seine Beiträge in der örtlichen SPD-Tageszeitung „Freie Presse“ abgedruckt. Vor allem seine profunden Abrechnungen mit den Nationalsozialisten erfahren im örtlichen SPD-Lager eine hohe Resonanz.

Wie selbstverständlich ist Tempel zuvor auch dabei gewesen, als das Osnabrücker Reichsbanner mit ihrem Leiter Adolf Staperfeld im Jahre 1928 am Herrenteichswall das Ebert-Erzberger-Rathenau-Denkmal einweiht. Der Republik soll ein, in moderne Bauhaus-orientierte Architektur geformtes Denk- und Mahnmal gesetzt werden. Der Ostfriese ist für die Osnabrücker SPD auch deshalb so wichtig, weil es während der Weimarer Jahre nicht gelingt, eine vor Ort lebende Person in den Reichstag zu entsenden. Walter Bubert ist im Krisenjahr 1923 der einzige SPD-Vertreter der Stadt, der, zumindest für kurze Zeit, dem Reichstag angehört. Die Osnabrücker Sozialdemokratin und preußische Landtagsabgeordnete Alwine Wellmann kandidiert in der Endphase der Republik im Regelfall auf Platz 4 der SPD-Wahlliste Weser-Ems. Zum großen Bedauern der örtlichen Parteimitglieder werden aber stets nur die ersten drei auf der Liste gewählt.

Nach einem kurzzeitigen SPD-Wahlsieg von 1928, der bis 1930 zum Kabinett einer Großen Koalition mit dem Reichskanzler Hermann Müller geführt hat, tritt auch bei Tempel eine große Ernüchterung ein, nachdem die sozialdemokratisch angeführte Regierung gescheitert ist. Vor allem die rechtsliberale Deutsche Volkspartei, aber auch das Zentrum drängen auf massive Einschnitte zu Lasten von Arbeitslosen. Nach vielen, oft unzumutbaren Kompromissen ist irgendwann Schluss. Die Sozialdemokratie sieht keine Perspektive mehr in einer weiteren Zusammenarbeit mit Parteien, welche die Wirtschaft allein auf Kosten der Schwächsten sanieren wollen. Ersetzt wird die Müller-Regierung durch das vom Reichspräsidenten von Hindenburg per Notverordnung eingesetzte Kabinett des Zentrumskanzlers Heinrich Brüning. Dessen Sozialabbau wird fortan Verarmung und Massenarbeitslosigkeit massiv forcieren. Am Ende zählen sechs Millionen Arbeitslose zur verheerenden Bilanz des christlichen Demokraten.


“Das war ein guter Mensch, der Hermann Tempel“

Vor allem in seiner Heimat, in der man ihn auch persönlich besser studieren kann, gilt Hermann Tempel als rundum bescheidener Zeitgenosse mit großem Herzen. Von Beginn seiner Parlamentstätigkeit an ist der lebenslange Junggeselle bekannt dafür, dass er nicht nur sein weitergezahltes Lehrergehalt, sondern auch bemerkenswerte Teile seiner Reichstagsdiäten immer wieder für soziale Zwecke, sehr häufig auch für einzelne Bedürftige spendet.

Dede und Vahlenkamp zitieren in ihrer erwähnten Tempel-Biografie auf Seite 28 Zeitzeugengespräche aus dem Jahre 1979, die in der Oldenburger Universität veranstaltet werden. Eine Frau sagt danach über ihn aus:

„Sogar ein Nazi, ein Schuhmachermeister in der Bremer Straße, hat gesagt, dass der Hermann Tempel soviel für die armen Leute getan hätte; er hat zum Beispiel Schuhe für die Schulkinder gekauft. Aber er wollte das nie erwähnt haben, das hat er immer im Stillen getan. Das war ein guter Mensch, der Hermann Tempel.“

An anderer Stelle der Zeitzeugengespräche ist davon die Rede, dass Tempel mindestens drei jungen ostfriesischen Männern sogar ein Studium ermöglicht. Auch Geselligkeit darf bei ihm nicht fehlen. Vor allem bei Treffen der Sozialistischen Arbeiterjugend sind es Teilnehmende gewohnt, dass Tempel „einen ausgibt“, Speise und Trank und zuweilen, soweit dort vorhanden, auch eine Runde Eis spendiert.

Plakat zu einem Reichsbannertreffen – Foto: Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand


„Faustrecht und Landsknechttum“

Seit 1932 löst die NSDAP die Sozialdemokratie als stärkste deutsche Partei ab. Blutige Straßenkämpfe, zumeist ausgelöst von den Schägerbanden der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), bestimmen zunehmend das Straßenbild. Die blutigen Gemetzel werden allein bis 1933 Hunderte von Todesopfern aus der Arbeiterbewegung fordern. Tempel sieht all dies als Vorboten dessen, was kommen könnte – und macht dies immer wieder zu Thema. Umso heftiger zieht er auch dadurch den Hass der Nazis auf sich. Seine Ausführungen lesen auch sie begierig, um eines Tages mit ihm abrechnen zu können. Der Alltagsterror hinterlässt schon vor 1933 tiefe Spuren: Die Redaktionsräume des Volksboten werden immer häufiger verwüstet, auch Fensterscheiben werden eingeworfen. Am 30. Dezember 1931 versucht Tempel im Volksboten einen Ausblick auf das „Schicksalsjahr 1932“. Er schreibt unter anderem:

„Seit dem Dreißigjährigen Krieg dürften Faustrecht und Landsknechttum im Lande der Dichter und Denker nicht mehr so gefeiert worden sein wie in diesen Tagen der Verseuchung unserer Volksmoral.“

Aktiv ist Tempel dabei, als sich 1931 die Wehrformation Reichsbanner, die Hammerschaften der Gewerkschaften sowie die Arbeitersportler zur „Eisernen Front“ zusammenschließen und dadurch rund bis zu drei Millionen kampfbereite Menschen organisieren. Wiederholt tritt Tempel, auch in Osnabrück, anlässlich zahlloser Veranstaltungen und Demonstrationen als Hauptredner gegen die braune Gefahr auf. Vermehrt müssen sich sozialdemokratische Platz- oder Saalordner auch an der Hase gegen brutale Störer aus SA-Reihen wehren, die auch vor lauten Morddrohungen nicht zurückschrecken. Tempel erwirbt sich dabei den Ruf, seine Redetätigkeit auch im Fall von Nazi-Tumulten ruhig, mutig und beharrlich fortzusetzen.

Besonders heftig und militant sind die NS-Aktionen gegen Tempel in seiner Heimatstadt Leer. Nicht gerade selten müssen dort Polizeikräfte seine Wohnung schützen. Nach dem sogenannten „Preußenputsch“ am 20. Juli 1932, bei dem sich die SPD-Landesregierung des Ministerpräsidenten Otto Braun widerstandslos durch Reichskanzler Franz von Papen absetzen lässt, ist es zunehmend mit dem Polizeischutz für sozialdemokratische Versammlungen vorbei. Nach und nach drängen SA- und SS-Mitglieder in die Polizei ein, während Sozialdemokraten dort entlassen werden. Anlässlich des letzten Wahlkampfes 1933 müssen alle Aktivitäten der Arbeiterparteien KPD und SPD außerdem noch zunehmend unter rigiden Presse- und Versammlungsverboten leiden.

„Sie werden aus Deutschland eine große Kaserne, ein großes Zuchthaus machen“, wird von einem Zeitzeugen aus einer der letzten Wahlkampfreden Tempels zitiert, die er in einem Leeraner Jugendheim hält. Irgendwann geht es Schlag um Schlag. Schon am 28. Februar wird Tempels „Volksbote“ verboten. Damit verliert er die letzte legale Möglichkeit, sich in Deutschland öffentlich mit Artikeln zu äußern. Wahlkampf ist auch Tempel in den letzten Wochen vor der Wahl unmöglich gemacht worden.

Nach der Reichstagswahl am 5. März zählt Hermann Tempel am 24. März dennoch zu jenen 94, bis dahin nicht verhafteten oder krankenhausreif geprügelten SPD-Reichstagsabgeordneten, welche – die KPD war bereits verboten – mutig als einzige gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmen. Auch deshalb trifft ihn, wie seine anwesenden Genossinnen und Genossen, zusehends der Bannstrahl der NSDAP. Als die SPD am 22. Juni 1933 auch offiziell verboten und damit zur kriminellen Vereinigung erklärt wird, liegt die gesamte Arbeiterbewegung bereits in Trümmern. Hitlers Willkürherrschaft ist endgültig der Weg geebnet.

Legale Zusammenkünfte sind längst nicht mehr möglich. Sie werden mit sofortiger Verhaftung und Misshandlung der Verantwortlichen beantwortet. Die ersten, zunächst von der SA kontrollierten Konzentrationslager werden eröffnet. Tausende von Kommunisten und Sozialdemokraten werden dort zur „Umerziehung“ eingepfercht. Etliche werden bereits in den ersten Wochen gefoltert und umgebracht. Immer mehr fliehen aus ihrer Heimat.

Tempel selbst kann irgendwann nicht mehr in seine bewachte Wohnung in Leer zurück. Er übernachtet zunächst bei nahestehenden Menschen in Aurich oder Oldenburg. Noch 1937 werden sich Gestapo-Beamte gegenüber dem preußischen Innenminister darüber empören, wie lange Tempel sich noch trotz Verboten betätigt hat:

„Noch am 5.5.33 hat Tempel in Schüttorf eine SPD-Versammlung einberufen, in der er die anwesenden Personen aufforderte, trotz des Verbotes der SPD zusammenzuhalten und im alten Sinne weiterzuarbeiten.“

Selbst wenn Tempel nach abgebüßten Haftstrafen im Deutschen Reich verblieben wäre, hätte er dort kaum eine Existenzgrundlage mehr besessen. Mit Wirkung vom 1. September 1933, er ist längst nicht mehr in Deutschland, wird er auf Erlass des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung offiziell aus dem öffentlichen Schuldienst entlassen. Weil ihm diese Entscheidung nicht mehr persönlich zugestellt werden kann, wird das Schriftstück öffentlich an die Gemeindetafel geheftet.


Flucht nach Amsterdam

Couragierte Genossen sind es, die Tempel am Ende als letztem Ausweg die Flucht in die Niederlande ermöglichen. Mit einem geliehenen Auto bringen sie ihn an die deutsch-niederländische Grenze, von der er sich allein zu Fuß weiter durchschlägt. Ende Juni 1933 trifft er, mit ganzen 150 Reichsmark in der Tasche, in Amsterdam ein.

Schnell nimmt er Kontakt zu Angehörigen der niederländischen Sozialdemokratie auf, die ihm aktiv dabei helfen, sein neues Lebensumfeld zu organisieren und ihm später auch eine bescheidene Dachgeschosswohnung verschaffen. Irgendwann muss Tempel nicht mehr von Unterstützungsgeldern seiner Genossen leben, sondern kann sich mit der Erteilung privaten Deutschunterrichts mehr schlecht als recht durchschlagen. Seine Amsterdamer Adresse lautet Lomanstraat 100. Einen kleinen Zusatzverdienst zu kärglichen Nachhilfegeldern und der Übersetzung von geschäftlichen Korrespondenzen gewinnt er über das Schreiben von Artikeln in Zeitungen. Hierzu heißt es in einem Spitzelbericht in den Niederlanden:

„Im Jahre 1933 kam er nach Amsterdam und ist Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen; für welche Zeitungen er arbeitet, ist nicht bekannt, jedoch wird angenommen, dass er nur Artikel schreibt für linksstehende Parteien.“

Notgedrungen liegt der Schwerpunkt seines Wirkens fortan in der eigenen Existenzsicherung. Psychisch befindet er sich in einer schlimmen Krisensituation. Offenkundig fehlen ihm Familie und die ostfriesische Heimat. Tiefe Depressionen und Heimweh machen Tempel immer häufiger zu schaffen. Zugute kommt ihm andererseits sein Sprachtalent: Schnell spricht er gut und immer fließender Niederländisch. Offenkundig sind es hauptsächlich Nachhilfestunden, mit denen er auf das nötige Mindesteinkommen kommt. Für das Reisen fehlt ihm jegliches Geld.

Als später im Reich seine Mutter stirbt, was ihn ungemein trifft, ist es ihm aufgrund drohender Inhaftierung verwehrt, deutschen Boden zu betreten. Vor allem brieflich, selten auch durch Besuche bei ihm in Amsterdam, hält der vormalige Abgeordnete seine Verbindungen zur Partei aufrecht, die zunächst Prag, nach dessen Besetzung durch die Wehrmacht Paris zum Sitz ihres Exilvorstandes macht. Auch mit maßgebenden Sozialdemokraten wie Hans Vogel oder dem späteren SPD-Bundesvorsitzenden Erich Ollenhauer korrespondiert Tempel regelmäßig und bestärkt alle in ihrem Kurs, im Exil keine Parteispaltung zuzulassen. In Amsterdam fungiert Tempel als Vorsitzender einer überschaubar kleinen Ortsgruppe der SPD, in der man sich zumindest regelmäßig austauschen kann.


Illegale SPD-Konferenz in Almelo: auch Osnabrücker sind dabei

Ein schicksalhaftes Ereignis geschieht Ende 1936. Alles passiert in Almelo, einer Kleinstadt in der Provinz Overijssel. Rund 120 km ist der anmutige Ort von Osnabrück entfernt. Folgt man den Eintragungen auf einer Gestapo-Karteikarte, die sich in diesem Fall auf den jungen Osnabrücker Sozialdemokraten Hermann Olthuis bezieht, findet zum besagten Zeitpunkt eine illegale SPD-Konferenz statt. Die Teilnehmenden stammen überwiegend aus Osnabrück und Nordhorn.

Prägende Gestalt der Zusammenkunft ist der dazu aus Amsterdam angereiste Hermann Tempel. Auf dem Treffen wird intensiv über einen Neuaufbau der deutschen Sozialdemokratie diskutiert. Ernst Schumacher, im niederländischen Exil zuständig für das Gebiet zwischen Arnheim und Amsterdam als „Grenzsekretariat West“, ist für den Exilvorstand der SPD dabei und beteiligt sich in besonderer Weise mit Berichten und Diskussionsbeiträgen. Später wird er bis 1953 den Verlag Neuer Vorwärts in Bonn leiten.

Hermann Olthuis, Heinz Listemann und Frau Maria sind neben anderen extra aus Osnabrück angereist, um dabei zu sein und im Kreise Gleichgesinnter endlich wieder Hoffnung auf eine Zeit nach dem Faschismus zu schöpfen. Laut der auf ihn bezogenen Gestapo-Karteikarte hat die Almeloer SPD-Konferenz einen wichtigen Organisator: Es ist der Osnabrücker Schriftsetzer Rudolf Möllmann, der selbst nicht anreist ist, aber gemeinsam mit seinem Bruder Hermann seit langem illegale, in den Niederlanden gedruckte SPD-Schriften nach Deutschland schafft. Für seine Arbeit nutzt er die später beschlagnahmte, frühere Schreibmaschine der verbotenen Freien Turnerschaft Osnabrücks.

Was die Teilnehmenden nicht einkalkuliert haben: Inmitten des Treffens hockt ein unerkannter Spitzel. Die Gestapo wird daraufhin in Deutschland genau über das Treffen informiert. Während Tempel nach Amsterdam zurückkehren kann, werden die Osnabrücker sofort nach Grenzübertritt festgenommen und wegen „Hochverrats“ angeklagt. Das Oberlandesgericht Hamm verurteilt Olthuis wie Listemann zu mehr als vier Jahren Zuchthaus. Auch Stricker wird fast zwei Jahre lang inhaftiert. Rechtsanwalt von Olthuis und Listemann ist in Osnabrück der VfL-Vereinsführer und Rechtsanwalt Hermann Gösmann, der dieses Mandat freiwillig übernimmt. Die beiden SPD-Genossen werden ihrem Anwalt dies später nach 1945 bezeugen, als es um dessen Entnazifizierung geht.

Noch dramatischer als für andere wird sich seine Teilnahme rund vier Jahre später für Hermann Tempel auswirken. Alle Aufzeichnungen werden von der Gestapo sorgsam aufbewahrt, um ihm irgendwann den Prozess zu machen. Eine erste Repressalie kommt auf den Geflüchteten bereits 1937 zu, wobei die Erkenntnisse der Almelo-Konferenz eine zentrale Rolle spielen. Im Oktober des Jahres wird Tempel ausgebürgert und verliert die deutsche Staatsbürgerschaft. Als nun Staatenloser wird es für ihn, selbst in den als liberal und tolerant geltenden Niederlanden, zunehmend schwieriger, ein normales Alltagsleben mit den dazu nötigen Papieren zu führen.


Einmarsch der deutschen Wehrmacht

Der Überfall der nationalsozialistischen Wehrmacht auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg beginnt am 10. Mai 1940. Zigtausende deutscher Emigranten, die sich, wie auch Hermann Tempel, im schnell eroberten demokratischen Staat sicher gefühlt haben, geraten in Panik. Betroffen sind vor allem Jüdinnen und Juden, aber auch Sozialdemokraten wie Tempel. Nach der Bombardierung von Rotterdam und der Zerstörung von Middelburg erfolgt am 17. Mai, nach nur einer Woche, die Kapitulation der gesamten Niederlande. Nicht lange dauert es, dass deutsche Soldaten auch in Amsterdam und Den Haag patrouillieren. Umgehend richtet in der Folgezeit auch die Geheime Staatspolizei ihre Büros ein, um eine systematische Verfolgung jüdischer Menschen und politischer Gegner einzuleiten.

Almelo: eine alte Stadtansicht, festgehalten auf einer PostkarteAlmelo: eine alte Stadtansicht, festgehalten auf einer Postkarte

Zügig verlässt Tempel, dessen ersehnte Ausreise nach Großbritannien nicht mehr gelingt, seine Dachwohnung und versteckt sich zunächst in der Umgebung der Stadt in einem Heim der sozialistischen Jugend. Zum Schluss kauert er dort auf einem niedrigen Dachboden und wird in dieser Zeit von niederländischen Genossen mit Nahrung versorgt. Die anrückende SS zwingt ihn zur Suche nach einer anderen Unterkunft. Er findet sie bei einem Ehepaar Meyer in Amsterdam. Doch die Gestapo ahnt Tempels Zufluchtsort und durchkämmt das gesamte Haus, in welchem sie ihn allerdings zunächst nicht antreffen.

An seinem neuen Fluchtort erfährt Hermann Tempel, dass die Nazi-Beamten an seiner Stelle den Hauswirt seines vormaligen Verstecks festgenommen haben. Unerträglich ist die Angst des Gesuchten, dass fortan womöglich ein anderer für ihn leiden könnte. Er kommt mit dieser Belastung nicht klar und stellt sich deshalb freiwillig der Gestapo. Die wiederum sperrt ihn sofort triumphierend ein und beginnt mit brutalen Verhören. Nicht nur seine politische Vergangenheit, sondern vor allem die Geschehnisse in Almelo bilden den Schwerpunkt der nun gegen ihn erhobenen Anklage. Vor dem Prozess am Oberlandesgericht Hamm muss er erstmals seit 1933 wieder deutschen Boden betreten. Inhaftiert wird er zunächst für ein halbes Jahr im Osnabrücker Polizeigefängnis in der Turnerstraße.


Verurteilt, gebeutelt und verfemt – Haft auch in Osnabrück

Seit dem 5. Dezember 1940 befindet sich Tempel zunächst in der Polizeihaft. Folgt man einer Darstellung eines 1. Bandes des 1988 von Günter Heutzeroth herausgegebenen Buches „Unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus 1933-1945. Dargestellt an den Ereignissen in Weser-Ems“, Seite 703, wird er am 18. Januar der Gestapo in Osnabrück überstellt und dort auch inhaftiert.

Im Juli 1941 wird er vom Oberlandesgericht Hamm wegen „Vorbereitung zu hochverräterischem Unternehmen“ zu zwei Jahren Haft verurteilt. Der Freiheitsentzug entwickelt sich für ihn zu einer Tortur, die seine Gesundheit dauerhaft ruiniert. Der bereits erwähnte Zeitzeuge Friedrich Geerdes schildert die Haftbedingungen Tempels in dieser Weise:

„Bei den Transporten wurde er wie ein Schwerverbrecher gefesselt, über Bahnsteig und Straßen geführt. Endloses Martyrium, nagender Hunger quälte die Gefangenen. Beim Tütenkleben aßen sie den Kleister, beim Zwiebelschälen, beim Kartoffelpellen schlugen sie sich um die Schalen. Besonders grausam litten sie unter der Kälte. Ihre Socken mussten sie als freiwillige Spende zu einer Spinnstoffsammlung abgeben und mit bloßen Füßen den Winter durch frieren, nur bei härtestem Frost wurde vormittags eine Stunde die Heizung angestellt, das genügte für die anderen 23 Stunden. Wie entwürdigend war manche Arbeit, oft viel zu schwer für die ausgemergelten Körper, zu schwierig für die ungeschickten Hände, immer geisttötend. Rohe Wärter sparten nicht mit Misshandlungen. Wolfenbüttel war die letzte Station seines Leidensweges, als Blutgefängnis berüchtigt; täglich fanden im Gefängnishof Hinrichtungen statt, durch sadistische Quälereien vorbereitet.“

Letztes Foto Tempels. Foto: www.tgg-leer.de

Nach der Entlassung aus dem Strafgefängnis in Wolfenbüttel im Dezember 1942 steht Tempel unter ständiger Polizeiaufsicht. Ehemalige Freunde erkennen ihn kaum wieder. Statt vormals blonder Haare sind diese schlohweiß geworden. Nie wieder erholt er sich von den erlebten Leiden. Anfang 1944 zieht er zu seiner Schwester nach Berlin. Seine alte Heimat Ostfriesland darf er nicht mehr betreten. Erlaubt wird ihm und seiner Schwester zumindest ein Umzug nach Oldenburg in die Friesenstraße. Mühsam findet er dort eine Beschäftigung als Hilfsarbeiter im Schuhgroßhandel. Regelmäßig muss er sich bei der Gestapo melden, die ihn rund um die Uhr bewacht. Er ist zu diesem Zeitpunkt längst ein gebrochener Mensch.

Nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 wird er im Zuge der „Aktion Gewitter“, ebenso wie zahllose Angehörige der Arbeiterbewegung, für verhaftet. Zwei Tage lang wird er eingesperrt und verhört. Folgt man dem von Martin Schumacher 1991 herausgegebenen Sammelband „M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus“, stirbt Tempel am 27. November 1944 „an einem Tumor, den Folgen der Haft und physischer Misshandlung“. Zwei Tage später wäre sein 55. Geburtstag gewesen. Zum Zeitpunkt seines Todes ist kurz vorher noch seine Einweisung in ein Ausländerlager angeordnet worden, weil er als Staatenloser gilt. Selbst Tempels bescheidenem Wunsch, in seiner Heimat Ostfriesland begraben zu werden, entsprechen die Nationalsozialisten nicht: Er wird stattdessen auf dem Gertrudenfriedhof in Oldenburg beerdigt. Selbst hier überwacht die Gestapo die gesamte Trauerfeier und notiert akribisch die Gäste.

Was bleibt? Vor dem Berliner Reichstag ist Tempel eine der 96 Gedenktafeln zur Erinnerung an von Nationalsozialisten ermordete Reichstagsabgeordnete gewidmet. In der Parlamentsausstellung des Deutschen Doms in Berlin wird Tempels Schicksalsweg auf einer aufrufbaren virtuellen Tafel präsentiert. Mehrere Gebäude-, Platz- oder Straßennamen erinnern heute auch andernorts an Hermann Tempel. Nach ihm wurden unter anderem Straßen in Aurich, Bramsche, Leer und Oldenburg sowie die Hermann-Tempel-Gesamtschule in Ihlow im Landkreis Aurich benannt. In Leer ist zudem die Stadtbibliothek im „Hermann-Tempel-Haus“ untergebracht. Und die SPD im Parteibezirk Weser-Ems verleiht traditionell den Hermann-Tempel-Preis.

 

Mahnmal vor dem Berliner Reichstag: Eine der Tafeln ist Tempel gewidmet. Foto: Deutscher BundestagMahnmal vor dem Berliner Reichstag: Eine der Tafeln ist Tempel gewidmet. Foto: Deutscher Bundestag

 

Ein besonderes Denkmal erinnert seit dem 29. Juni 1989 auf dem Hermann-Tempel-Platz, einem Parkplatz am Rande des Ortskerns von Ditzum, an den Antifaschisten. Es hat die Form einer Säule aus Backsteinen. Auf der Vorderseite ist ein Porträtrelief mit einer Gedichtzeile von des NS-Opfers angebracht. Sie lautet:

Nur noch eine Ewigkeit
dann, o Stunde,
wirst du rufen
und ich taste deine Stufen
aufwärts in die neue Zeit.

 

 

 

 

 


Tipps zum Weiterlesen

Wer mehr über Hermann Tempel lesen möchte, sei neben dem zitierten Band von Klaus Dede und Werner Vahlenkamp insbesondere auf Ausarbeitungen aus der Sozialdemokratie des Bezirks Weser-Ems verwiesen. Horst Milde, zwischen 1990 und 1998 Präsident des Niedersächsischen Landtags, hat 1980 einen bemerkenswerten Band mit dem Titel „Hermann Tempel 1889 – 1944. Eine Dokumentation aus dem literarischen Nachlass“ herausgegeben, in der ein tiefer Einblick in die Wortkunst Tempels gewährt wird. Nicht minder spannend nachzulesen ist das Buch des ehemaligen SPD-Landesgeschäftsführers Remmer Hein mit dem Titel    „Der Reichstagsabgeordnete Hermann Tempel“, das 1988 in Leer erschien.

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