Donnerstag, 28. März 2024

OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 32: Alwine Wellmann

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.

Alwine Wellmann
Sozialistin, Frauenrechtlerin – und unversöhnliche Gegnerin der Nazis

Alwine Wellmann zählt zu jenen Menschen des antifaschistischen Widerstandes in Osnabrück, die 1933 gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Mit Standhaftigkeit und Courage widersetzt sie sich auch in ihrer neuen Wahlheimat Bulgarien allen Einschüchterungsversuchen der braunen Machthaber. Heimgekehrt in das Nachkriegs-Osnabrück, muss sie leidvoll erfahren, wie schnell Alt-Nazis im Adenauer-Deutschland wieder alte Funktionen besetzen und Entschädigungsansprüche von Nazi-Opfern zunichtemachen.


Erste Abgeordnete nach erkämpftem Frauenwahlrecht: eine Genossin mit vielen Talenten

Das Wahlrecht für beide Geschlechter zählt zu den überschaubaren Fortschritten der deutschen Novemberrevolution: Am 30. November 1918 lässt der aus MSPD und USPD zusammengesetzte Rat der Volksbeauftragten jenen Meilenstein deutscher Demokratiegeschichte offiziell verkünden. Zudem wird das Wahlalter von 25 auf 20 Jahre gesenkt. Frauen, aber auch junge Menschen in ihrer Gesamtheit sind es in den folgenden Jahren, die sich insbesondere in der organisierten Arbeiterbewegung neue Betätigungsfelder erschließen. Die trotz gescheiterter Revolutionsbemühungen und heftiger Wirtschaftskrisen aufblühende Arbeiterkulturbewegung, die sich jenseits der Partei- und Gewerkschaftsarbeit in Konsum-, Wohn- und Produktionsgenossenschaften, in der Arbeiterjugend, in der frisch gegründeten AWO bis hin zum Arbeitersport zeigt, wäre ohne Frauen und junge Mitglieder kaum denkbar gewesen.

Wahlkampfpostkarte 1920Wahlkampfpostkarte 1920

Anlässlich der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 darf auch die Osnabrücker Schlossertochter Alwine Wellmann zum ersten Mal ein Wahllokal betreten. Sie ist 28 Jahre alt und beruflich als Buchhalterin tätig, was für Frauen eine eher ungewöhnliche Berufsbezeichnung ist.

Schon seit ihrem 16. Lebensjahr ist die junge Buchhalterin politisch aktiv. In Zeiten, als ihr das noch offiziell aufgrund ihres jungen Alters verboten ist, schließt sie sich 1907 den sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften an und streitet für Arbeitnehmerrechte am Arbeitsplatz. 1916, mitten im 1. Weltkrieg, wird sie aktives Mitglied der SPD. Nebenher schreibt sie so manchen Artikel in der örtlichen SPD-Tageszeitung „Osnabrücker Abendpost“. Im Gegensatz zu den Claqueuren der Schlachtenberichte stellt die entschiedene Kriegsgegnerin Alwine Wellmann ganz andere Nachrichten in den Vordergrund. Gleich nach Kriegsende zählt Wellmann zu den Gründungsmitgliedern einer bei Nationalisten verfemten Ortsgruppe Osnabrück der Deutschen Friedensgesellschaft.

Zusätzlich wird sie eine begeisterte Wahlkämpferin. Die junge Frau nutzt dabei nicht nur ihre rednerische und literarische Begabung, sondern auch ihre musische. Sie ist passionierte Klavierspielerin und gibt sich auch als brillante Sängerin, die bei ihren Parteiauftritten zuweilen gar vom Heldentenor des Osnabrücker Theaters begleitet wird.


Wahlkämpfe, Kandidaturen – und ein Aufenthalt in Berlin

1921 stehen Urnengänge zum Preußischen Landtag an. Alwine Wellmann wird auf dem 2. Listenplatz des Wahlbereichs Weser-Ems Parlamentskandidatin. Doch das Wahlergebnis reicht noch nicht zum direkten Einzug in den Berliner Landtag.

Trotzdem findet sie auch ohne Mandat den Weg, um in die deutsche Hauptstadt zu gelangen: Der persönlichen Fürsprache des früheren Reichskanzlers Philipp Scheidemann ist es im September 1920 zu verdanken, dass sie sich in Berlin einquartieren kann, um dort zu arbeiten und zugleich ein Gesangsstudium aufzunehmen. Von 1920 bis 1922 arbeitet die Osnabrückerin als Buchhalterin im Verlag der sozialdemokratischen Tageszeitung Vorwärts. Daneben ist sie auch in der Verwaltung der Deutschen Hochschule für Politik tätig. Die wiederum ist seit 1918 im Betrieb und zunächst als sogenannte „Staatsbürgerschule“ gegründet worden. Heutzutage trägt das Haus den berühmten Namen „Otto-Suhr-Institut“.  Prominente Lehrende kommen aus dem linksliberalen oder sozialistischen Lager. Alwine packt die Gelegenheit am Schopfe und belegt, wie sie später berichtet, immer wieder Vorlesungen ihres Interesses. Auch im Privatbereich Alwine Wellmanns ereignet sich etwas, was Auswirkungen auf ihr späteres Leben besitzen wird: In Berlin freundet sie sich mit der Literaturstudentin Eudoxia aus Bulgarien an. Neugierig machen Alwine die Erzählungen über Eudoxias Heimatland und deren Hauptstadt Sofia. Gegenseitige Besuche folgen.


Mandat für den Berliner Landtag: Ausgangspunkt für überregionale Auftritte

Als Nachrückerin wird Wellmann schließlich 1924 zur ersten weiblichen Parlamentsabgeordneten. Am 7. Dezember 1924 finden erneut Landtagswahlen statt. Alwine triumphiert: Sie wird direkt in den Landtag entsandt und ihr Mandat dort bis ins Jahr 1932 hinein verteidigen. Selbst in der Sozialdemokratie machen die Frauen allenfalls 15% der Abgeordneten aus. Die Abgeordnete Wellmann hinterlässt in der Partei und auch beim politischen Gegner Eindruck, sobald sie sich zu Wort meldet. Auch auf nationalen SPD-Frauenkonferenzen wie der von 1925 streitet sie führend für die Einführung eines Antikriegstages sowie eines Internationalen Frauentages. Im letztgenannten Punkt erzielt sie einen großen Erfolg: Der Frauentag wird fest in den Jahreskalender sozialistischer Festtage aufgenommen, wenngleich dafür noch kein festes Datum vorgesehen wird.

Schnell hat Wellmann als vielgefragte Rednerin ein großes Gebiet zu bereisen. Die Reiseziele reichen von Stettin bis nach Trier, von Oldenburg bis Hannover oder Magdeburg. Stationen von Auslandsaufenthalten, immer wieder unterbrochen von Redeauftritten, sind Staaten wie die Niederlande, auch Bulgarien oder die Türkei. Daheim muss Alwine nach dem Tode des Vaters Wilhelm im Jahre 1923 privat allein für ihre hilfsbedürftige Schwester Käthe und für die Mutter sorgen.


„Osnabrücker Jeanne d’Arc“: Alwine als Feindbild der Nazis

In Wellmanns Reden reizt die konsequente Sozialistin und Friedenskämpferin die aufkommenden Nationalsozialisten mit ihrem selbstbewussten Auftreten regelmäßig bis zur Weißglut. Sie scheut es bis 1933 nicht einmal, in Nazi-Versammlungen zu marschieren und sich dort vernehmlich zu Wort zu melden. Am 14. Februar 1939, als die Osnabrücker Gestapo die Ausbürgerung ihrer Todfeindin betreibt, wird der NS-Karrierebeamte Dr. Emil Freise die Maßnahme damit begründen, dass die Nazi-Gegnerin in „politischen Versammlungen als Diskussionsrednerin“ aufgetreten sei.

Für Dienstag, 11. April 1933, keine zweieinhalb Monate nach der Kanzlerschaft Adolf Hitlers, ist in Osnabrück die Sitzung einer noch bedingt demokratisch gewählten Stadtverordnetenversammlung angesetzt. Für den NS-Sitzungsleiter steht fest, dass an diesem Tage ein maßgeblicher Schritt zu einem von Demokraten gesäuberten Stadtrat getan werden soll. Ultimativ fordert er zu Sitzungsbeginn alle Stadtverordneten dazu auf, ein „Sieg Heil“ auf die Stadt aufzubringen. Christliche Demokraten der Zentrumspartei, Liberale der Deutschen Volkspartei und Konservative folgen der Aufforderung artig, um keinen Unwillen auf sich zu ziehen. Einzig Ratsfrau Alwine Wellmann und die infolge von Repressalien auf von zehn auf vier Mitglieder geschrumpfte SPD-Stadtverordneten schweigen eisern. Gegen Ende der Sitzung meldet sich Alwine Wellmann zu Wort:

„Die SPD-Fraktion kann sich nicht an einem ‘ Siegheil‘ auf die Stadt Osnabrück, sehr wohl aber an einem ‚Hoch‘ auf Osnabrück beteiligen. Niemand kann von der Sozialdemokratie verlangen, ihre Ehre aufzugeben. Das sollte auch die NSDAP verstehen, die Ehre und Sauberkeit angeblich so hoch schätzt.“

Die Ratssitzung 13. Mai 1933 findet bereits ohne die SPD-Ratsmitglieder statt. 11 Tage zuvor, am 2. Mai 1933, hat es eine breite Verhaftungswelle gegeben, die auch Wellmann ins Gefängnis bringt. Die geliebte Heimatstadt wird auch nach der Entlassung zum überwachten Raum und damit zum großflächigen Gefängnis.


Flucht nach Bulgarien

In ihrer ausweglosen Situation will sie das Deutsche Reich in Richtung Bulgarien verlassen. Ende September erreicht Wellmann ein Brief des Osnabrücker Regierungspräsidenten Dr. Bernhard Eggers. Die Gewährung ihres Ausreisegesuchs mündet in eine deutliche Drohung:

„Auf die Eingabe vom 23. September ds. Js. teile ich Ihnen mit, dass ich bereit bin, die Erteilung des von Ihnen beantragten Sichtvermerks zu veranlassen, wenn Sie die anliegende Erklärung des Inhaltes abgeben, dass Sie bereit sind, sich im Ausland jeglicher politischen Tätigkeit, insbesondere jeglicher Opposition gegen die deutsche Regierung, in Wort und Schrift zu enthalten. Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass Sie bei der Rückkehr nach Deutschland in Schutzhaft genommen und einem Konzentrationslager zugeführt werden, falls Sie sich trotz dieser Erklärung in der angedeuteten Weise betätigen sollten.“

Das Hotel heuteDas Hotel heute

In der bulgarischen Hauptstadt findet die Osnabrückerin zunächst im sozialdemokratisch-genossenschaftlichen Hotel Koop eine erste Aufnahme. Dort darf sie kostenlos leben, bis ihr Unterhalt durch Arbeitsaufnahme einigermaßen gesichert ist.  Danach lebt die Geflüchtete besonders lange bei sozialdemokratisch ausgerichteten Familien. Wellmanns Aufenthalt in Bulgarien, dessen Regierungen und Behörden immer enger mit Nazi-Deutschland zusammenwirken, findet naturgemäß voller alltäglicher Angst und sehr konspirativ statt. Ständig wird sie von der Gestapo überwacht, nicht selten von bulgarischen wie deutschen Nazis mit dem Tode bedroht.

Irgendwann wird systematisch die Ausbürgerung der Osnabrückerin vorbereitet. Die in Sofia ansässigen Nazi-Oberen bieten ihr zuvor aber noch formal die Möglichkeit, in die Reihen der „guten Deutschen“ zu wechseln. Vorgeschaltet wird dem Schritt eine durchaus perfide anmutende Vorladung eines nazideutschen Statthalters in Sofia. Die Exil-Osnabrückerin schildert diese Begebenheit Jahre später im Rahmen eines Briefes an den Osnabrücker Regierungspräsidenten:

„Im Jahre 39 bat mich der Vorsitzende der Nationalsozialistischen Auslandsorganisation in Sofia zu sich und suchte mich zu bewegen, (…) die deutschen Kolonieabende zu besuchen, der Arbeitsfront beizutreten und der Nazipartei zumindest freundlicher gegenüber zu stehen. Ich lehnte das ab und verwies auf meine politische Vergangenheit. Ich wurde verwarnt, und es wurde mir angedroht, dass ich eventuell Bulgarien verlassen müsse.“

Zu Recht darf vermutet werden, dass die beharrliche Verweigerung der Sozialdemokratin, ihren „Frieden“ mit dem NS-Regime zu machen, sehr wesentlich zu ihrem anschließenden Ausbürgerungsverfahren beiträgt. In den Ermittlungen der Gestapo wird unter anderem der bereits oben erwähnte Vorwurf erhoben, Wellmann habe vor 1933 NSDAP-Versammlungen besucht, um dort im eigenen Redebeitrag gegen die Nazis Stellung zu beziehen. Der offizielle Entzug der Staatsbürgerschaft erfolgt schließlich am 7. Juni 1940.

Als Staatenlose hätte Wellmann die sofortige Ausweisung in ein von den Nazis okkupiertes Land und damit der sichere Tod gedroht. Um ihren Aufenthaltsstatus angesichts permanenter Beobachtung von Gestapo und bulgarischem Geheimdienst zu sichern, heiratet die Osnabrückerin schließlich einen sozialdemokratischen Genossen namens Todor Mirischliew und nimmt somit den Nachnamen Mirischliewa an. Alwine geht mit ihm somit eine „Scheinehe“ ein, die nach 1945 wieder ohne Komplikationen geschieden wird.

Dennoch gehen die ständige Überwachung und Einschüchterung weiter. Ständig muss sie befürchten, von deutschen oder bulgarischen „Sicherheitskräften“ verhaftet zu werden. Angesichts der wachsenden Bombenangriffe der Alliierten kann sie es sich nicht leisten, einen Bunke aufzusuchen, in dem auch Gestapo-Angehörige vermutet werden müssen. Sie bleibt in ihrer Wohnstätte – und das Gebäude bekommt einen Volltreffer. Wellmann überlebt alles mit dauerhaftem Herz- und Gehörschaden.


Heimkehr ins zerstörte Osnabrück

Wenige Jahre nach Kriegsende, im September 1948, kehrt Alwine Wellmann, ihren Pass ziert wieder ihr alter Name, endgültig in ihre Heimatstadt zurück. Sie engagiert sich von Beginn an besonders stark für Menschen, die, wie sie selbst, den Terror des NS-Staates am eigenen Leibe erfahren mussten. Im Sommer 1946, ein gutes Jahr nach Kriegsende, werden durch örtliche Ausschüsse insgesamt 250.000 bis 300.000 NS-Verfolgte erfasst. Opfer der Schreckensherrschaft, die traumatisiert in Deutschland überlebt haben oder aus dem Asyl heimkehren, stehen vor zahlreichen bürokratischen Hürden. Um ein geordnetes Verfahren zu ermöglichen, entschließen sich die politischen Entscheidungsträger auf Landesebene dazu, feste Anlaufstellen in den eigenen Verwaltungsräumen zu schaffen, die auf die Bedürfnisse ehemals Verfolgter zugeschnitten sind. Wellmanns neue Funktion lässt nicht lange auf sich warten: Seit Februar 1950 fungiert sie bei der neu gebildeten Bezirksregierung als „Vertrauensmann für politisch, rassisch oder religiös Verfolgte“. Zahllose Briefwechsel und Gespräche gehen über ihren Schreibtisch. Immer wieder handelt es sich um Nachweise der eigenen Verfolgung, um Justiz-Unterlagen, um eingeholte Zeugenaussagen bis hin zur Bearbeitung von Rentenansprüchen und Anträgen auf Haftentschädigung. Die zuvor erfolgte Hinausdrängung des Antifaschisten Goswin Stöppelmann aus seiner Funktion als Dezernent für politisch Verfolgte ist in der OR bereits ausführlich dokumentiert worden. https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/heiko-schulze/or-serie-widerstand-im-osnabrueck-der-ns-zeit-folge-28-goswin-stoeppelmann/


Alte Kräfte schlagen zurück

Immer häufiger passiert es, dass auch Wellmanns menschliche, direkte und couragierte Vorgehensweise in der eigenen Behörde aneckt. Für Alwine und alle, denen an einer bestmöglichen Hilfe für NS-Verfolgte gelegen ist, enden die Dispute ernüchternd: Im Rahmen eines Dienstgesprächs wird der Kollegin am 30. September 1953 offiziell „ … eröffnet, dass (…) der Posten des Vertrauensmanns ab 1.10.1953 in Fortfall käme.“ Mit Wirkung vom 9. November 1953 wird die Kollegin fortan der Bücherei zugeteilt.

Zu diesem Zeitpunkt ist der vormaligen Vertrauensfrau längst klar geworden, dass im Adenauer-Deutschland längst ein anderer Geist weht. Überall machen sich in Ämtern und Behörden wieder Menschen breit, die bereits in Nazi-Deutschland eine vortreffliche Karriere hinter sich gebracht haben. Für Osnabrücks Nachbarstadt Münster wird ermittelt, dass dort drei von sieben Mitarbeitern Mitglied der Nazi-Partei gewesen sind. Und in der Tat: Für ehemalige Nationalsozialisten sieht ihre berufliche Zukunft beinahe flächendeckend immer rosiger aus: Dank des im Mai 1951 in Kraft getretenen sogenannten 131-Gesetzes können etwa 150 000 mit NS-Vergangenheit belastete Beamte und Angestellte wieder in den deutschen Staatsdienst treten oder sie erhalten ihre vollen Versorgungsbezüge.

Völlig ernüchternd wirken dann auch die Bilanzen jener Entschädigungsbehörden, zu deren Gunsten Alwine Wellmanns Vertrauensarbeit abgeschafft worden ist: Der Protokollant einer Unterredung der Osnabrücker Bezirksregierung muss zähneknirschend einräumen, dass es „ein krasses Missverhältnis zwischen den zuerkennenden und den ablehnenden Bescheiden“ gibt. Zahlen werden dabei keineswegs verheimlicht. Bis zum 30. September 1955 seien in Niedersachsen … „… bei insgesamt 86.918 angemeldeten Ansprüchen nur 2.939 voll und 3.538 teilweise zuerkennende Bescheide sowie 7.211 voll und 1.261 teilweise ablehnende Bescheide erlassen worden.“

Alwine Wellmann ist darüber verbittert und drückt die Situation in einem Brief an den vormaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe ohne Schnörkel aus. Denn der Erlass, die von ihr ausgeübte Funktion als Vertrauensperson der NS-Verfolgten ersatzlos abzuschaffen, erfolgte ihrer Einschätzung nach „ …  sehr zum Leidwesen der Verfolgten, denn aufgrund des Wiedergutmachungsgesetzes wäre es dringend notwendig gewesen, diese Stellen zu halten (…). Aber die Ministerialbürokratie ist schon wieder von dem alten, gefährlichen Geist beseelt.“

1956 geht die Sozialdemokratin in den Ruhestand. Was wohl aus Alwine Wellmann geworden wäre, wenn es den Nazis nicht gelungen wäre, Diktatur, Völkermord und Krieg über die Welt zu bringen? Paul Löbe, oben genannter ehemaliger Reichstagspräsident, bringt es im bereits genannten Briefwechsel mit Alwine Wellmann im Jahre 1954 auf den Punkt: „Ich kann nach bestem Wissen und Gewissen versichern, dass eine Frau mit ihren Fähigkeiten in der Arbeiterbewegung sicher ein Aufstieg beschieden gewesen wäre, wenn nicht der totalitäre Staat unter Hitler das Menschen mit ihrer Gesinnung unmöglich gemacht hätte.“

Niemand wird heute belegen können, ob Löbes Erwartung unter anderen Umständen eingetroffen wäre. Aber gerade jene schwierigen Umstände belegen in der Rückschau, wie gefahrvoll, aber auch außergewöhnlich das Leben einer couragierten Sozialistin inmitten historischer Umbrüche verlaufen kann. An Wellmann erinnert seit wenigen Jahren ein von der Osnabrücker SPD gestifteter „Alwine-Wellmann-Preis“, auch ein Sitzungsraum im Parteibüro wurde nach ihr benannt. Auf dem Johannisfriedhof ziert eine Informationstafel ihre Grabstätte. Seit kurzem erinnert letztendlich, inmitten des im Aufbau befindlichen Gewerbegebiets am Limberg, auch eine Alwine-Wellmann-Straße an die erste Osnabrücker Abgeordnete und beherzte Sozialistin.

Cover der Biografie, erschienen 2019Cover der Biografie, erschienen 2019
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