Republik auf Geisterfahrt?

Gedanken zu Deutschland im Herbst

Der deutsche Herbst beginnt mit einer Pandemie. Schuld daran ist nicht etwa eine neue Epidemie- oder Fieberwelle, eher Millionen unheilbar erhitzter Gemüter. Das demokratische System ähnelt zusehends einer massiv erscheinenden Holzbrücke, an dessen Stützpfeilern neoliberale Ideologen ebenso sägen wie völkische Kräfte, die zusätzlich Dynamitstangen verkabeln oder gleich sofort Feuer legen. Das besonders Fatale: Wahlen, eigentlich das wichtigste Lebenselixier der Demokratie, verkommen zu Kraftquellen rechtspopulistischer Pyromanen.

 

AfD im Höhenflug

Konnte man früher einmal auf eine Gesetzmäßigkeit der alten Bundesrepublik setzen, dass sich Rechtsextreme und Faschisten, von der Sozialistischen Reichspartei der Fünfziger über die NPD bis zu den Republikanern, am Ende selbst zerhäckseln, scheint die AfD gefestigt und sogar ausbaufähig. Und schlimmer: Ähnlich gesonnene Parteien sitzen bereits in der nahen Türkei, in Schweden (hier im Tolerierungsmodus), in Ungarn und Polen, in Italien, bald wohl auch in Österreich in den Regierungen und haben teilweise schon aktiv damit begonnen, Justiz, Wahlprozesse, Oppositionsrechte, Organisations- und Medienfreiheit scheibchenweise zu schleifen. In den USA drohen Trump und seine Zerstörer des demokratischen Anstands erneut mit der Machtübernahme. Auch in Spanien bleibt eine Regierung mit den Franco-Fans der Vox-Partei eine reale Bedrohung. Noch beharren die Unionsparteien ehrenwerterweise auf Nichtbündnissen mit den deutschen Rechtsextremen. Zugleich werden aber zunehmend AfD-Sprüche und -Programme übernommen. All dies dürfte in Zukunft jene Wasserkopf-Regierungen beeinflussen, die in fast allen Bundesländern durch Riesenkoalitionen von Union-SPD-Grünen-FDP drohen. Minimalkompromisse jener völlig unterschiedlichen Parteien drohen Stagnation zu erzeugen, Debattenkultur zu zerstören – und damit eine noch stärkere AfD zu produzieren.


Aktuelle Studie stützt Befürchtungen

All dies korrespondiert mit gesellschaftlichen Beobachtungen. Demokratiefeindliche und antisemitische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft nehmen weiter zu – und immer mehr Menschen in Deutschland besitzen ein rechtsextremes Weltbild. Jeder zwölfte Erwachsene (8,3 Prozent) ist bereits heute davon betroffen. Eine am vergangenen Donnerstag veröffentlichten Studie „Die distanzierte Mitte“ des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung brachte es an den Tag: Immer weniger Menschen haben Vertrauen in die Demokratie

Nur 51,5 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten Vertrauen in staatliche Institutionen. Auch das Vertrauen in die Medien ist auf etwas über 66 Prozent zurückgegangen. Zugleich  ist das Gefühl politischer Machtlosigkeit bei vielen Menschen gestiegen. Die Forscher sehen einen starken Anstieg beim Verschwörungsglauben in der Bevölkerung, dem danach 38 Prozent anheim fallen. Mehr als verdoppelt hat sich sogar die Billigung politischer Gewalt. 13 Prozent der Befragten sehen Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung an. Die gesamte Studie kann hier heruntergeladen werden.


Wahlen als Verschlimmbesserer

Am 8. Oktober stehen Landtagswahlen in Bayern und Hessen an. Am 9. Juni des nächsten Jahres wählen wir das Europaparlament, im Herbst 2024 konstituieren sich die Landtage in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Schon jetzt darf man gern wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange starren, um massive Verschlechterungen der demokratischen Debattenkultur zu befürchten. Sollten Bayern (allerdings, in Gestalt des Alwanger-Fanclubs, mit einer AfD-Light-Version als CSU-Partner) und Hessen auch noch mit Ach und Krach ihre derzeitigen Koalitionen bestätigen: Spätestens bei den Landtagswahlen 2024 dürften (ob mit einer noch existierenden Linkspartei, bleibt hier die Frage, siehe unten) Konstrukte von Allparteienregierungen gegen die AfD zu erwarten sein. Dass solche Kabinette fauler Kompromisse eher einen Anschlag auf demokratische Kulturen statt deren Stärkung bilden, hat der Verfasser bereits schon einmal in der OR zu benennen versucht: Auf dem Weg zu Wischi-Waschi-Regierungen

Bei den Europawahlen droht womöglich weit Schlimmeres: eine Blockademehrheit von Rechtskräften im Europaparlament – oder gar deren Beteiligung an Beschlüssen, wenn Europas Konservative der Europäischen Volkspartei die begonnene Annäherung an Rechtsextremisten fortführen. Manfred Webers CSU-Wahlkampfhilfe für das rechtsextreme Wahlbündnis Italiens sowie die gemeinsamen Auftritte der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der Postfaschistin Giorgia Meloni in Tunesien oder auf Lampedusa sollten alle Alarmglocken schrillen lassen.


Neoliberalismus als neue Staatsideologie

Die Probleme Deutschlands sind so greifbar, dass sie selbst Kinder begreifen könnten: ein restlos überholtes, auf Dreigliedrigkeit fußendes und extrem unterfinanziertes Bildungssystem droht gigantische Zukunftsprobleme einer zerrütteten Sozialstruktur mit massiven Qualifikationsmängeln zu produzieren. Für ein wirksames Programm gegen die skandalöse Kinderarmut. von der FDP blockiert, fehlt eine parlamentarische Mehrheit. Für ein Energiesystem der Zukunft sind nur Bruchteile jener Mittel vorhanden, die für ökologische Strukturen nötig wären. Staaten der Welt, die für ihre nackte Existenz positive Entwicklungszusammenarbeit benötigen, werden Fördermittel zu Brosamen zusammengespart. Der Wohnungsmarkt ist dermaßen marode, dass wir irgendwann Gartenhäuser und Brücken als akzeptierte Quartiere einplanen könnten. Bahn- und Bussysteme werden auf Minimalspur zurückgefahren. während das Beton für Autobahnen fleißig angerührt wird. Wachsende Altersarmut infolge eines desolaten Rentensystems wird in Kauf genommen. Erfolgreiche Projekte der Jugendberufshilfe wie die Osnabrücker Dammstraße geraten durch Lindners Streichprogramm in Existenznot. Gigantische Verarmung breiter Bevölkerungsteile stehen einem gigantischen Reichtum weniger Porsche- und Rolls-Royce- oder Privatjet-Nutzer gegenüber.

Kurzum: Der massive sozial-ökologische Wandel, der allein atembare Luft für die Zukunft produzieren könnte, steht im Kontrast zu neoliberalen Spardiktaten, die alles dem „freien Markt“ überlassen wollen und dem Staat elementare Kreditaufnahmen verbieten. Kurzfristige Etat-Glättungen eines Finanzministers Christian Lindner stehen Belastungen künftiger Generationen mit Folgekosten für das Politikversagen gegenüber, die jede gute Zukunft riskieren. Die Schuldengrenze entpuppt sich zusehends als das, was sie im internationalen Vergleich ist: ein fataler Sonderweg Deutschlands, der woanders ohne Beispiel ist. Und dies alles soll Vertrauen in eine Republik stärken?


Kriege und Aufrüstungsfantasien lassen real existierenden Weltkrieg außer Acht

Abgesehen vom mörderischen Krieg, den Putins Russland gegen das ukrainische Volk führt: Sollen weiter ohne jedes Limit und substanzielle internationale Friedensverhandlungen milliardenschwere Rüstungsprogramme aufgelegt werden, um den dortigen Krieg ins schier Endlose zu verlängern? Mit unübersehbar hohen weiteren Opferzahlen dieses Angriffskrieges, der überdies im Stellungskrieg ala Verdun 2:0 zu verharren scheint? Alles im Wissen, dass NATO-Staaten bereits heute – man nehme nur die aktuelle Erhebung des völlig unabhängigen Stockholmer SIPRI-Instituts – weit mehr als dreimal (!) so viel Geld für Rüstung ausgeben wie Russland und China zusammen? Zumal China nicht im Kriegszustand ist: Wird bei uns eigentlich realisiert, dass für alle Nato-Mitgliedstaaten deren Rüstungsausgaben schon jetzt auf 1.232 Milliarden Dollar gestiegen sind? Jene Summe bedeutet schon heute 55 Prozent der weltweiten Ausgaben. Die Rüstungsausgaben Russlands, schlimm genug, betrugen anno 2022 86,4 Milliarden Dollar und damit ein Vierzehntel (!) der NATO-Ausgaben. Zahlen zum Nachdenken? Schon Willy Brandt hat in den Achtzigern eindrucksvoll vorgerechnet, dass es real möglich ist, weltweiten Hunger durch wirksame Reduzierung von Aufrüstungsprogrammen zu beseitigen. Weltfremd und naiv? Eher eine Überlebensfrage der Menschheit.

Wer nun mit einer gewissen moralischen Berechtigung sagte: „Ja, Russland muss den Ukraine-Krieg, gleich wie, verlieren!“ sollte rational eine Frage beherzigen: Geben wir nicht durch immer gigantischere Rüstungsausgaben am Ende jene nötigen Mittel preis, die wir weltweit eigentlich für den realen Dritten Weltkrieg, den Kampf gegen Armut und Klimawandel benötigten? Allein der lässt uns nach allen Erkenntnissen keinen Zeitaufschub. Kurzum: Auch hier berauben wir soeben, wohl wissend, kommenden Generationen ihre Zukunft. Ist das allen klar?


Flucht als Weltenflucht

Es stimmt: Länder und Kommunen ächzen unter finanziellen Belastungen infolge gestiegener Zahlen weltweit geflüchteter Menschen. Nur: Warum versagt die Bundesregierung hier Mittel? Nur zur Erinnerung: Weltweit sind derzeit über 100 Millionen (!) Menschen auf der Flucht, sei es im Inland oder bereits außerhalb eigener Grenzen. Sollen die allein in armen Ländern wie dem Libanon aufgenommen werden, in dem nahezu ein Drittel der dort lebenden Menschen aus Geflüchteten besteht? Oder in Afrika, in dem bereits Hunger und Dürrekatastrophen vorherrschen? Soll weiter das – von der ersten Sekunde an – irrsinnige Dublin-Abkommen gelten, nach dem jene europäischen Länder zu Erstaufnahme verpflichtet sind, in denen Menschen auf dem Wasserwege ankommen? Über die Nord- und Ostsee dürfte dies kaum zu erwarten sein. Zugleich heulen so manche Zeitgenoss*innen Krokodilstränen über nationalen Arbeitskräftemangel. Oft sind es die gleichen Kräfte des meist konservativen Lagers, die bis heute nicht anerkennen wollen, dass Deutschland längst ein Zuwanderungsland ist.

Im Übrigen sind es oft wiederum die gleichen Kräfte, die, ergänzt durch neoliberale Haushaltsmacher, wirksame Gelder in nationale wie weltweite Hilfsprojekte verweigern. Dreht sich hier nicht irgendetwas um die eigene Achse? Es wäre beinahe kabarettistisch zu zeichnen, wenn alles nicht im wahrsten Sinne brutal und tödlich wäre.

Um es deutlich zu sagen: Flucht ist ein weltweites Problem, bei dem Verursacher zumeist Kriegsverbrecher, Kriminelle oder Despoten sind. Allesamt Herrscher von Staaten, in denen eben keine jener humanen „Rückführungen“ möglich sind, die in Schönwetterreden anklingen. Wahlkämpfende von rechts bis neoliberal scheint all dies egal: Sie fordern weiter plakativ ihre „Höchstgrenzen“ und „Abschiebungen“. Wahlprozente bringt dies allemal. Schaden nehmen allein humanistisches Denken und die demokratische Kultur. Nebenbei: Haben jene Vaterlandsverteidiger eigentlich vergessen, dass das restlos zerstörte Deutschland anno 1945 rund 10 Millionen Geflüchtete aus polnischen und tschecheslowakischen Gebieten aufgenommen hat? Von derartigen Situationen sind wir Universen entfernt. Und dennoch überfordert


Selbstzerbröselung der Linken

Die aktuellen Versuche Sarah Wagenknechts, ihren eigenen Fanclub auf der organisatorischen Basis des „Aufstehen“-Bündnisses zu einer politischen Kraft zu formen, die Linkes in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verheißt, AfD-Nahes aber in der Gender-, Ökologie- bis hin zur Flüchtlingspolitik propagiert, dürften eher einen Sargnagel für das gesamte progressive Lager in Deutschland sein. Es wäre vielfach das offene Aus der bisherigen Linkspartei, die immerhin in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen so etwas wie das soziale Herz der dortigen Landesregierungen bildet. Die Wagenknecht-Partei, wahrscheinlich mit einer Kooperationsverweigerung gegenüber Rot-Grün im Gepäck, droht damit zu einem unbewussten Geburtshelfer jener Allparteienbündnisse gegen die AfD zu werden, die sie eigentlich ablehnen sollte. Dass sie zugleich, hier begrüßenswert, Wähler*innen von Rechtsaußen abwerben könnte, ändert nichts am irreparablen Schaden für eine ökologisch-soziale Trendwende im Lande, die wir dringend ìn Gestalt fester rotrotgrüner Bündnisse nötig hätten.

Kurzum: Ist unsere Republik noch einmal in der Lage, einen sozialökologischen Aufbruch und Begeisterung am demokratischen Handeln zu erzeugen? In Anbetracht von Lösungen, die jenseits neoliberaler oder gar nationalistischer Scheinalternativen auf der Hand liegen? Es wäre zu wünschen.

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