Vom gefährlichen Zündeln mit demokratischen Werten

„Die Politik versagt! Wer denn sonst?“

Und wieder jagt eine neue Sau durch unser Dorf, das sich Republik nennt. Der Unterschied zu gestern ist der, dass die neue Sau einen anderen Namen trägt. Mit den Identitäten der Schweine lassen sich riesige Sauställe füllen. Die meisten Borstenviecher tragen den Zusatznamen „Skandal“. „Maskenskandal“ oder „Mautskandal“ sind bereits in der Tiefkühltruhe, „Missbrauchsskandal“, „Rentenskandal“, „Diätenskandal“, „Steuerskandal“, „Waffenskandal“, „Kohleskandal“, „Gasskandal“ und unzählige Mitskandale sind auch schon auf dem Weg in die bundesrepublikanische Hackfleischmühle. Neue Säue mit dem Skandalstempel verharren für die nächste Zeit durchlauferhitzt in ihrer Wartestellung. Sie werden ihre Startchance bekommen.

Folgt man Stammtischen, Talk-Shows, Social-Media-Chats, Barmixer Kurt, Irgend-was-mit-Medien Steffie, Platzwart Ingo, Studienrätin Chantal oder der Marktfrau Elvira am Bananenstand, zählen Skandale so häufig zum politischen Alltag, dass daraus eine Theorie erwächst: „Die Politik versagt!“

 

„Versager, Nichtskönner, Bestochene …“

Der Befund ist klar: Im fernen Berlin, Regierende in den jeweiligen Landeshauptstädten oder in der eigenen Gemeinde machen es offenbar nicht besser, überall agieren Versager, Politikdarsteller, Nichtskönner, Feierabendpolitiker, im schlimmsten Falle bestechliche Mandatsträger, was viele gar nicht mehr zu wundern scheint.

„So ist das System eben“, raunzt es aus der Ecke der Neunmalklugen, die alles schon immer gewusst haben.

„Die Politik versagt!“ Das Fernsehpublikum muss sich während live übertragener Debatten ja nur leere Parlamentssitze anschauen, um haarscharf daraus zu schließen, dass alle, die nicht auf ihren angestammten Sitzen verharren, in exakt jenen Minuten ihr gut bezahltes Leben genießen. Wahrscheinlich sind sie edel essen, genehmigen sich eine teure Dienstreise oder genießen ihre Jahreskarte im Parlaments-Puff. So sind sie eben, „die Politiker“. Wundert doch keinen, oder?

 

Beschönigung ist keine Lösung

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt immer wieder Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die exakt in die übelsten Schablonen falsch verstandener Mandatstätigkeit passen. Massive Fehleinschätzungen und katastrophale Fehlentscheidungen gesellen sich immer wieder dazu. Allesamt verantwortet von Politikerinnen und Politikern. Vor allem von Regierenden aus mehreren Parteien. Natürlich – und ausgesprochen ohne irgendein Wort der Beschönigung! Klimaziele, Friedensicherung, nachhaltige soziale Sicherheit und Chancengleichheit in der Schule werden viel zu oft massiv verbaselt. Finanzstarke Lobbyisten besitzen viel zu viel Einfluss. Milliarden fließen in fragwürdige Projekte, woanders wird händeringend um Mittel gefleht.

Die Frage lautet nur: Versagt die Politik eigentlich als solche, wenn wir Fehler aufdecken und zu Recht wütend werden?

Ist es nicht vielmehr so, dass gravierende Mängel zu allererst von solchen Politikerinnen und Politikern benannt werden, die nichts mit den erwähnten Fehlern zu tun haben? Sind pauschal alle Abgeordneten schuldig, wenn Regierung und Regierungsparteien versagen? Auch die, die kritisieren und Alternativen formulieren? Gehört „die Politik“ generell auf die Anklagebank?

 

„Die Politik“: Karriere einer fragwürdigen Wendung

Dass ganz allgemein von „Politik“ gesprochen wird, wenn allein Regierungshandeln bewertet wird, hat sich in jüngster Zeit als Wendung etabliert, der unwidersprochen in fast jeder Talkshow gefolgt wird. Der Prozess beschreibt eine einzigartige Karriere. Die logische Konsequenz der vermeintlichen Tatsache, dass „die Politik versagt“, kann nur lauten, dass „die Demokratie versagt“. Und spätestens hier beginnt das Spiel mit dem Feuer. Spätestens hier beginnt das Zündeln an Grundfesten unserer Republik. Allein die Gegenfrage macht es klar, um was es in Wahrheit geht: Wenn Politik als solche tatsächlich versagt, wie soll denn die Alternative zu ihr aussehen?

Eine Alternative kennen wir alle: In Russland, China, durchaus auch in der Türkei können wir täglich beobachten, dass dort ebenfalls „die Politik versagt“. Es gibt nur einen ziemlich markanten Unterschied: Diejenigen, die dort laut ihrer Regierung widersprechen, sitzen zumeist im Gefängnis oder haben keinerlei Chance, andere Sichtweisen über eigene Medien in die Öffentlichkeit zu bringen. Ganz zu schweigen von Friedhöfen, auf denen einst auffällig gewordene Menschen unter ihren Grabsteinen zur „Friedhofsruhe“ beitragen. Wäre dieser Weg besser?

 

Wer zählt eigentlich dazu?

Anders gefragt. „Die Politik“: Wer ist das bei uns eigentlich? In der Demokratie sind es alle, die darüber mitentscheiden, wer im Parlament sitzt und welche politischen Kräfte eine Regierung stellen. Wann immer „die Falschen“ regieren, haben wir es allesamt nicht hinbekommen, deren Mehrheit zu verhindern.

Jeder Stammtischfürst, jede meckernde Marktfrau, jeder notorische Nichtwähler bestimmt regelmäßig darüber mit, wer solche Menschen in Volksvertretungen vertritt. Wähle ich nicht, überlasse ich eben Andersdenkenden das Feld. Die wiederum freuen sich über jede Wahlenthaltung, die ihnen den Weg ebnet. Einem abhängigen Lobbyisten ist es völlig egal, wenn er nach einer Wahlbeteiligung von unter 50% zu seinem Parlamentssitz kommt. Der engagierten Gewerkschafterin, die gern im Fulltime-Job ihre Leute im Parlament vertreten würde, ist es keineswegs egal, wenn etliche sozial Benachteiligte nicht zur Wahl geben und deshalb der Lobby-Mann mit fetten Wahlkampfspenden gegen sie gewinnt.

Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Halte ich gänzlich die Klappe, habe ich eigentlich das Recht verwirkt, glaubhaft auf Missstände hinzuweisen, welche meine Passivität genutzt haben, das Regiment zu führen.

Denn wer sind eigentlich Politikerinnen und Politiker? Das sind nicht nur Regierungsmitglieder und Abgeordnete von Parlamenten. Die wiederum sind dort kontrovers und breitgefächert wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik vertreten. Zwischen links und rechts tun sich Welten auf, die zuweilen zu unterschiedlichen Universen zählen. „Einheitsbrei“ gibt es höchstens in der schmuddeligen Kantine, wenn sich kein Mensch um das Essen kümmert.

Politikerinnen und Politiker sind wir in Wahrheit alle! Die mosernde Marktfrau Elvira zählt ebenso dazu wie Querulant Erwin, der sich wie Elvira rühmt, seit 30 Jahren nie gewählt zu haben. 30 Jahre lang haben sie dazu beigetragen, dass die, die regiert haben, regieren konnten. Politikerinnen und Politiker sind aber auch Menschen, die Leserbriefe schreiben, solche, die in Elterninitiativen für ihre Kinder kämpfen, die als Betriebs- oder Personalräte ihren Mann oder ihre Frau stehen. Millionen Menschen engagieren sich in demokratischen Parteien und verzichten auf Freizeit. Noch mehr sind in Vereinen, Verbänden und Gewerkschaften aktiv. Politikerinnen und Politiker sind von denen alle.

Es sind auch die, die wütend oder kopfnickend über einen OR-Artikel wie diesen diskutieren und sich auf diese Weise irgendwie einmischen.

 

Versagt „die Politik“?

Kann sein. Aber dann sind wir es alle, die gemeinsam versagen. Schlimm genug. Zumindest erhalten wir uns die Chance, eine „andere Politik“ durchzusetzen. Schaffen wir es aber fahrlässig, „die Politik“ durch eine völlig andere Herrschaftsform zu ersetzen, passiert etwas anderes: Sobald wir alles klug scheinenden Verwaltern oder sogar Diktatoren überlassen, stürzen wir vom bequemen Ast in den jähen Abgrund. Es wäre der Ast der „Politik“, den wir genüsslich morsch gemacht und danach selbst abgesägt haben.

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