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Vor 91 Jahren stürmen Nazis das Osnabrücker Gewerkschaftshaus

„Ich hab gezittert und gebebt“

Wir schreiben Samstag, 11. März 1933. Der Tag soll, als er anbricht, unauffällig werden. Der Wetterbericht des Osnabrücker Tageblatts erscheint mit der Prognose „leicht bewölkt und heiter“. Vorsichtig wachsen erste Frühlingsgefühle. Politisch aber wird es eiskalt. Die Kommunalwahl des Folgetages soll bis 1946 der letzte, bedingt demokratische Urnengang sein.

Seit die Regierung Hitler am 30. Januar vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ins Amt befördert worden ist, stirbt die Republik scheibchenweise. Was sich in Form eines Fackelmarsches der braunen Armeen durch das Brandenburger Tor in Berlin laut angedeutet hat, ist längst mit offiziellen Regierungsmaßnahmen eingeleitet worden.

Freien Gewerkschaften wie Sozialdemokratie fehlt bereits seit dem 23. Februar ihr zentrales Mitteilungsblatt: Die „Freie Presse“, gelesen von rund 9.000 Familien in Stadt und Umland Osnabrücks, ist zunächst für fünf Tage, danach dauerhaft verboten worden. Aus Arbeitergeldern finanzierte Druckmaschinen, Papierrollen und Setzkästen hat sich die Nazi-Partei eingeheimst. Alles wird nie wieder auftauchen. Spätestens seit dem Reichstagsbrand am 27. Februar, der dem Niederländer Marinus van der Lubbe mit zweifelhafter Beweisführung in die Schuhe geschoben wird, hat eine Hetzjagd begonnen. Die trifft komplett alle KPD-Mitglieder, vermehrt auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.

Nur mühsam hat ein Aufruf der „Gewerkschafts-Zeitung“, Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, am 11. Februar auch in Osnabrück seine Leserinnen und Leser erreicht. Im Text heißt es:

„In dem großen Ringen, das jetzt ansteht, kämpfen wir gegen die faschistisch-kapitalistische Versklavung des deutschen Proletariats. Keiner darf zurückbleiben! Jeder muss mit verdoppelter Kraft werben und kämpfen für die Stärkung der gewerkschaftlichen Organisation und für den Sieg der Sozialdemokratie bei der Reichstagswahl!“

Eine Woche später, am 18. Februar, kann kein Gewerkschafter mehr sein Zentralorgan studieren. Die Zeitung „Gewerkschaft“ ist verboten worden.

Der Wahlkampf bis zum 5. März 1933 ist eine lupenreine Farce. KPD und SPD gelten zunehmend als kriminelle Vereinigungen. Beiden Parteien ist es bereits Wochen vor dem Wahlgang untersagt, Flugblätter zu verteilen, Kundgebungen abzuhalten oder Plakate zu kleben. Das Reichstagswahlergebnis, bei dem die NSDAP auf 43,9% der Stimmen kommt, ist für die Hakenkreuzler angesichts solcher Umständen sogar eine Blamage. Für Braune ist es zielgenauer, auf pure Gewalt zu setzen. Die Voraussetzungen der NS-Erfolge sind gegeben: Auch die Osnabrücker Polizei ist von SA-, SS- und Stahlhelm-Kämpfern durchsetzt. Alle erfüllen ihre „vaterländische Pflicht“: Sozialdemokraten, Kommunisten oder Gewerkschafter, die sich im Straßenbild zu erkennen geben, werden zusammengeschlagen, oftmals zusätzlich inhaftiert, was zynisch „Schutzhaft“ genannt wird.

Schnappschuss aus besseren Zeiten: Kundgebung der „Eisernen Front“ der Sozialdemokratie, Sommer 1932Schnappschuss aus besseren Zeiten: Kundgebung der „Eisernen Front“ der Sozialdemokratie, Sommer 1932

Die einst stolze Wehrformation der Sozialdemokratie, die „Eiserne Front“, hat vor kurzem noch drei Millionen offizielle Mitglieder gezählt. Seit dem 6. März ist die Organisation, die auf ihren Kundgebungen mit drei Pfeilen auf roter Fahne aufzutreten pflegte, verboten. Am 8. März werden die Reichstagsmandate der KPD annulliert. Nazis und Deutschnationale verfügen dadurch im deutschen Parlament über eine satte absolute Mehrheit. Das vorbereitete Ermächtigungsgesetz soll den Nazis endgültig ihre Macht sichern. Die Zustimmung christlicher Demokraten der Zentrumspartei sowie der beiden liberalen Parteien steht bevor, weshalb beide Parteien von den Machthabern noch höflich behandelt werden und erst einmal nichts zu befürchten haben. Die SPD ist seit Ende Februar die einzig verbliebene Partei, die mit Sicherheit und geschlossen gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmen wird.


Schutzräume für Gleichgesinnte

Menschen in Notlagen brauchen Orte des Schutzes. Geblieben ist Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sowie allen Gewerkschaftsangehörigen, Betriebsräten oder Vertrauensleuten, die in Osnabrück ihren Zusammenhalt bewahren wollen, das hiesige Gewerkschaftshaus am Kollegienwall 14. Hier befinden sich Büros, Versammlungsräume sowie jene Gaststätte unter dem Wirt Raabe, in denen ungeschützte Treffen und offene Debatten noch leidlich möglich sind. Gewerkschaftssekretäre wie die Metaller Haas, Szalinski und Meyer, Schmidt vom Verband der Fabrikarbeiter, Wiltmann für die Holzarbeiter, Rust für die Eisenbahner, Pickenäcker für die Textiler, Beckmann für den Baugewerksbund, Bollwin für die, die in öffentlichen Betrieben arbeiten und Sternberg als Leiter der Rechtsstelle können sich kaum noch aus dem Gewerkschaftshaus trauen. Ähnlich ergeht es dem SPD-Parteisekretär Heinrich Niedergesäß, dessen Büro sich ebenfalls im Haus befindet. An jeder Ecke der Stadt könnten SA- oder SS-Leute auf alle Genannten lauern, um sie völlig ungestraft zu überfallen und zusammenzuschlagen.

Zu verhasst sind für die Nazis nicht nur die sozialdemokratischen Gewerkschafter, sondern auch das Gebäude selbst. Gewerkschafter sind für braune Demagogen allenfalls „Bonzen“, die deutsche Arbeiter „verraten“. Das Gebäude selbst wird konsequent als „Bonzenkloster“ verschmäht und öffentlich angeprangert.

SS-Männer „sichern“ ihre GewaltaktionSS-Männer „sichern“ ihre Gewaltaktion

Überfall, Schüsse, Gewalt und demoliertes Inventar

Die Zeitzeugin Elisabeth Schäfer, Jahrgang 1918, damals junge Mitarbeiterin der Eisenbahnergewerkschaft, wird am 7. September 2008 in einem aufgezeichneten Zeitzeugengespräch davon berichten, was am 11. März 1933 geschieht. Recht anschaulich stellt sie dar,  dass ein Trupp uniformierter und bewaffneter Nationalsozialisten, zusammengesetzt aus SA und SS, zum Teil planlos in die Luft schießend, aus der Johannisstraße über das Café Meyer angekommen ist und sich schnell mit bloßer Gewalt den Zugang ins Gewerkschaftshaus verschafft. Kollegin Schäfer wörtlich:

„Die Türen waren verbarrikadiert, hatten wir immer schon, weil wir damit gerechnet hatten, es würde ein Überfall kommen. Das nützte nichts, die sind von Etage zu Etage gegangen. Und wie es jetzt gestürmt wurde, sind auch die Angestellten, die noch da waren, sind auch bis auf den Boden geflüchtet. Das nützte aber nichts. Sie sind dann da auch noch hinterhergekommen. Und bei mir ins Büro – ich wollte die Tür zuschließen – sagt Ernst Rust, das war unser Sekretär damals, also mein Chef: ‚Da brauchste hier nicht zuschließen, das hat keinen Sinn. Die kommen so oder so rein!‘ Und dann stand ich da drin. Er ist raus gegangen, und ich stand jetzt da hinter der Theke, und mir gegenüber stand dann der Erwin Kolkmeier mit seinem Gewehr …, was er in der Hand hatte. Und ich hab gezittert und gebebt, ….“

Vor allem die SS-Männer, gut erkennbar an ihren pechschwarzen Schlipsen und schwarzen Mützen, machen aus ihrer Sicht „ganze Arbeit“: Im Hause aufgegriffene Gewerkschafter werden geschubst, geschlagen und mit Schmährufen aus dem Haus gejagt, wonach sie von der Polizei „in Schutzhaft“ genommen werden. Andere Polizisten hocken, scheinbar teilnahmslos, in einem offenen Mannschaftswagen, den sie im Hinterhof des Gewerkschaftshauses geparkt haben. Keinen einzigen Gesetzeshüter stört es, dass im Inneren des Gebäudes Mobiliar zerschlagen und teilweise mitsamt unzähliger Akten auf die Straße geworfen wird. Vernichtet werden dadurch etliche wohlgeordnete Rechtsansprüche von Gewerkschaftsmitgliedern, deren Belege und Vertragsabschlüsse in den Akten verwahrt worden sind. Tintenfässer, damals auf Schreibtischen ein übliches Hilfsmittel für Tintenfüller, werden mit Wucht an die Wände geknallt, zersplittern da und hinterlassen riesige tiefblaue Spuren.

Oberhalb des Eingangs hängen die Nazis einen dreieckigen Wimpel, auf dem „Volksgericht“ steht. Ein Gemälde des 1925 verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert wird als Triumph der Besetzung, auf der Oberfläche bereits arg malträtiert, vor das Haus gehängt. Oben auf dem Dach wird als Zeichen des äußeren Triumphes eine riesige Nazi-Flagge gehisst. Was den Besetzern brauchbar erscheint, wird eingeheimst. Besonders beliebt sind Schreibmaschinen. Außerdem werden „Beweismittel“ gesucht. Im Innern eines Raumes finden die Braunen begeistert die Turnkeulen der Arbeitersportlerinnen. Im Nazi-Blatt „Osnabrücker Zeitung“ wird später empört darüber berichtet, dass man Waffen gefunden hätte.

Überreste von Mobiliar und AktenbeständenÜberreste von Mobiliar und Aktenbeständen

Letzter Triumph der Nazi-Gegner

Als die Braunhemden das Gebäude schließlich nach Erledigung ihrer „nationalen Pflicht“ verlassen, übernimmt die städtische Polizei die weitere Überwachung. Die Beamten gehen dabei allerdings weniger akribisch vor als die Vorbesetzer. Am Montag darauf gelingt heimischen Sozialdemokraten deshalb ein letzter kleiner Triumph. Die Antifaschisten bekommen es hin, irgendwie in das Haus einzudringen, die Treppen hochzulaufen, auf den Dachboden zu gelangen und die Hakenkreuzflagge vom Dach zu holen. Folgt man einer Darstellung der NS-Tagespostille „Osnabrücker Zeitung“, konnten SPD-Angehörige sogar „Große Versammlungen“ vor dem Hause durchführen und mit erhobener Faust den Freiheitsgruß der Eisernen Front zeigen. Fest steht: Genussvoll wird das Nazi-Banner schnellstmöglich zerrissen und die Fetzen mit großer Freude in die nahe Hase geworfen.

Die Reaktion der Nazis lässt nicht lange auf sich warten: Der städtische Polizeisenator Hermann wird aufgrund dieses „Vorfalls“ in der Woche darauf umgehend seines Amtes enthoben. Erneut besetzen SA und SS das Haus und hissen eine neue Hakenkreuzfahne.

Verzweifelt teilen Osnabrücker Gewerkschafter ihrer Berliner Zentrale des „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“ mit, was in Osnabrück geschehen ist. Die Berliner Kollegen notieren alles und ordnen es ähnlichen Berichten aus dem Reich zu. Denn das Geschehen am Kollegienwall ist nicht das einzige Ereignis, das allein am 11. März Schlagzeilen produziert. Beinahe zeitgleich ist in Magdeburg die Bundesgeschäftsstelle des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold besetzt worden. Der dortige Oberbürgermeister Ernst Reuter (SPD), nach 1945 wird er Stadtoberhaupt von Berlin, ist am gleichen Tage von der Polizei in Schutzhaft genommen. Die Verwaltung des Verbandes der Bergbau-Industriearbeiter Deutschlands (Alter Verband) in Bochum wird ebenfalls von SA und Hilfspolizei verwüstet. Der Gewerkschaftsvorsitzende Fritz Husemann und über 50 Funktionäre werden dort verhaftet. Die Ereignisse in den Folgewochen sind in ihrer Fülle kaum noch zu erfassen.

Untätige Polizei an der Rückfront des HausesUntätige Polizei an der Rückfront des Hauses

Hilferuf an den Präsidenten – Todeskampf der Demokratie

Am 5. April setzt der ADGB darum das erwähnte offizielle Schreiben an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg auf. Darin wird akribisch alles bis dahin Vorgefallene im gesamten Reich aufgelistet. Zu Osnabrück heißt es:

„In Osnabrück wurde in das Gewerkschaftshaus eingebrochen, fast alle Türen eingeschlagen, viel Mobiliar zerstört und ein Teil der Büromaschinen verschleppt. Alle Versuche, durch Verhandlungen das Haus frei zu bekommen, sind bisher fehlgeschlagen.“

Unklar ist bis heute, ob Hindenburg dieses Schreiben überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Eine Antwort des Staatsoberhauptes, zu dessen Wiederwahl im Vorjahr sogar die SPD aufgerufen hatte, um Hitler zu verhindern, geht nie in der Gewerkschaftszentrale ein.

In den nächsten Wochen werden sich die Ereignisse überschlagen. Das im Berliner Reichstag allein gegen die SPD-Stimmen beschlossene Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 ebnet Hitler endgültig den Weg zur totalen Machtausübung. Am 1. April erfolgen Massenverhaftungen und Misshandlungen unzähliger Repräsentanten der Arbeiterbewegung. Zeitgleich werden erstmals jüdische Geschäfte boykottiert. Am 2. Mai werden alle führenden Gewerkschafter verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen.

Der Innenhof des Gewerkschaftshauses ist der Ort, an dem am gleichen Tage 15 namhafte Osnabrücker Gewerkschafter und Sozialdemokraten zusammengetrieben werden. Um sie zur Schau zur stellen, werden alle anschließend unter Führung des NS-Regierungskommissars Dr. Marxer durch die Innenstadt bis zum Polizeigefängnis in der Turnerstraße getrieben. Am Straßenrand ergötzen sich pausenlos Nazi-Anhänger an der Ohnmacht ihrer Todfeinde, die mit Schmährufen und Spottgesängen bedacht werden. Am Ende steht für alle Drangsalierten die „Schutzhaft“ im Polizeigefängnis.
Die organisatorische Zerschlagung der freien Gewerkschaften folgt in Osnabrück wie andernorts. Die „Deutsche Arbeitsfront“, mit massivem Druck verordnete Einheitsorganisation von Unternehmern wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, wird von den NS-Machthabern als Ersatz für die vernichteten Gewerkschaften propagiert. Dass auch in Osnabrück das vormalige Gewerkschaftshaus eine neue Fassade erhält und fortan als „Haus der Deutschen Arbeitsfront“ firmiert, wird auch optisch zum symbolischen Ausdruck der neuen Machtverhältnisse.

Am Kollegienwall ist es aber das Innere des Hauses, das einen besonders grundlegenden Wandel erfährt. Wo zuvor Kolleginnen und Kollegen Rat suchen konnten, werden nur noch Befehle verordnet. Wo sich einmal Sekretäre, Betriebsräte und Vertrauensleute über die richtige Strategie im Arbeitnehmerinteresse austauschten, werden allenfalls Weisungen empfangen. Wo ehemals das freie Wort gepflegt wurde, erschallen Hasstiraden gegen Andersdenkende. Als das ehemals stolze Gebäude im Krieg ein Opfer von Bomben wird, hat es längst seine frühere Funktion verloren. Heutzutage erinnert zumindest eine sichtbar angebrachte Informationstafel an die ereignisreiche Geschichte des Hauses.

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