Freitag, 11. Oktober 2024

18. August 1942: Der Prager Komponist Erwin Schulhoff stirbt im Lager Wülzburg an Tuberkulose

„Der göttliche Funke kann sowohl in einer Leberwurst als auch in einem Kontrafagott stecken.“

Schulhoff wurde 1894 in Prag in eine wohlhabende und kultivierte jüdische Familie hineingeboren. Antonín Dvořák, der den sieben Jahre alten Erwin Klavier spielen hörte, sagte ihm eine große musikalische Zukunft voraus und sorgte dafür, dass er mit zehn Jahren am Prager Konservatorium aufgenommen wurde. Schulhoff studierte in Leipzig und Köln sowie u. a. weiter bei Max Reger und Claude Debussy. Im Ersten Weltkrieg diente er in der Armee des zum Scheitern verurteilten Österreich-Ungarns, wurde zweimal verwundet und ging aus dieser Erfahrung, wie so viele seiner Generation, verbittert und radikalisiert hervor.

1919 zog er nach Dresden und verbrachte die nächsten vier Jahre in Deutschland. Schulhoff wandte sich von traditionellen Musikformen ab, die er mit der Dekadenz der alten ordnung assoziierte, die in die Katastrophe des Weltkriegs gestürzt hatte, und wandte sich der radikalen Richtung der Avantgarde zu: Dadaismus und Jazz.

Vielen seiner kleineren Stücke ist die Begeisterung für das Groteske und Satire anzuhören. Siehe die Vertonung der Texte Hans Arps („Die Wolkenpumpe“ für Bariton, vier Blasinstrumente und Schlagzeug oder „In Futurum“, was ganz Dadamäßiges (https://youtu.be/FBfOG0D39eo), oder die »Bassnachtigall«, drei Stücke für Kontrafagott (https://youtu.be/F1dfAirdox), zu der er in der Vorbemerkung schrieb: „Der göttliche Funke kann sowohl in einer Leberwurst als auch in einem Kontrafagott stecken.“

schulhoff war einer der ersten, der mit jazz experimentierte, indem er ihn in traditionelle musikformen wie sinfonien und konzerte integrierte, siehe sein jazz-oratorium h.m.s. royal oaks (https://youtu.be/8ofHzAQCGpY), die „hot-sonate“ für altsaxophon und klavier (https://youtu.be/xEINXjjcsNw) oder „die mondsüchtige“ (https://youtu.be/_OvMhrBhIpM). außerdem war ein brillanter pianist, galt als spezialist der vierteltonmusik, wurde aber von verschiedenen zeitgenössischer schulen beeinflusst, von schönberg und alban berg, strawinsky, hindemith, bartók und leos janacek.

ein prager kritiker: [erwin schulhoff ist] „ein herausragender virtuoser pianist, besonders für neue musik erzogen, mit einer großartigen technik, einem beispiellosen gedächtnis und einem radikalen interpretationswillen; ein revolutionärer komponist, der mit beiden beinen fest auf dem boden steht.“

1933 war die karriere schulhoffs – als jude und linker (1932 hatte beispielsweise das kommunistische manifest vertont; das stück wurde nie aufgeführt, galt als verschollen und wurde in den 1960er-jahren in der sowjetunion wieder entdeckt) – in deutschland vorbei. die geplante uraufführung seiner oper „flammen“ nach einem libretto des kafka-frunds max brod in berlin wurde abgesagt, seine werke landeten auf dem index. er zog nach prag zurück. und beantragte nach dem hitler-stalin-pakt, überzeugt davon, dass nur eine radikale volksrevolution vor dem faschismus schützen könne, die sowjetische staatsbürgerschaft. als die 1941 bekommen hatte, beantragte er visa für sich, seine frau mimi und seinen sohn peter. einen tag, nachdem hitler am 22. juni 1941 in die udssr eingefallen war, wurden die schulhoffs jedoch als „feindliche ausländer“ verhaftet, frau und kind wieder freigelassen, und der komponist in das konzentrationslager wülzburg in bayern deportiert, wo er, wie schon geschrieben, an tuberkulose starb.

erwin schulhoffs wiederentdeckung nach der „ausradierung“ seiner werke durch die nazis begann erst 1988 mit gidon kremers einspielungen seiner kammermusikwerke…

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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