Die Bergbraut Henriette d’Angeville
Am 3. September 1838 macht sich Henriette d’Angeville mit 18 Flaschen Wein, 24 Brathähnchen und einer Brieftaube im Gepäck auf, als erste Frau aus eigener Kraft den Mont Blanc, den höchsten Berg der alten Welt, zu besteigen.
Henriette d’Angeville (1794–1871) stammte aus der französischen Aristokratie. Ihr Großvater war während der Revolution unter der Guillotine gestorben, ihr Vater eingesperrt worden und die Familie aus der Normandie nach Südfrankreich, an die Schweizer Grenze, geflohen. Die Comtesse wuchs in der Nähe des Genfer Sees auf und bewunderte schon als Kind von weitem den Mont Blanc, den sie eines Tages besteigen wollte. Doch bis dieser Traum wahr werden sollte, dauerte es noch Jahrzehnte: „Am Tag der Expedition war ich 44 Jahre, 5 Monate und 24 Tage alt, also nicht die junge Französin, die in einer Zeitung beschrieben wurde.“
Der kinderlosen, unverheirateten, nicht mehr ganz jungen Henriette, die seit ihrer Jugend eine passionierte Bergwanderin war, schlug eine Welle der Missbilligung und Verwunderung entgegen, als sie in Chamonix ankam und verkündete, auf den Gipfel des höchsten Bergs der alten Welt zu wollen. Die einen hielten sie für völlig verrückt und die anderen schlossen öffentlich Wetten ab, wo genau sie aufgeben und umkehren würde. Schließlich war die Angst vor der Bergwelt noch groß und nur wenige Männer wagten sich in hochalpine Gebiete vor. Zwar hatte 1808 schon einmal eine Frau auf dem Gipfel des Mont Blanc gestanden, das Dienstmädchen Marie Paradis; sie war jedoch von Jacques Balmat, der den Gipfel 1786 als Erster bezwungen hatte und seinen Begleitern „mitgenommen“ und auf schwierigen Abschnitten von ihnen auf dem Rücken getragen worden.
Doch hier war nun unerhörter Weise eine Frau die treibende Kraft des Unternehmens. Henriette d’Angeville ließ sich weder von den „Experten“ noch von den guten Ratschlägen ihrer besorgten Freunde von ihrem Vorhaben abbringen. Sie war magisch angezogen von der Einsamkeit der Berge, der mächtigen alpenländischen Natur und entschlossen, „auf dem weißen Teppich des makellosen Schnees zu jenen glitzernden Gipfeln zu klettern, die wie leuchtende Altäre sind, ein Ort der Freude, der Süße, der unendlichen Gelassenheit.“
Und sie hatte sich gut vorbereitet, sie hatte trainiert, sich von einem Arzt untersuchen und über die Gefahren der Höhenkrankheit und die Kopfschmerzen aufklären lassen, die sie erwarten würden (aber „nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste, es sei denn, man fängt an, Blut zu spucken“); sie hatte vorsichtshalber ihr Testament verfasst, vor dem Aufbruch Briefe an alle ihre Lieben geschrieben und ihre Ausrüstung und ihre Mannschaft sorgfältig zusammengestellt.
Henriette d’Angeville heuerte sich sechs gestandene Bergführer und Familienväter an (in einem Brief an eine Freundin: „Mir kommt ein Gedanke in den Sinn: Wenn wir von einer Lawine getroffen werden, würden auf einmal sechs Witwen und siebenundzwanzig Waisen zurückbleiben“) und die wiederum jeder noch einen Träger für die ganze Ausrüstung, so dass die Gruppe schließlich aus 14 Personen bestand.
Und die hatten ordentlich zu schleppen. Für sie alle hatte Henriette als Proviant zusammenpacken lassen: Zwei Hammelkeulen, zwei Ochsenzungen, 24 Hühner, sechs Laib Brot, 18 Flaschen Bordeaux, eine Flasche Cognac, eine Flasche Sirup, ein Fässchen „Vin ordinaire“ (für die Träger), zwölf Zitronen, drei Pfund Zucker, drei Pfund Schokolade, drei Pfund gedörrte Pflaumen, 13 Puddings, 13 Kürbisflaschen mit Limonade, 13 Kürbisflaschen mit Orangeade und 13 Töpfe Hühnersuppe.
Bergsteigerbekleidung und -ausrüstungen oder Berghütten gab es natürlich noch nicht. Auf ihrer Packliste standen also außerdem ganz normale Decken und Kissen, dazu Zelte, Seile, Leitern, Kohlen, Öllampen usw. Auch für sich selbst musste Henriette eine eigene Bergkleidung erfinden. Sie entschied sich für pluderhosenartige Knickerbocker, fellgefütterten Rock, Wollstrümpfe, Handschuhe, Flanellhemden, Pelzplaid, Steigeisenschuhen, Spiegel, Fächer, einen schwarzen Pelzhut und einen mit grüner Seide gefütterten Strohhut (bei den Wetterumschwüngen da oben weiß man schließlich nie …). Mark Twain, der in Chamonix eine Lithografie gesehen hatte, die Henriette d’Angeville in ihrer vollen (sieben Kilo schweren) Montur zeigen soll, lästert in „A Tramp Abroad“ später über ihr Outfit: „Miss d’Angeville zog zum Besteigen eine Herrenhose an, was klug war; aber sie schränkte deren Nutzbarkeit ein, indem sie ihren Unterrock dazu nahm, was idiotisch war.“ Man(n) muss es ja wissen:)
Zuletzt suchte die couragierte Miss jedenfalls noch den Priester des Ortes auf und bat ihn, ihr eine Taube aus seinem Taubenschlag zu überlassen, die sie mitnehmen wollte, um zu sehen, wie sie die Höhe und die dünne Luft verträgt und wie lange sie brauchen würde, um vom Gipfel nach Chamonix zurückzukehren. Der Geistliche war einverstanden und versprach, ein großes weißes Laken als Signal neben der Kirche auszubreiten, wenn sie dort wieder angekommen sei …
Vor dem Aufbruch rief d’Angeville nochmals ihre Führer und Träger zusammen und bläute ihnen ein, unterwegs alles zu unterlassen, was ihre „Delicatesse de femme“ berühren könnte. Am Morgen war dann ganz Chamonix früh auf den Beinen, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass die Expedition schon um sechs Uhr aufbrechen würde. Ihren Rock tauschte Henriette jedoch erst gegen die Hosen ein, als keiner der Gaffer sie mehr sehen konnte. Erst dann spürte sie, „wie mir Flügel an den Fersen wuchsen, und ich rannte, statt zu gehen! (…)“
Sie bemerkte bald, dass sie zu schnell unterwegs war und ihre Kraft verbrauchte und als der Fuß des Mont Blanc erreicht war, „dankte ich zugunsten meiner Führer ab, und versprach Respekt vor ihren Meinungen und Gehorsam gegenüber ihren Entscheidungen.“ Doch schon bald lehnte sie den Stock und das Seil ab, mit denen ihre Begleiter sie sichern wollten, und die ließen sich darauf ein, als sie sahen, wie furchtlos und „mannhaft“ sich die Comtesse über den unsicheren Grund bewegte.
Wie wir aus Henriettes Tagebuchnotizen erfahren, wurde der weitere Aufstieg auf den immer unwirtlicher werdenden Berg – wie prophezeit – zum Höllentrip: „Oberhalb der Grands Mulets sehen die Gletscherspalten ganz anders aus als auf den Gletschern: Statt Risse sind es Abgründe von unermesslicher Tiefe. Auf natürlichen Brücken aus eisigem Schnee überquerten wir diese Abgründe. Je weiter wir vorankamen, desto stärker wurde die Kälte; ich hatte vorsichtshalber mein Gesicht mit Gurkensalbe eingerieben. Ich wollte einen zweiten Schutz hinzufügen, meine Samtmaske, die ich aber nicht länger als fünf Minuten aushalten konnte: Mein Atem konzentrierte sich zwischen Maske und Haut und erzeugte die Wirkung von kochendem Wasserdampf. (…)
Dann „wurde Pierre Joseph Simond von einer heftigen Migräne befallen, Favret litt unter Schmerzen, Kummer und Erbrechen, Desplan unter Herzklopfen und Krämpfen, Jacques Simond fühlte sich zerschlagen….“ Und „…ich hatte noch keine zwanzig Stufen unserer vereisten Treppe erklommen, als ich gezwungen war, anzuhalten: Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich fing wieder an zu klettern, der gleiche Zustand, das gleiche dringende Bedürfnis nach Schlaf …“
Tatsächlich litt Henriette d’Angeville wie alle anderen an der Höhenkrankheit. „Das Aufgebot an Willenskraft, das nötig war, um diesen Zustand der Erschlaffung zu überwinden, war größer, als ich es auszudrücken vermag. Ich wurde von einem wahren Paroxysmus erfasst, der mir ermöglichte, sechs bis sieben Schritte zu machen (…) In solch qualvollem Zustand befand ich mich vier Stunden lang, ohne dass ich einen Augenblick daran gedacht hätte, mein Unternehmen aufzugeben. (…) Es hätte ein sehr einfaches Mittel gegeben, um sofort geheilt zu sein: Ich hätte nur umkehren müssen.“
Aber nein. Einmal glaubte sie, mit ihren Kräften am Ende zu sein und sagte zu den Führern: „Wenn ich sterben sollte, ehe ich den Gipfel erreiche, tragt meine Leiche hinauf und lasst sie oben.“ Doch als jemand fragte: „Fräulein, möchten Sie getragen werden?“ stand sie auf und begann wieder zu laufen. „Die Angst vor einer solchen Beleidigung hatte mir neue Kraft gegeben. (…) Ich stieß sogar meine Stöcke weg, um ganz allein und ohne irgendeine fremde Hilfe die Schritte zu gehen, die mich noch vom Sieg trennten. Als ich den Fuß auf den Gipfel setzte, erholte ich mich sofort wie durch ein Wunder. Es war eineinhalb Uhr, ich stieß die Spitze meines Stocks in das Eis, wie ein Soldat das Banner auf der Zitadelle aufpflanzt, die er im Sturm erobert hat. „
Einer der Führer erzählte nach der Rückkehr, dass die Bergsteiger sie gegen alle Konventionen der Zeit auf dem Gipfel als erstes spontan abgeküsst hätten, so heftig, dass man es sicher auch in Chamonix gehört habe. Dann verschränkten zwei von ihnen die Hände und hoben ihre Mademoiselle auf diesem improvisierten Sitz hoch, so dass sie höher als je ein Mensch zuvor in der Luft schwebte. Anschließend setzte sie sich auf ihren „Thron aus Eis und schrieb, mit dem Gesicht gegen Frankreich gewendet, fünf Billette, die den Empfängern bezeugten, dass ich sie nicht vergessen hatte. Gipfel-Grüsse und -Küsse“. (Die Briefe mussten natürlich im Gepäck verstaut und erst wieder mit nach unten genommen werden, bevor sie ihre Empfänger erreichten.)
Und da erinnerte sich d’Angeville auch an die mitgeschleppte Taube und ließ sie frei: „Sie flog in Richtung Gipfel und verschwand aus unserem Blickfeld. Sie hat Chamonix allerdings niemals erreicht und ein paar Tage später unten im Tal geröstet ihr Ende auf irgendeinem Mittagstisch gefunden.“
Nach einer knappen Stunde auf dem Gipfel ritzte Henriette d’Angeville mit ihrem Alpenstock ihren Lieblingsspruch „Vouloir c‘ est pouvoir“ („Wollen ist Können“ oder „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“) in den verharschten Schnee – und gab der Gruppe das Signal zum Aufbruch. Den Abstieg bis zu der Stelle, wo die Maultiere warteten, schafften sie anders als den Aufstieg, der mit Biwakieren zweieinhalb Tage und ohne fast zwölf Stunden gedauert hatte, in nur vier Stunden.
Als sie dann schließlich in Chamonix einzogen „waren alle Fenster voller Menschen; die Belvederes, die Galerien der überfüllten Hotels und am Eingang der Brücke begrüßten die jungen Leute des Landes meine Rückkehr mit Böllerschüssen, deren hallender Lärm von den Echos des Tals wiederholt wurde. Es lebe die Königin der Alpen!“
Der Bürgermeister veranstaltete ein großes Festessen zu Ehren der Bergbezwingerin, sie bekam feierlich eine Urkunde überreicht, und auch die inzwischen 60-jährige Marie Paradis gratulierte und meinte, die Ehre der ersten echten Besteigung des Mont Blanc müsse Mademoiselle d’Angeville zuteilwerden, denn sie selbst könne sich nur erinnern, dass sie damals auf den Gipfel „hinaufgeschleift, getragen und geschoben“ worden und „halbtot“ dort angekommen sei. (Der Fairness halber muss hinzugefügt werden, dass diese Aussagen von Henriette d’Angeville stammen, die diesen Triumph natürlich für sich beanspruchen und ganz sicher nicht mit einem Dienstmädchen teilen wollte.)
„Doch was“, überlegte die „Königin der Alpen“ in ihren Erinnerungen, „wenn mich eine Lawine in eine der Klüfte des Mont Blanc geschleudert hätte? Was, wenn wir zurückgekehrt wären, ohne den Gipfel erreicht zu haben? Dann hätten sie sich über uns lustig gemacht. Wäre einer meiner Führer umgekommen, hätte man mich gesteinigt, und was, wäre ich umgekommen…? Mein Mut, diese Gefahren zu bestehen, wäre derselbe gewesen; und doch, was für ein Unterschied! Diejenigen, die mich jetzt so wortstark lobten, hätten mir keine einzige Träne nachgeweint, und ihre Meinung hätte sich in einem Satz zusammenfassen lassen: „Diese Verrückte hat einen hohen Preis dafür gezahlt, dass sie in aller Munde sein wollte!“ Dieser Gedanke schwebte über meiner triumphalen Rückkehr, wurde zu einer Wolke … und war doch gleichzeitig ein hervorragendes Korrektiv gegen die kleinen Verlockungen des Hochmuts.“
Anders als Marie Paradies, die nach ihrem Abenteuer laut Zeitzeugen „Nie wieder!“ ausgerufen haben soll, blieb Henriette d’Angeville ihrer Leidenschaft treu (und konnte sich das anders als Marie finanziell auch leisten). Die „Braut des Mont Blanc“, wie sie von nun an genannt wurde, bestieg in den folgenden Jahren noch zig Berge und 21 Gipfel, zuletzt mit 69 Jahren das schwierige Oldenhorn, ebnete allein durch ihren Ruf anderen Frauen den Weg in die alpine Bergwelt, beschäftigte sich mit Höhlenforschung und baute zuletzt ein Museum für Mineralien in Lausanne auf, wo sie 1871 starb.