Montag, 6. Mai 2024

Ein Nazi fährt nach Palästina 

Über eine sonderbare Medaille, blauweiß-braune Reisende und irritierende Pakte

Als ich eine dieser Medaillen das erste Mal gesehen habe, dachte ich an einen makabren Scherz. Aber nein. Das NSDAP-Blatt „Der Angriff“ hat 1934 einen zwölfteiligen, bebilderten Reisebericht abgedruckt, der im Vorfeld mit Anzeigen in offiziellen Regime-Medien wie dem „Völkischen Beobachter“ und mit der abgebildeten Medaille beworben wurde, die alle Abonnenten des „Angriffs“ gratis bekamen. Diese Bronzemünzen mit einem Durchmesser von gut 3,5 Zentimetern, die es in kleinerer Stückzahl auch versilbert gibt, wurden von der Firma Christian Lauen, die zu dieser Zeit einem Gustav Rockstroh gehörte, in Nürnberg hergestellt: auf der Vorderseite der Davidstern, umgeben von der Inschrift „EIN NAZI FÄHRT NACH PALÄSTINA“, auf der Rückseite das Hakenkreuz-Symbol über den Worten „UND ERZÄHLT DAVON IM Angriff“. Die Artikelserie erschien zwischen dem 26. September und 9. Oktober 1934 und was der reiselustige Nazi ausgerechnet in diesem antisemitischen Hetz-Blatt zu erzählen hatte und erzählen durfte, erstaunt erst einmal. Denn es ist eine reine Lobeshymne auf den Zionismus und die Aufbauarbeit der Juden in Palästina.

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Und so geschah es. Kurt Tuchler und die ZVfD organisierten die Tour und im April 1933 traten der Jude und der Nazi, beide begleitet von ihren Ehefrauen, zwei Gerdas, in Prag ihre Reise an. Der Autor lernt schon bei der Anreise im Zug nach Triest junge Chaluzim kennen und konstatiert: „Bei aller Wichtigtuerei ist aber etwas neues in ihrem Wesen. „Etwas hebt ihre Schultern, läßt sie den gesenkten Ghettoblick heben. Sie fahren nach ‚Erez Israel‘, in ‚ihr Land‘“. Viele dieser Pioniere hätten ihren Beruf aufgegeben, um sich einem Kibbuz anzuschließen, und alle seien Idealisten und von Stolz erfüllt, ihr eigenes Land auzubauen.

Nach der Ankunft mit dem „Rasenden Moses“ (ein Spitzname für das Auswandererschiff Martha Washington“) in Haifa, sind es dann neben Tuchler, der ihn u.a. zum Emir von Transjordanien begleitet, aber auch andere Funktionäre, die von Mildenstein die Errungenschaften im Mandatsgebiet vorführen, wie Werner Bloch, der auf Veranlassung von Moshe Shertok (später als Moshe Sharett erster Außenminister Israels) mit ihm zu den Siedlungsgebieten fährt, oder die ihn wie der KKL mit Fotos für seinen Reisebericht versorgen. Und so bewundert LIM den Trubel in den Häfen von Haifa und Jaffa, die „ausgezeichneten Autobahnen“, den „Baurausch“, die imposanten neuen Industrieanlagen, die Kraftwerke, Tel Aviv, „die Stadt ohne Gojim“ (in der nur Juden wohnen, arbeiten, handeln, baden und tanzen), Kibbuzim, Moshawim, Orangenplantagen, die Erziehung in den Kinderheimen und die hart arbeitenden Siedler, die es geschafft hätten, die sumpfige Jesreel-Ebene in Kulturland zu verwandeln. Mildensteins Lob gilt allein den Zionisten, während er für orthodoxe Juden nichts übrig hat und für die palästinensischen Araber nur Worte findet, die auch dem antisemitischen Kanon entstammen könnten (rückständig, schmutzig, raffgierig, zudringlich…).

Seiner späteren Artikelserie hatte Leopold von Mildenstein drei Fragen vorangestellt: „Welche Zukunft hat dieses Land? Welche Chancen hat der Zionismus im unruhigen Orient? Ist hier die Lösung der Judenfrage gefunden?“ Am Ende seiner Reise und seines Berichts ist er überzeugt davon, das deutsche Heil läge tatsächlich in der Auswanderung der Juden nach Palästina und dort sei man auch willens und in der Lage, eine große Zahl deutscher Juden aufzunehmen, wobei der wirtschaftliche Aufschwung von der Einigung zwischen Arabern und Juden abhänge: „Das ganze Problem der Wiedergesundung eines entarteten Volk durch Neuverwurzelung im alten Boden steht und fällt mit dieser Einigung“. Zuletzt versucht er, die deutschen Befürchtungen vor der Entstehung eines jüdischen Staates zu zerstreuen, indem er erklärt, dass ein „Staat“ für die Schaffung eines Heimatlandes nicht notwendig sei, schließlich seien viele Völker jahrhundertelang auch ohne Staat gediehen, und er endet damit, dass „das jüdische Palästina“ einen Weg weise, „wie eine Jahrhunderte alte Wunde am Körper der Welt heilen könnte: das Judenproblem.“

Genau das wollten Tuchler und sein Teils der zionistischen Bewegung hören, die nach den ersten antijüdischen Maßnahmen der neuen Regierung hofften, mehr deutsche Juden zur Auswanderung nach Palästina bewegen zu können. Und genau das wollten auch die Teile der NS-Führung hören, die hofften, die Zionisten würden ihnen die Arbeit abnehmen.

Die Idee war dabei nicht neu. Der glühende Antisemit und spätere NSDAP-Chefideologe Alfred Rosenberg hatte schon 1920 in seiner Schrift „Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten“ gefordert: „Der Zionismus muß tatkräftig unterstützt werden, um jährlich eine zu bestimmende Zahl deutscher Juden nach Palästina oder überhaupt über die Grenze zu befördern.“ Rosenberg war zwar inzwischen umgeschwenkt, doch von Mildensteins positiver Bericht trug wesentlich dazu bei, die „zionistische Option“ bei der SS durchzusetzen, die sich so auch den Hut in der „Judenpolitik“ aufzusetzen vermochte und die ihrer Position quasi durch die Hintertür einen offiziellen Anstrich gab, in dem sie den Reisebericht über eine direkte Order von Propagandaminister Joseph Goebbels in wichtigen NS-Medien lancierte und die Medaille produzieren ließ.

links: Werbeanzeige im „Völkischen Beobachter“links: Werbeanzeige im „Völkischen Beobachter“

Man muss sich klar machen, dass die Protagonisten des Regimes in dieser frühen Phase der NS-Herrschaft noch keine einheitliche Haltung zur „Judenfrage“ hatten. Und dass auch die jüdische Seite nicht ahnen konnte, wie radikal sich die antijüdische NS-Politik entwickeln würde. In diesem Moment sah es für beide Seiten nach einer Win-Win-Situation aus.

Den Nazis war daran gelegen, die Juden loszuwerden, den deutschen Handel weg von den traditionellen Handelspartnern u.a. in Richtung Nahost auszubauen und den Boykott deutscher Waren zu unterlaufen, den britische und amerikanische Organisationen als Antwort auf die ersten deutschen anti-jüdischen Maßnahmen nach dem Machtwechsel organisiert hatten.

Die Zionisten wiederum wollten, dass so viele wie möglich nach Palästina auswanderten und so viel wie möglich von ihrem Besitz mitnehmen konnten, der durch die „Reichsfluchtsteuer“ ohnehin schon stark dezimiert wurde. Als von Mildenstein auf seiner Reise im Frühsommer 1933 über den palästinensischen Wirtschaftsboom schwärmte, verhandelten also Vertreter von Tuchlers ZVfD und der Jewish Agency gerade mit dem deutschen Reichsministerium für Wirtschaft über ein Abkommen, das als Haavara-, Übertragungs- oder Transfer-Abkommen (הסכם העברה) in die Geschichte eingegangen ist. Demnach sollten jüdische Auswanderer aus dem Deutschen Reich einen Teil ihres Vermögens in Form deutscher Export-Waren nach Palästina transferieren können, was wiederum die deutsche Wirtschaft stärken würde.

Ähnliche Abmachungen zwischen Zionisten und der deutschen Regierung hatte es schon in der Weimarer Republik gegeben und 1932 hatte Sam Cohen, Direktor der palästinensischen Hanotea Ltd., einer Gesellschaft zur Anlage von Zitrusplantagen, bereits „unter der Hand“ Verhandlungen geführt und übernahm nun auch, zusammen mit Eliezer Hoofien, dem Direktor der Anglo-Palestine Bank (später Bank Leumi), die direkten Gespräche mit dem Reichswirtschaftsministerium. Die führten im Mai 33 zunächst zu einen Vertrag, nach dem ausreisewillige deutsche Juden Reichsmark auf ein deutsches Sperrkonto einzahlen konnten, die von Hanotea für den Import deutscher Waren nach Palästina benutzt wurden; der Erlös aus ihrem Verkauf wurde den Einzahlern dann abzüglich diverser Kosten in Palästina-Pfund oder Sachwerten wie Häusern oder Zitrusplantagen ausbezahlt. Einen Monat später wurde unter Beteiligung der ZVfD, der Anglo-Palestine Bank und der Jewish Agency eine neue Übereinkunft getroffen, nach der eine Treuhandgesellschaft den Auswanderern das auf ein Reichsmark-Sonderkonto eingezahlte Geld in Palästina auszahlte und den Absatz deutscher Exporte übernahm.

Ende August 1933 wurde die Abmachung in einem Runderlass des Reichswirtschaftsministeriums in Vollzug gesetzt und Anfang November die „Trust and Transfer Office Haʿavara Ltd“ In Palästina eingetragen und in Deutschland die „Palästina-Treuhandstelle zur Beratung deutscher Juden GmbH“ gegründet.

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Das Abkommen wurde von beiden Seiten quasi als Wirtschaftsabkommen zwischen privaten Parteien ausgegeben, denn es war sowohl innerhalb der NSDAP als auch inner- und außerhalb der zionistischen Bewegung in der Diaspora mehr als umstritten. Jüdischerseits kam der Widerstand insbesondere von der amerikanischen Führung des World Zionist Congress und dem Präsidenten des American Jewish Congress, Rabbi Stephen Wise.

Rechtsrevisionistische Zionisten wie Vladimir Jabotinsky nannten die Beteiligten „Verräter“ oder das Abkommen einen „Verrat am Weltjudentum“, wie die polnischen orthodoxen Rabbiner (für die die Errichtung eines Staates in Erez Israel ohnehin der Tora widersprach) und Charedi-Funktionäre, wie die der Agudat Israel (die den Boykott für den einzigen Weg hielten). Andere kritisierten, dass nur begüterte und nur deutsche Juden etwas von der Haavara hätten bzw. das eine Schwächung des Boykotts allen anderen schade. Chaim Arlozorov, der Verhandlungsführer der Jewish Agency, wurde im Juni 1933 sogar ermordet.

Dennoch billigte der 19. Zionistenkongress 1935 das Haavara-Abkommen mit knapper Mehrheit und nahm das moralische Dilemma in Kauf. Die Mittel, die das Transferabkommen dem Jischuw bringen würde, wurden dringend für den Aufbau der wirtschaftlichen Infrastruktur gebraucht, die wiederum für die Aufnahme der Juden aus Deutschland notwendig war, die ihrerseits dringend benötigte Arbeitskräfte darstellten. Zudem konnte damit die britische Blockade umgangen werden, die Juden nur offiziell ins Land ließ, wenn sie ein von den Briten ausgestelltes „Capitalist Certificate“ vorlegten, mit dem sie einen Besitz anfangs von 500 palästinensischen Pfund, später von 1000 Pfund, nachweisen konnten.

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Auf deutscher Seite war das Ziel, wie gesagt, den internationalen Boykott deutscher Waren zu unterlaufen, die eigene Wirtschaft zu stärken und dabei auch noch die unerwünschten Juden elegant loszuwerden. Und Leopold von Mildenstein hatte nicht nur mit seinem Reisebericht viel zur Akzeptanz diesen Lösungsweges beigetragen (Kurt Tuchler: „Dieser Mann war auch später in Deutschland für uns noch sehr nützlich, namentlich bei den Transfer-Abkommen … Eine ganze Anzahl von wichtigen, vertraulichen Mitteilungen habe ich … von ihm bekommen, und ich habe auch in Einzelfällen mehrfach durch ihn helfen können“.). Doch gab es auch in der NS-Führung etliche Kritiker, die davor warnten, dass die Konzentration von Juden in Palästina zur Gründung eines jüdischen und deutschfeindlichen Staates führen, das deutsche Ansehen bei den Arabern und den Handel mit ihnen schädigen und die Sicherheit der dortigen deutschen und christlichen Gemeinden gefährden könne.

Doch zunächst funktionierte das Haavara-Abkommen, wie es sollte. Im ersten Jahr nahm die deutsche Warenausfuhr nach Palästina um ein Viertel gegenüber dem Vorjahr zu. Bis zu seinem Stop nach dem deutschen Überfall auf Polen wurden im Rahmen des Abkommens Waren für über 120 Millionen Reichsmark nach Palästina exportiert, gingen 60 Prozent des in Palästina investierten Kapitals auf das Transfer-Abkommen zurück.und konnten zwischen 50000 und 600000 jüdische Deutsche die Möglichkeit zum Devisentransfer und zur Auswanderung nutzen und sich eine neue Existenz in Palästina aufbauen, selbst wenn sie bei der Transaktion etwa 60 % ihres Vermögens verloren. Ohne das Abkommen wäre auch die verbliebene Summe verloren gewesen, viele hätten Deutschland gar nicht erst verlassen können und der Kapitaltransfer ermöglichte auch, die Auswanderung von Menschen zu finanzieren, die über keine Mittel verfügten.

Dr. Kurt Tuchler (l.) und Leopold von Mildenstein, 1950er-JahreDr. Kurt Tuchler (l.) und Leopold von Mildenstein, 1950er-Jahre

Wie ging es weiter mit Tuchler und mit von Mildenstein?

Amtsgerichtsrat Dr. Kurt Tuchler, Berlin-Wilmersdorf, Landhausstraße 2, wurde 1933 seines Amtes enthoben, emigrierte 1936 mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter nach Palästina und starb 1978 in Tel Aviv. Zu Leopold von Mildenstein hatte er nach der Übersiedlung weiter Kontakt („Er schickte mir jedes Jahr zu Roshhashanah einen Iwrith-Glückwunsch nach Palästina.…“ ), der bis zu dessen Tod 1968 auch nie abbrach (über die Beziehung hat Tuchlers Enkel Arnon Goldfinger 2011 den vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilm „Die Wohnung“ gedreht).

Leopold von Mildenstein selbst galt seit seiner Artikelserie als „Nahostexperte“. Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS, zu dieser Zeit ebenfalls noch Verfechter der Lösung des „Judenproblems“ durch geordnete Auswanderung nach Palästina und wie von Mildenstein voll des Lobes für allein die Zionisten, die alle „assimilationistischen Einschmelzungsideen“ ablehnten (Heydrich im Mai 1935 in „Das schwarze Korps“, dem offiziellen Organ der SS: „Die Zionisten halten sich streng an einen Rassenstandpunkt und helfen mit ihrer Auswanderung nach Palästina beim Aufbau ihres eigenen jüdischen Staates … Unsere guten Wünsche und unser offizielles Wohlwollen gehen mit ihnen.“) beauftragte ihn 1935 mit der Leitung des „Judenreferats“ des SD. Von Mildenstein unterstützte so u.a. die Hachschara-Kurse und -Lager, die Jugendliche auf die landwirtschaftliche Arbeit in den Kibbuzim vorbereiteten.

Zugleich wurden in der NSDAP jedoch die Kräfte bestimmender, die monierten, dass sich der Nutzen für das Regime in Grenzen hielt, da nicht genug und immer weniger Juden dorthin auswanderten (u.a. weil die britische Mandatsmacht aufgrund der Arabischen Revolte die Einwanderung zunehmend einschränkte). Nach knapp einem Jahr wurde von Mildenstein jedenfalls zur „Organisation Todt“ versetzt, bis er schließlich Referent und dann Leiter der Nahost-Abteilung des Propagandaministeriums wurde (und nun pro-arabische und anti-zionistische Positionen einnahm, und nach dem Krieg für die CIA und als PR-Berater für Coca Cola arbeitete). Einer seiner Nachfolger in der „Abteilung II/112: Juden“ beim SD wurde sein Schützling, ein Mann namens Adolf Eichmann …

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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