Flaschenpfand & Arisierung: „Engelhardt“ werden die meisten Biertrinker noch kennen …

… und Ignatz Nacher? Er ist der Mann hinter dem Bier.

Nacher, am 25. November 1868 im damals österreichischen Schlesien geboren, war um die Jahrhundertwende aus Gleiwitz nach Berlin gekommen. Die Keimzelle seines späteren Bier-Imperiums war eine kleine Weißbierbrauerei in der Chausseestraße 33, die in den 1860er-Jahren gegründet worden war, vom Kaufmann Ernst Engelhardt übernommen und 1897 an Martin Wasserzug weiterverkauft wurde, der sie 1902 als „Ernst Engelhardt Nachfolger Berlin“ seinem Verwandten Ignatz Nacher verkaufte.

nacher hatte vorher schon ein jahr als prokurist der brauerei gearbeitet und baute engelhardt sukzessive zum zweitgrößten unternehmen in der branche aus; zeitweise war er auch der größte malzbierbrauer der welt. das lag an der guten qualität der biere und daran, dass nacher zwei wesentliche neuerungen in die branche eingebracht hatte: 1905 das pasteurisieren von bier (womit es möglich wurde, obergäriges bier in flaschen abzufüllen) und 1913 die pfandflasche bzw. das flaschenpfand.

die engelhardt-brauerei hatte filialen in charlottenburg (klausner platz), pankow (thulestraße), mitte, wedding, prenzlauer berg und stralau (der berühmte „flaschenturm“ von bruno buch steht unter denkmalschutz), und bald auch in ganz deutschland (u.a. gehörte der oberbayrische hofbräu, die ritterbrauerei dortmund, die winterhuder bierbrauerei hamburg und die gesenberg-brauerei im ruhrgebiet zu engelhardt). nacher war wohl nicht besonders religiös, aber er spendete regelmäßig für wohltätige zwecke, so für die einrichtung eines jüdischen altenheims in gleiwitz.

nachers bierkutschen mit dem engel-logo, die sein „charlottenburger bier“ auslieferten, prägten ein viertel jahrhundert lang das straßenbild berlins – bis die nazis 1933 zum boykott das „judenbiers“ aufriefen. und bald begannen, auf perfide weise erst nachers absetzung, dann seine enteignung zu betreiben. sie konstruierten eine schmiergeldzahlung, die er geleistet haben soll; nacher wehrte sich, scheiterte vor gericht, wurde mehrfach verhaftet, man drohte ihm mit kz, erpresste ihn und legte ihm selbstmord nahe. völlig zermürbt und benebelt, er hatte diabetis, bekam aber wochenlang kein insulin im gefängnis, unterschrieb er am ende eine blankovollmacht und den „verkauf“ seiner anteile an der brauerei. die protagonisten und profiteure des raubs: die dresdner bank, und der berliner staatskommissar julius lippert (der seine aktien später auch an die dresdner bank abgab im tausch gegen den glienicker park samt jagdschloss, den ignatz nacher nach dem ersten weltkrieg erworben hatte); unmittelbar beteiligte hauptakteure: die bankiere alfred hölling, carl goetz und hilar giebel („ich werde nacher zwanzig prozesse anhängen und dafür sorgen, daß er das land am bettelstab verläßt!“).

und so kam es. nachdem nichts mehr aus ignatz nacher herauszupressen war, wurde er frei gelassen. nacher hatte dreißig kilo abgenommen und war ein wrack. ausreisen konnte er nicht, weil sein pass eingezogen worden war. er erhielt ihn erst 1938 zurück. er warnte noch seine schwiegertochter, die schauspielerin camilla spira, bloß nicht nach berlin zurückzukehren und floh nach der pogromnacht (in der sein alter geschäftspartner willy lessing in bamberg mit einer axt erschlagen wurde) in die schweiz. zuvor nahmen ihm die nazis noch sein letztes geld ab: judenvermögensabgabe, reichsfluchtsteuer, auswanderungsabgabe, „dego“-abgabe, insgesamt 1.796.906 reichsmark. ignatz nacher starb wenige monate später, am 16.9.1939 in zürich.

nach dem krieg (die brauerei in ost-berlin wurde als „volkseigener betrieb engelhardt“ weitergeführt, im westen behielt sie den alten namen und wurde später von schultheiß gekauft) beantragten überlebende verwandte nachers die rückerstattung der enteigneten brauereien. die dresdner bank ließ durch ihren bankdirektor alfred hölling – es war derselbe wie 1933 – nachers „freiwillige“ vollmachtserklärung präsentieren. auch carl goetz, aufsichtsratsvorsitzender der dresdner bank und (siehe oben) schon 1933 bei der erpressung ignatz nachers beteiligt, war es jetzt wieder – bei deren ableugnung; in anerkennung seiner „verdienste um die deutsche wirtschaft“ wurde ihm 1956 das große bundesverdienstkreuz verliehen. der rechtsanwalt josef müller, der die „vertragsverhandlungen“ mit nacher über dessen bayrische brauereien geführt hatte, machte nach dem krieg karriere als bayrischer justizminister …

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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