Judith Kessler: Das skurrile Testament des Rechtsanwalts Charles Vance Millar

Am 22. Dezember 1937 entscheidet das Oberste Gericht Kanadas die endgültige Rechtsgültigkeit eines skurrilen Testaments

Elf Jahre zuvor, am 31. Oktober 1926, war der angesehene Rechtsanwalt Charles Vance Millar in seinem Büro in Toronto mit 73 jahren nach einem Herzinfarkt tot zusammengebrochen. Millar hatte, wie man bald erfahren sollte, einen leicht schrägen Humor, der jahrelang für Schlagzeilen sorgen sollte, denn sein „letzter Wille“ hatte es in sich:

Millar vermachte sein Sommerhaus auf Jamaika drei Anwälten – T. F. Galt, J. D. Montgomery und James Newerson, von denen er wusste, dass sich auf den Tod nicht ausstehen konnten.

Jedem einzelnen protestantischen Pfarrer, der zum Zeitpunkt seines Todes in Toronto lebte und für die Prohibition kämpfte, vererbte er Anteile an der katholischen O’Keefe-Brauerei, unter der Bedingung, dass sie dafür in deren Leitungsgremium eintraten – (die meisten zögerten nicht und sicherten sich ihren Anspruch).

Drei weitere Herren, die sich öffentlich vehement gegen Pferderennen und -wetten stark gemacht hatten, darunter ein Geistlicher und ein Richter, bedachte Millar mit Aktien eines Jockey-Clubs, wenn sie dort Mitglieder würden (auch hier siegte die Gier. Die drei traten am 27. august 1927 für fünf Minuten dem Ontario Jockey Club bei und bekamen so ihre Anteile.)

Die größte öffentliche Aufregung aber verursachte der neunte Absatz des Testaments, mit dem Millar sein gesamtes übriges Erbe samt Zinsen derjenigen Frau oder den Frauen in Toronto übereignete, die in den zehn Jahren nach seinem Tod die meisten Kinder bekommen würde(n). Millar selbst, dessen verbleibende Vermögenswerte trotz Weltwirtschaftskrise bis zu ihrer Liquidation 1936 auf etwa 750.000 US-Dollar (heute etwa 13,2 Millionen) angewachsen waren, hatte sparsam gelebt. Er hat 23 Jahre in einem Zimmer im Queens Hotel gewohnt und war erst mit seiner Mutter in ein eigenes Haus gezogen, als sein Vater gestorben war. Er hatte nur weit entfernte Verwandte und zu denen keinen Kontakt, war nie verheiratet, trank jeden Tag vor dem Abendessen einen Drink und lag um halb neun im Bett.

Millar war überzeugt davon, dass jeder Mensch seinen Preis hat. Und so bestand eine seiner Lieblingsbeschäftigungen darin, auf der Veranda des Queen’s zu sitzen und zu beobachten, welche Verrenkungen Passanten machten, um den Dollarschein, den er dazu jeweils auf dem Bürgersteig plaziert hatte, heimlich einzustecken. Er selbst hatte richtig viel Kohle mit Immobilien und Anlagen verdient sowie mit einem erfolgreichen Rennstall und als Anwalt, der spezialisiert darauf war, Lücken in Gesetzen und Verträgen zu finden.

Und so war auch sein „letzter Wille“ wasserdicht. Er war mit solch juristischer Sorgfalt erstellt worden, dass er zehn Jahre lang allen Angriffen seiner Verwandten widerstand, die sofort nach seinem Tod aus allen Löchern gekrochen kamen und das dokument als „absurd“ anfochten, aber auch die der vielen anderen Kläger und der Regierung, die versuchte, es für ungültig erklären zu lassen und sich darauf berief, dass das „große Storchenderby“ (so hatte die presse die klausel mit dem Kinderkriegen genannt) die Unsittlichkeit fördern und gegen die öffentliche Ordnung verstoßen würde. Der oberste Richter Justice Middleton hat diesen Punkt nun aber elf Jahre nach Millars Tod, wie eingangs erwähnt, mit dem einfachen Urteil endgültig geklärt: „Ich kann nicht feststellen, dass die Reproduktion der menschlichen Rasse der Moral widerspricht.“

Rückblickend soll das „Storchenderby“ außer den Frust von Ehemännern, deren Zeugungskraft plötzlich Weltnachrichten geworden waren, aber gar keine so riesige Geburtenwelle ausgelöst haben. Die vier, die am Ende als erbberechtigt feststanden (sie bekamen jeweils 165.000 Dollar, heute wären das über zwei Millionen) hatten jeweils neun Kinder; anderswo auf der Welt bekamen Frauen im gleichen Zeitraum zwölf und mehr.

Es lässt sich nicht genau sagen, was Millar zu diesem Testament veranlasst hat. Einige, die näher mit ihm zu tun hatten, meinten, er hätte allen Heuchlern und Bigotten eine Lektion erteilen wollen und sei darüber hinaus überzeugt davon gewesen, dass die in Kanada damals verbotene Geburtenkontrolle schuld an dem Elend vieler Menschen war. Andere sagten, es sei ihm um die verklemmte Sexualmoral gegangen und darum, das Rechtswesen zu foppen, das machtlos gegenüber seinem Testament war.

Vielleicht wollte er auch nur noch einmal Recht behalten mit seiner Meinung, dass jeder Mensch käuflich sei und es nur auf den Preis ankomme.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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