Freitag, 3. Mai 2024

Judith Kessler erinnert an die Nobelpreisträgerin Rita Levi-Montalcini, die heute vor 115 Jahren geboren wurde

Rita Levi-Montalcini, *22.4.1909, Nobelpreisträgerin

Rita war eines von vier Kindern des Elektroingenieurs Adamo Levi und der Malerin Adele Montalcini. Adamo Levi, ein konservativer Sepharde, war gegen eine Hochschulbildung für Mädchen, ließ sich aber von seiner willensstarken Tocher überreden, die, als ihr Kindermädchen an Krebs erkrankt war, beschlossen hatte, Ärztin zu werden. Er erlaubte ihr, sich in ihrer Heimatstadt Turin für Medizin einzuschreiben 1936 schloss sie das Studium in Medizin und Chirurgie ab und schwankte zwischen Lehre und Forschung, beschloss als Schülerin des Histologen Giuseppe Levi dann aber, noch Neurologie und Psychiatrie zu belegen.

1938 traten jedoch die Rassengesetze in Kraft, die ihr als („Halb“)-Jüdin das weitere Studium unmöglich machten. Sie ging auf Einladung des Instituts für neurologische Forschung nach Brüssel und arbeitete dort als Gastwissenschaftlerin. Aus Angst vor einem deutschen  Einmarsch kehrte sie aber bald nach Italien zurück. Hier wiederum durfte sie keine Universität und keine Bibliothek mehr betreten.

Sie wollte arbeiten, suchte Beschäftigung. „Es musste eine Tätigkeit sein, die keine Unterstützung von der arischen Welt da draußen brauchte“, schrieb sie später in einem autobiografischen Artikel. „Meine inspiration war ein Fachartikel aus dem jahr 1934 von Professor Viktor Hamburger.“ Der aus Deutschland stammende jüdische Entwicklungsbiologe, der im amerikanischen Exil forschte, beschrieb darin seine versuche mit Hühner-Eembryonen. Er hatte ihnen die Flügel entfernt und festgestellt, dass die Nerven, die normalerweise in die Gliedmaßen hineinwachsen, aufhörten zu wachsen oder abstarben. Levi-Montalcini fragte sich nun u. a., was den Nervenzellen „mitteilt“, dass sie nicht weiter wachsen müssen und woher sie „wissen“, wo sie gebraucht werden.

Dazu musste sie Hamburgers Experimente nachvollziehen, aber in ihr altes Labor durfte sie nicht mehr. Rita Levi-Montalcini baute sich in ihrem Schlafzimmer ein winziges provisorisches Labor auf, schliff Nähnadeln zu Skalpellen um und untersuchte „unter ähnlichen Bedingungen wie Robinson Crusoe“ die Eier bzw. deren Nervenzellen, die für die Bewegungssteuerung verantwortlich sind unter dem Mikroskop. Die Eier bekam anschließend ihre Familie zu essen.

Giuseppe Levi, ihr früherer Mentor, als Jude inzwischen ebenfalls aus der Akademie ausgeschlossen, wurde nun ihr „Assistent“. Die Beiden entwickelten eine Theorie, die Hamburgers Modell zuwiderlief, aber den Grundstein für das moderne Konzept des Nervenzelltods als Teil der normalen Entwicklung lieferte.

Als die alliierten 1941 Turin bombardierten, verlegte Levi-Montalcini ihr Labor aufs Land. Doch 1943 wurde es auch dort zu gefährlich, weil die Wehrmacht einmarschiert war und anfing, Juden zu jagen. Die Wissenschaftlerin flüchtete mit ihrer Familie unter falschen Namen in den Süden und lebte mit Hilfe von Partisanen bis zur Befreiung Italiens im August 44 illegal in Florenz. Anschließend arbeitete sie als Ärztin in einem Lager der Alliierten für „displaced persons“ bei der Seuchenbekämpfung und kehrte im Mai 1945 nach Turin und an die Uni zurück.

Ihr einstiger Mentor und zwischenzeitlicher Assistent wurde wieder ihr Chef. Und der bekam eines Tages einen Brief aus St. Louis, USA. Viktor Hamburger schrieb: „Ich weiß, dass es eine junge Frau bei ihnen gibt, die sich mit dem selben Problem beschäftigt, an dem ich schon seit 1934 arbeite (…) kann sie nicht für ein paar Wochen oder Monate zu mir kommen?“

Die junge Frau kam und blieb, fast 30 Jahre. Sie bewies ihre Theorien und setzte ihre Forschungen in der Neurobiologie und an Krebszellen fort. Sie entdeckte den Nervenwachstumsfaktor (nerve growth-​promoting factor = NGF), der für die Entwicklung und Verteilung von Nervenzellen verantwortlich ist und wurden dafür 1986 zusammen mit ihrem Kollegen, dem Biochemiker Stanley Cohen, mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt. Schon vorher war sie als erste Frau in die päpstliche Akademie der Wissenschaften berufen worden.

Sie kehrte nach Italien zurück, arbeitete am Institut für Neurobiologie, gründete das Institut für Zellbiologie in Rom, das European Brain Research Institute, eine Stiftung zur Förderung afrikanischer Frauen, war Botschafterin bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und einiges mehr.

Die bis ins hohe Alter agile Wissenschaftlerin wurde mit Auszeichnungen überschüttet, rannte aber nach jeder Ehrung sofort wieder in ihr Labor zurück. 2001 ernannte sie der italienische Präsident zur Senatorin auf Lebenszeit. Rita Levi-Montalcini bewies noch mit 97 Jahren, dass sie auch diesen Posten ernst nahm. 2006 war ihre Stimme das Zünglein an der Waage in einer Haushaltsdebatte. Sie drohte, ihre Unterstützung zurückzuziehen, wenn die Regierung ihre Entscheidung, die Wissenschaftsfinanzierung zu kürzen, nicht aufheben würde. Sie blieb eisern. Die entscheidung wurde aufgehoben und das Budget verabschiedet, auch wenn sie zuvor heftig von der Gegenseite angegriffen worden war, die sich über ihr Alter mokiert hatte. „Ich liebe das hohe Alter“, sagte sie einmal. „Da spürt man keinen Zorn mehr.“ Rita Levi-Montalcini starb 2012. Sie wurde 103 jahre alt.
Was für eine Frau.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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