Mittwoch, 1. Mai 2024

Judith Kessler erinnert an Helen Keller, die heute vor 119 Jahren als erste taubblinde Person den „Bachelor of Arts“ machte

Die taubblinde Helen Keller macht am 28. Juni 1904, einen Tag nach ihrem 24. Geburtstag, den Abschluss als Bachelor of Arts …

… das kam einem Wunder nah. Das Mädchen aus Alabama hatte als Kleinkind infolge einer Erkrankung ihre Hör- und Sehfähigkeit vollständig verloren. „Mit entsetzlicher Plötzlichkeit kam sie vom Licht in die Dunkelheit und verwandelte sich in ein Phantom. Nichts hing mit irgendetwas anderem zusammen, und daher kam in ihr oft glühender Zorn auf“, beschrieb Keller später diesen Moment. Sie versuchte per Handzeichen mit ihrer Umgebung zu kommunizieren und da die sie nicht verstand, reagierte sie mit heftigen und häufigen Wutanfällen, warf mit Gegenständen um sich oder trat ihr Kindermädchen und verbrachte ihre Tage ansonsten in Lethargie.

Bis ihre Eltern Kontakt zum Perkins-Institut für Blinde aufnahmen und 1887 die 21-jährige Lehrerin Anne Sullivan zu sich holten. Den Tag ihrer Ankunft bezeichnete Helen Keller später als den wichtigsten Tag ihres Lebens.

Anne Sullivan hatte im Perkins-Institut mit Laura Bridgman zusammengelebt, der ersten Taubblinden, die sich mittels eines erlernten Fingeralphabets für Gehörlose ausdrücken konnte. Sullivan versuchte diese Methode nun bei der 7-jährigen Helen anzuwenden: sie ließ sie einen Gegenstand berühren und buchstabierte ihr dessen Namen mit dem Fingeralphabet in die Hand. Nach einigen Versuchen verstand Helen den Zusammenhang.

Keller und Sullivan (1898)

Sullivan: „Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. (…) ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand und dachte bis nach dem Frühstück nicht mehr daran (…)“ Später „gingen wir zur Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ. Als das kalte Wasser hervorschoss, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die freie Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da. Ein ganz neuer Lichtschein verklärte ihre Züge.“ Und am nächsten Morgen: „Helen stand heute früh wie eine strahlende Fee auf. Sie flog von einem Gegenstand zum anderen, fragte nach der Bezeichnung jedes Dinges und küsste mich vor lauter Freude … alles musste jetzt einen Namen haben.“

Alles bekam seinen Namen und später brachte Anne Sullivan Helen auch noch die Blindenschrift und Schreibmaschine schreiben bei. Sie „verschlang ganze Brailleschrift-Bibliotheken”, lernte so Französisch, Deutsch, Griechisch und Latein, studierte Literatur, Philosophie und Ökonomie und nachdem sie auch erste Anfänge im Sprechen gemacht hatte, schrieb sie sich am Radcliffe College in Boston ein. Sie ließ sich in den vier Jahren ihres Studiums jede einzelne Unterrichtsstunde von Anne Sullivan in die Hand buchstabieren und machte 1904, wie gesagt, ihren Abschluss – als erste taubblinde Person an einem amerikanischen College.

Es war nur eine der Etappen auf einem bemerkenswerten Weg. Die Pazifistin wurde eine Aktivistin für Blinde und Taube. Sie hielt unzählige Vorträge in unzähligen Ländern, schrieb Essays und autobiographische Romane, gründete den „Helen Keller Endowment Fund“, wurde Beraterin der „American Foundation for the Blind“, Mitglied der Blindenkommission und der „Sozialistischen Partei Amerikas“ und zigfache Ehrendoktorin (u.a. in Harvard).

Der große Verdienst Helen Kellers war es, die Einstellung zu behinderten Menschen verändert zu haben. Und hoch anzurechnen ist ihr, dass sie ihre Bekanntheit genutzt hat, um auch auf andere politische und soziale Themen aufmerksam zu machen wie die Rechte von Frauen und von Farbigen, die Geburtenkontrolle und den Kampf gegen den Faschismus.

Helen Keller starb 1968. Ihr Leben wurde mehrfach verfilmt und in Alabama trägt eine 25-Cent-Münze ihr Porträt und ihren Namen in Standard- und Brailleschrift mit dem Zusatz „Spirit of Courage“.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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