Martina Sellmeyer: Die Pogromnacht am 9.11.1938 in Osnabrück – Teil 2

„Kommt, Kinder, die Synagoge brennt!“

Mit der Pogromnacht am 9. November 1938 begann die Welle der offenen Gewalt gegen jüdische Menschen in Deutschland. Auch wenn es noch drei Jahre bis zum Beginn des staatlich organisierten Massenmords waren, wurde bereits jetzt deutlich, dass jüdische Menschenleben nichts mehr zählten. Die Gewalt betraf alle jüdischen Familien, und spielte sich als makabre Inszenierung mit Illumination durch die brennenden Synagogen gleichzeitig überall in Deutschland vor aller Augen ab.

Die SA sollte im Auftrag von Propagandaminister Joseph Goebbels angeblich „spontane Vergeltungsaktionen“ für das Attentat des Hannoveraner Juden Herschel Grynszpan auf einen Angehörigen der deutschen Botschaft in Paris inszenieren. Tatsächlich handelte es sich um staatlich geplanten und gelenkten Terror. Goebbels hatte nur auf einen passenden Anlass gewartet.. Die Nacht des 9. November 1938 war dafür ideal: Überall im Deutschen Reich versammelten sich SA-Männer, um den Jahrestag des gescheiterten Putschversuches der NSDAP von 1923, den sogenannten „Marsch auf die Feldherrnhalle“, zu feiern. Auch in der Osnabrücker Stadthalle am Kollegienwall fand eine Feier „für die Gefallenen des Naziregimes“ statt. Auf dem Markplatz kamen die politischen Leiter der NSDAP, SA und SS zur Radioübertragung einer Vereidigung von SS-Rekruten in Anwesenheit von Adolf Hitler zusammen, die aus München übertragen wurde. Danach feierten sie in ihren Stammlokalen wie dem Hotel Germania weiter. Doch die staatlich angeordnete Brandstiftung sollte so aussehen, als ginge sie von der über den Mord an dem Legationsrat vom Rath empörten Bevölkerung aus. Deshalb erschienen die meisten SA-Männer weisungsgemäß in Zivilkleidung an der Synagoge oder zogen sich noch schnell einen Mantel über die Uniform. Aber eine Stadt wie Osnabrück, wo „jeder jeden kannte“, war zu klein, als dass ein solches Täuschungsmanöver nicht durchschaut worden wäre. Die SA-Männer, unter ihnen ein Senator der Stadt und ein Richter beim Amtsgericht, wurden auch ohne ihre Uniform identifiziert.  

Die verkleideten SA-Leute zündeten die Synaoge an. Dass die schlafenden Familien in den Wohnungen im Gebäude der Israelitischen Elementarschule in der Rolandstraße, das direkt an die Synagoge angebaut war, dadurch in Lebensgefahr gerieten, interessierte sie nicht. Die Witwe des Kantors der jüdischen Gemeinde, Ethel Gittelsohn, und ihre Töchter wurden in der Nacht durch das Geräusch von Holzhacken geweckt. Als sie Benzin- oder Petroleumgeruch rochen, riefen sie Polizei und Feuerwehr – doch niemand kam. Auf der Straße hörten sie die aufgeputschte Menge schreien und grölen. Auch wenn der angebliche „Volkszorn“ in der Pogromnacht nur inszeniert war, sprang der Funke anscheinend über. Ethel Gittelsohn und ihre Töchter hatten nicht so sehr Angst vor den angetrunkenen SA-Männern als vor der Menge, die auf der Straße „Wo sind sie? Hängt sie!“ schrie. Augenzeuginnen berichteten, dass der schreiende und grölende Mob sogar Steine auf sie warf, nachdem sie aus ihrer brennenden Wohnung auf die Rolandstraße geflüchtet waren. Als die Feuerwehr endlich doch noch eintraf, unternahm sie nichts gegen den Brand. Statt für Löscharbeiten wurde die Leiter der Feuerwehr von einem SA-Mann dazu benutzt, in einer symbolträchtigen Handlung den Davidsstern vom Dach der Synagoge zu holen. Die „Trophäe“ wurde dann in einer Schubkarre zum Hotel Germania, dem Stammlokal der SA, gebracht.

Gleichzeitig mit den Brandstiftern der Synagoge machten sich vom Markplatz aus 150 bis 200 SA-Männer in Trupps von fünf bis acht Mann auf den Weg, um jüdische Familien in ihren Wohnungen zu überfallen und die Männer festzunehmen. Das Tagebuch der Polizei vermerkt für 23 Uhr am 9. November noch keine besonderen Vorkommnisse. Gegen 3 Uhr nachts teilte ein Polizeihauptwachtmeister vom Polizeigefängnis dem 1. Polizeirevier dann mit, daß SS-Männer drei Juden – eine Frau und zwei Männer – dort eingliefert hätten. Um ein Uhr hatten SA-Trupps wohl als erstes die Tür zur Wohnung von Otto David an der Krahnstraße eingetreten, die Wohnung verwüstet und ihn und seine Frau Grete mitgenommen. Die zehnjährige Tochter der Familie Nieporent im gleichen Hause musste mit ansehen, wie ihr Vater von SS und SA-Leuten mit Fusstritten die Treppe hinuntergeworfen wurde. Er wurde im Schlafanzug in den Schlosskeller gebracht.

Der Zeitpunkt des Überfalls auf die Wohnung von Leopold Schoeps an der Möserstraße 26 ist exakt bekannt, denn er rief das Überfallkommando an und bat um polizeilichen Schutz, als bei ihm Türen und Fenster eingeschlagen wurden. Beim Eintreffen der Polizei war der Kaufmann aber bereits von SA-Männern „fortgeführt“ worden, wie es im Polizeibericht heisst.

Überall in der Stadt wurden verängstigte jüdische Familien von betrunkenen SA-Leuten aus dem Schlaf gerissenen, beleidigt, misshandelt und weggeschleppt, während ihre Wohnungen verwüstet und nach Geld durchsucht wurden. Die Überfallenen berichteten, dass die SA-Leute, die man zu fortgeschrittener Stunde aus verschiedenen Gastwirtschaften zusammengeholt hatte, angetrunken waren. Möglicherweise waren sie auch deshalb besonders hemmungslos in ihrer Gewaltanwendung, die sich gegen Familien richtete, die ihnen zum Teil persönlich bekannt waren.  Auch Grete David kannte die betrunkenen SA-Männer, die sie und ihren Mann nachts in ihrer Wohnung an der Krahnstraße überfielen, und bat einen von ihnen vergeblich um Hilfe. Die Schlägertrupps ließen den verhafteten Männern keine Zeit, sich anzuziehen, und schleppten sie in der kalten Novembernacht in Schlafanzug, Hausjacke und Pantoffeln, andere sogar nur in Unterhose und bloßen Füßen zum Schloss. Schaulustige begleiteten die Prügeltrupps.

Augenzeugen sahen, wie ein älterer Mann von einer Brücke mehrmals in das eiskalte Wasser der Hase geworfen wurde. Niemand half ihm. Im Gegenteil. Als die SA in der Herderstraße 22 erst die Scheiben einwarf und dann in die Wohnung der Familie Flatauer eindrang und den im Bett liegenden Raphael Flatauer verhaftete, geschah das unter Führung von Nachbarsleuten, deren antisemitische Gesinnung bekannt war. Mit ihren Dolchen schlitzten SA-Männer die Polster auf.  warfen die Möbel auf die Straße und legten im Salon Feuer. Dann brachten sie Raphael Flatauer unter Schlägen und Fußtritten zum Schloss. Blutüberströmt kam er in den Gestapozellen im Schlosskeller an. Dort wurden die Gefangenen angeschrien, geohrfeigt und weiter misshandelt. Bernhard Süßkind, der aus Fürstenau in den Schlosskeller gebracht worden war, erinnerte sich an einen SS-Mann mit Reitpeitsche, der seinen Vater blutig schlug.

Die Pogromnacht war ein traumatisches Erlebnis für alle Mitglieder der jüdischen Familien. Die  jüdischen Kinder, die noch in Osnabrück lebten, vergaßen nie die Schrecken dieser Nacht. Ralph Jacobson erinnerte sich an den nächtlichen Überfall auf die Wohnung seiner Familie durch Männer in Nazi-Uniformen, von denen einer seine Mutter fragte, wie alt er sei. Als sie erwiderte: „Er ist zehn Jahre alt“, sagte der SA-Mann: „Das ist zu jung!“ Der Junge verstand damals noch nicht, dass er nur knapp der Gestapohaft entging, erinnerte sich aber, dass seine Familie seit dieser Nacht aus Angst nur noch selten das Haus verließ.

Der zwölfjährige Ewald Aul wohnte bei seinem achtzigjährigen Großvater im Katharinenviertel. Auch  die beiden erhielten Besuch von der SA. „In der Nacht „klingelte es bei uns, SA-Männer drangen in die Wohnung ein, sahen meinen Großvater an, dann mich, und verschwanden wieder. Mein Großvater war ihnen zu alt und zu gebrechlich, ich zu jung.“ Doch einige Frauen mussten die Nacht bei der Gestapo im Schloss oder in der Turnerstraße verbringen und wurden auf dem Weg dorthin von der Menge angepöbelt und bedroht. Auch ihnen rief man: „Hängt sie, hängt sie!“ zu. Die mitten in der Nacht aus den Betten gerissenen und aus ihren Wohnungen im Schulgebäude in der Rolandstraße vertriebenen Frauen flüchteten in das nächstgelegene Haus eines Mitglieds der jüdischen Gemeinde, das von Raphael Flatauer in der Herderstraße 22. Man befahl ihnen, sich zur Verfügung der Gestapo zu halten. Sie saßen dort zwischen Scherben der zertrümmerten Vitrinen mit Kristall, Silber und Kunstschätzen. Der Boden war mit Scherben übersät, die der Pogromnacht den Namen „Kristallnacht“ einbrachten, aber bei weitem nicht der schlimmste Schaden waren, der in dieser Nacht angerichtet wurde.

Gleichzeitig mit dem Kristall in den verwüsteten Wohnungen ging die bürgerliche Existenz der jüdischen Familien zu Bruch, die Existenz von Menschen, die bis dahin zwar Angst vor den Ausschreitungen der SA und vor der Gestapo gehabt, ihren Osnabrücker Nachbarinnen und Nachbarn aber immer noch weitgehend vertraut hatten – Nachbarn, die in dieser Nacht ihrer Drangsalierung entweder passiv zusahen, oder zum „grölenden Mob“ wurden.  Augenzeugen berichteten, dass sie noch nie die Wälle nachts so belebt gesehen hätten. Sogar Kinder wurden von der Mutter mit der Aufforderung: „Kommt, Kinder, die Synagoge brennt!“ geweckt, um sich den spektakulären Brand anzusehen. Währenddessen hatten andere Kinder Angst um das Leben ihrer Eltern. Regina Suderlands Familie wohnte nahe der Synagoge in der Katharinenstraße. Sie erinnerte sich: „Mein Bruder und ich hatten fürchterliche Angst, weil auf der Straße eine Menschenmenge stand und manche Leute riefen man solle meinen Vater an der Laterne aufhängen.“ Doch niemand kam den bedrohten und misshandelten Mitbürgerinnen und Mitbürgern zur Hilfe.


Pogromnacht am 9.11.1938 in Osnabrück – Teil 1

Pogromnacht am 9.11.1938 in Osnabrück – Teil 2

 

 

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