„Geht nach Palästina!“
Die Tage nach der Pogromnacht des 9. November 1938
Überall in der Stadt lagen am 10. November 1938 die Wohnungen jüdischer Familien nach den nächtlichen Überfällen voller Scherben, auch die der Familie Flatauer an der Herderstraße 22. Schüler des Reformrealgymnasiums, das sich offiziell Hitlerjugendschule nennen durfte, drangsalierten die jüdischen Frauen, die dort Schutz gesucht hatten und jetzt unter Polizeibewachung standen. Lori Gittelson erinnerte sich beim Synagogenbrandprozess 1949 an den Überfall der Schüler: „Der Aufenthalt im flatauerschen Haus ließ an Abwechslung nichts zu wünschen übrig, sobald nämlich Schulzeit war, kamen die Schüler des Realgymnasiums, alle mit Backsteinen bewaffnet, und bombardierten das Haus, den ganzen Vormittag lang. Die Ziegel flogen in der Wohnung herum, so dass es lebensgefährlich war, und die Sprechchöre gröhlten: ‚Geht nach Palästina!’“
Eine nichtjüdische Schülerin der Johannisschule in Osnabrück erinnerte sich an den Tag nach dem Brand der Synagoge: „Am nächsten Morgen in der Schule wurde uns […] vom Rektor in knappen Sätzen über ‚Säuberungsaktionen von unerwünschten Elementen‘ berichtet, die in der Nacht stattgefunden hätten.“ Der überzeugte Nationalsozialist Walter Gerlach, Direktor des Mädchenlyzeums, verkündete vor der versammelten Schülerschaft: „Nun endlich sind wir befreit von der Herrschaft des internationalen Judentums“, und schickte sie zur ausgebrannten Synagoge. Dort trafen sie auf andere Schulklassen und Schüler, die vor Lachen brüllten, als Ortsgruppenleiter Erwin Kolkmeyer mit einem Zylinder, der damaligen rituellen jüdischen Kopfbedeckung im Gottesdienst, aus der Synagoge kam, während ein anderer SA-Mann einen Gebetsmantel als Trophäe schwenkte und dann wie eine Vogelscheuche auf den Zaun hängte. Proteste gegen die öffentliche Schändung religiöser Gegenstände und die Zerstörung eines Gotteshauses von den Vertretern anderer Religionsgemeinschaften sind für Osnabrück nicht bekannt. Die einzige bekannte kritische öffentliche Äußerung über die Pogromnacht in Osnabrück kam von einem 38jährigen Schlosser, der sich in leicht angetrunkenem Zustand in einer Kneipe an der Großen Hamkenstraße abfällig über die „Maßnahmen gegen die Juden“ und das Abbrennen der Synagoge äußerte. Er wurde auf dem Polizeirevier Altstadt vorgeführt und verwarnt.
Keinen Grund zum Einschreiten sah die Polizei dagegen bei den Plünderungen der Geschäfte jüdischer Inhaberinnen und Inhaber in der Innenstadt. Wie die Fotos zeigen, hielt die SA es nicht mehr für nötig, sich wie noch in der Nacht zuvor zu verkleiden. Nach den Überfällen der nächtlichen Schlägertrupps auf schlafende Familien verwüstete und plünderte sie am hellen Tag ohne jeden Skrupel in aller Öffentlichkeit Wohnungen und Geschäfte der jüdischen Osnabrückerinnen und Osnabrücker – in voller Uniform. Wie schon in der Pogromnacht wurden auch Geldschränke aufgebrochen und ausgeräumt. Niemand der vielen Schaulustigen, die den Plünderungen zusahen, konnte jetzt noch Zweifel haben, dass hier ein verbrecherisches Regime am Werk war.
Doch nicht nur die jüdischen Geschäfte wurden hemmungslos und in aller Öffentlichkeit ausgeraubt, sondern auch Privatwohnungen. Als Lori Gittelson nach der Entlassung aus der Gestapohaft am 10. November in die Wohnung ihrer Familie im Schulgebäude neben der ausgebrannten Synagoge zurückkehrte, stellte sie fest, „dass die Vorder- und Hintertür der Etage offen waren, dass Leute ein- und ausgingen, die dort nichts zu suchen hatten“ und die aus der Wohnung „Wäsche und Kleidung, Operngläser, alles, was man leicht wegnehmen konnte“, entwendeten. Während Adolf Nieporent inhaftiert war, wurden nicht nur die Waren aus seinem Partiewarenhaus, sondern auch ein silberner Chanukka-Leuchter aus seiner Wohnung an der Seminarstraße gestohlen. Bei den Ermittlungen zum Osnabrücker Synagogenbrandprozess im Dezember 1949 wurden „bei verschiedenen Osnabrücker Familien […] Gegenstände aus jüdischem Besitz festgestellt […]; es steht zu vermuten, dass diese Sachen teilweise aus der Synagoge geplündert worden sind.“
Währenddessen war Ortsgruppenleiter Erwin Kolkmeyer inmitten einer Gruppe SA-Männer dabei, in den im Erdgeschoss gelegenen Geschäftsräumen der Firma David an der Krahnstraße 1/2 die Schaufensterscheiben und die Schaufensterpuppen zu zerschlagen. Als nächstes holten sie alle Waren aus dem Lager und warfen sie auf die Straße. Die Gestapo stellte einen Posten auf, der Plünderer abhalten sollte, denn die Waren sollten von einer Speditionsfirma zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gebracht werden. Sie landeten schließlich bei Konkurrenten der jüdischen Geschäftsleute. Die Plünderungen erfolgten exklusiv durch Parteiangehörige, die Bevölkerung durfte nur zusehen, so auch bei der Plünderung der Textilgroßhandlung Flatauer u. Co an der Möserstraße 26. Eine der Zuschauerinnen erinnerte sich: „Die SA warf der Einfachheit halber aus der zertrümmerten großen Fensterscheibe einen Stoffballen nach dem anderen auf einen davor stehenden LKW. Einige Ballen fielen vorbei auf die regennasse Straße, was die SA-Männer nicht im Geringsten störte.“
Der Warenbestand des Lagers, mit dem hier so achtlos umgegangen wurde, hatte einen Wert von mehr als 120.000 Reichsmark. Es wurde später von drei verschiedenen Konkurrenzfirmen aufgekauft. Der Abtransport der Waren soll mehrere Tage gedauert haben. Der Kaufmann Otto Loeb berichtete in seinem Entschädigungsantrag, dass mehr als tausend Hüte im Wert von 4.300 Reichsmark aus seinem Spezialgeschäft für Damenhüte, Strick- und Wirkwaren an der Johannisstraße in einen Möbelwagen geladen und verschleppt wurden. Als derselbe Möbelwagen die Hüte nach Löbs Entlassung aus dem Konzentrationslager Buchenwald vier Wochen später zurückbrachte, erhielt er die Weisung, die Hüte zu einem Achtel des Wertes an eine Putzmacherin zu verkaufen, die gerade gegenüber seinem Geschäft ihren Laden neu eröffnet hatte. Als die Bestände aus Adolf Nieporents Osnabrücker Partiewarenhaus zurückgebracht wurden, fehlten Waren im Wert von 2.000 Reichsmark. Die Geschäfte durften nicht wieder geöffnet werden. Ihre systematische Auflösung wurde ab Dezember 1938 von der Gestapo überwacht, die daür einen „Abwickler“ einsetzte. Den jüdischen Geschäftsinhaberinnen und -inhabern selber war es bei der „Abwicklung“ ihrer Geschäfte nach der Pogromnacht nicht erlaubt, ihren Warenbestand an die Bevölkerung zu verkaufen, um einen Ausverkauf zu vermeiden und die „christlichen“ Konkurrenten zu schonen.
Die geschädigten jüdischen Haus- und Wohnungseigentümerinnen und -eigentümer wurden nach der Pogromnacht noch weiter enteignet: Die Versicherungssummen für die entstandenen Schäden beschlagnahmte der Staat. Dazu legte Hermann Göring den Geschädigten zusätzlich noch eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark auf. Aufgrund der zahlreichen eingeschlagenen Glasscheiben ging die Pogromnacht unter der zynischen Bezeichnung Reichskristallnacht in die deutsche Geschichte ein. Die gesamten Versicherungsschäden im Reich wurden auf 225 Millionen Reichsmark beziffert, wobei die zerstörten Glasscheiben allein drei Millionen ausmachten. Die Versicherung teilte der Familie Gittelsohn mit, dass der Schaden für Brand und Plünderung ihrer Wohnung in der Rolandstraße auf 5.000 Reichsmark beziffert worden sei und dass der Staat diesen Betrag eingezogen habe.
Die Familien der in der Nacht des 9. November verhafteten jüdischen Männer wurden bewusst in Ungewissheit über das Schicksal der Ehemänner und Väter gelassen. So erreichte der Terror mittelbar auch die Angehörigen. Drei Tage nach der Verhaftung wussten sie noch immer nichts Genaues und vermuteten die Männer noch im Schloss. Während die verhafteten jüdischen Männer in den Zellen im Schloss von neugierigen Besuchern durch die Gucklöcher in den Zellentüren und von draußen durch das vergitterte Fenster wie Tiere im Zoo betrachtet werden durften, ließ die Gestapo die Angehörigen nicht zu ihnen. Die Zuschauer zeigten offen ihre hämische Freude mit Kommentaren wie: „Wird sich Erwin Kolkmeyer freuen, den ganzen Judenhaufen beieinander zu sehen!“
Viele der Gefangenen waren gestandene Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, die nicht so leicht einzuschüchtern waren. Hermann Heymann etwa verglich die Situation mit seiner Kriegsgefangenschaft, erzählte den anderen Gefangenen von seinen Erlebnissen und „fand alles nicht so schlimm“ – bis die Gefangenen jemand auf dem Flur rufen hörten „Euch werden sie es im KZ schon beibringen!“ Insgesamt wurden in Deutschland nach der Pogromnacht 20.000 bis 30.000 Nichtarier und Juden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau, Oranienburg und Sachsenhausen deportiert. Für die meisten Osnabrücker Juden ging es nach Buchenwald bei Weimar, einige, die überwiegend nicht der Synagogengemeinde angehörten, wurden nach Sachsenhausen oder auch nach Oranienburg gebracht.
SS-Oberscharführer Karl Wachsmann hielt noch eine kurze Ansprache, bevor die jüdischen Männer am 11. November unter Beschimpfungen im Laufschritt in Busse getrieben wurden, die sie ins Konzentrationslager brachten. Einer von ihnen, Frederick S. Katzmann, erinnerte sich an die Ansprache, bei der Wachsmann den Gefangenen androhte, sie bei einem Fluchtversuch zu erschießen. Bei Wachsmanns Drohungen standen nach Katzmanns Erinnerung im Schlosshof Neugierige herum „und sahen zu, wie unsere Reise ins KZ begann“. Noch im Bus wurden die Männer mit Reitpeitschen und Gummiknüppeln so brutal misshandelt, dass alle blutüberströmt im Lager ankamen. Um neun Uhr abends traf der Transport in Buchenwald ein. Katzmann fiel auf, dass das Lager gut ausgeschildert und daher den Bewohnern der Gegend nicht unbekannt war. Einer des SS-Leute, die den Transport in Buchenwald in Empfang nahmen, war ein Osnabrücker. Transportleiter Karl Wachsmann wurde herzlich „als alter Bekannter begrüßt und den anderen Angehörigen der Lager-SS als alter bewährter Osnabrücker SS-Kämpfer vorgestellt.“ Die jüdischen Männer wurden angeschrien und mussten im Laufschritt durch ein enges Tor ins Dunkle laufen, wo sie von kreisenden Scheinwerfern geblendet wurden, und sich dann auf dem Exerzierplatz aufstellen mussten. Einer der SS-Männer trat zu einem der Männer und schrie ihn an: ‘Was bist du?’ Der arme Mann antwortete in seiner Angst und Verwirrung: ‘Ich bin der Viehhändler Soundso.’ Ohrfeigen ins Gesicht, Faustschläge in den Bauch und Tritte mit den schweren Stiefeln gegen das Schienbein waren die Antwort und ‘Du bist ein Volksbetrüger!’ Dann kam die Frage wieder: ‘Was bist du?’ ‘Ich bin ein Volksbetrüger’, sagte er und das schien den SS-Mann zu befriedigen. Aus Siegfried Katzmanns Bericht: „Wir traten nun auf dem großen Exerzierplatz an und es begann der Aufruf mit Namen sämtlicher Gefangener durch den Kommandanten selbst. Wir Osnabrücker waren die allerersten. Wer seinen Namen hörte, hatte nach vorne zu rennen, dort wurden wir wieder aufgestellt und dann gegen das entgegengesetzte Ende des großen Platzes, weit entfernt von unseren Baracken wieder aufgestellt. Das setzte sich von morgens bis abends gegen sechs fort, ohne Unterbrechung standen wir dort herum. Wir bekamen eine Gelegenheit, unsere Mitgefangenen zu sehen, unter ihnen waren viele siebzig- und achtzigjährige Männer, die sie vor allem aus Frankfurt mitgeschleppt hatten. Wir sahen Gefangene, die mit Decken zugedeckte Bahren aus dem Lager zum Wachteingangshaus schleppten. Jeden Tag sahen wir so rund zehn Leichen.“ Er berichtete von den Wachmannschaften: „Wie Berserker sprangen sie zwischen uns herum, ohne Unterbrechung die fürchterlichsten Drohungen ausstoßend, wie sie uns zusammenschießen würden. […] alle Augenblicke erschien einer der SS-Leutnants, die ganz augenscheinlich unter dem Einfluss [sic] von Alkohol waren, gestikulierte mit seinem Revolver und suchte sich Opfer für Quälereien aller Arten. Ununterbrochen hörten wir die Schreie von Menschen in Todesnot.“
Drei Monate lang waren die meisten jüdischen Männer in Buchenwald ausgeliefert an „Berserker und Schufte, deren Leidenschaften durch Alkohol angefacht und enthemmt waren“ (Frederick S. Katzmann). Drei der von Osnabrück Deportierten überlebten die Misshandlungen in Buchenwald nicht. Katzmann war Zeuge der brutalen Ermordung des Holzhändlers Leopold Simon aus Quakenbrück am 14. November, von Siegfried Meyer aus Alfhausen am 22. November und Julius Silbermann aus Osnabrück am 28. November 1938. Otto David hörte, wie SS-Männer im Lager riefen: „Gebt euch mit dem dreckigen Juden nicht ab“, während sich jüdische Ärzte noch bemühten, seinen Vetter Siegfried Meyer wiederzubeleben.