Freitag, 19. April 2024

Martina Sellmeyer: „Mach den Stern ab und verbrenn ihn!“

Eine Osnabrückerin wollte nicht mit Anne Frank „untertauchen“ – und überlebte

Bertel Freund überlebte die Shoah. In Briefen aus den USA nach Osnabrück und einem Interview, geführt von Steven Spielbergs Shoah Foundation, beschrieb sie, wie ihr das gelang. Als Berthel Hess 1904 in Osnabrück geboren, arbeitete sie hier als Kassiererin in einem Kaufhaus im Schinkel, das der jüdischen Familie Mittwoch gehörte. Ihr Vater, Jonas Hess, betrieb zusammen mit Hermann Jonas eine Lumpensortieranstalt und eine Metallgroßhandlung am Bahnhof in Lüstringen. Im Interview berichtete Bertel Freund, dass ihr Vater regelmäßig zur Synagoge ging, ihre Mutter nur gelegentlich am Samstagmorgen, aber einen koscheren Haushalt führte. Damit beschrieb sie eine typische jüdische Osnabrücker Familie Anfang des 20. Jahrhunderts.

Man ging zur Synagoge, an Feiertagen immer und an Sonnabenden, wenn man vom Geschäft weg konnte, und zeigte dadurch seine Zugehörigkeit zum Judentum. „Die Teilnahme am Gottesdienst gehörte ‚zum guten Ton‘. Auch das Befolgen der Ritual-Speisegesetze geschah bei den meisten mehr aus Traditionstreue als aus religiösem Eifer. Alles in allem war das religiöse Leben der Osnabrücker Juden eine sehr ‚bourgeoise‘ und keineswegs ekstatische Angelegenheit“, berichtete der Israeli Gershon Stein, der in Osnabrück noch Siegfried hieß, bei einem Besuch in der Stadt, in der er seine Jugend verbrachte. Bertel Freund erinnerte sich, dass ihre Familie zum Pessachfest nicht nur Freunde einlud, sondern auch Menschen jüdischen Bekenntnisses, die alleinstehend und aus beruflichen Gründen in der Stadt waren. Sie berichtete, dass deshalb an den Feiertagen zwölf bis vierzehn Menschen bei ihnen am Familientisch saßen. Es ging darum, Unbemittelten insbesondere am Sabbathabend Gastfreundschaft zu bieten. Hermann und Jonas Hess engagierten sich auch sonst auf dem Gebiet der „Wohltätigkeit“, indem sie zum Beispiel Geld für Pogrom-Flüchtlinge spendeten. (Mehr zum sozialen Engagement der jüdischen Gemeindemitglieder in der aktuellen Ausgabe der Osnabrücker Straßenzeitung abseits).

Auch Bertel Freund, die im Ruhestand in Santa Barbara lebte, erinnerte sich noch an die schöne Umgebung Osnabrücks und das benachbarte Georgsmarienhütte, wohin sie mit ihrer Familie am Sonntag häufig Ausflüge machte. Doch in der schönen Heimat und den idyllischen Gassen der Stadt erklangen 1933 Lieder wie das vom „Judenblut, das vom Messer spritzt (…), dann geht’s nochmal so gut“. Bertel Freund war eine entschlossene junge Frau – und eine der wenigen, die die Drohungen, die das Lied zum Ausdruck brachte, schon früh ernst nahmen. Sie wollte nicht mehr in einer Stadt und einem Land zu leben, wo Menschen es tolerierten, dass dieses Lied von der SA beim Marsch durch die Große Straße und sogar in Schulen wie dem Lyzeum für Mädchen gesungen wurde. Auch das Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert…“),  das auf Beschluss des Osnabrücker Stadtrats seit April 1933 am Ende jeder Sitzung nach einem dreifachen „Sieg Heil!“ gesungen wurde, gefiel der jungen Frau überhaupt nicht. Sie nahm die Einladung ihrer in Holland verheirateten Schwestern Minni und Martha Rozenberg an, zu ihnen nach Leeuwarden zu ziehen.

Doch nach dem deutschen Überfall auf die Niederlande im Mai 1940 wurde das Land, in das mehr als achtzig jüdische Osnabrückerinnen und Osnabrücker geflohen waren, zur Falle. Die Niederlande waren das naheliegendste Fluchtland – die Grenze war nur eine Stunde von Osnabrück entfernt. Zudem hatten einige jüdische Osnabrückerinnen und Osnabrücker niederländische Pässe, so wie die Familien de Lange, ten Brink oder van Pels. Der Osnabrücker Kaufmann Hermann van Pels verließ Osnabrück 1937 und wohnte mit seiner Frau Auguste und dem Sohn Peter ab 1939 an der Zuider Amstellaan (heute Rooseveltlaan), 250 Meter von der Wohnung der Frankfurter Familie Frank am Merwedeplein entfernt. Hermann war Bertel Freunds Cousin – ihre Mütter, die Schwestern Ida und Lina Vorsänger, stammten aus Quakenbrück.

Hermann van Pels beantragte ein Visum für die USA. Am 10. Februar 1939 setzte das amerikanische Konsulat in Rotterdam ihn und seine Familie auf die Warteliste. Auch sein Vater Aron van Pels, Bertel Freunds Onkel, floh nach den Novemberpogromen 1938 nach Amsterdam. Wie sein Sohn Hermann wartete er dort auf ein Visum für die USA. Auch für Brasilien und Chile hatte er sich beworben. Er wohnte in einer Pension und lagerte über ein Jahr lang sein Umzugsgut. Erst nach eineinhalb Jahren – der Krieg war inzwischen ausgebrochen – nahm er sich resignierend eine Wohnung, um von dort die durch den Krieg immer ungewisser werdende Auswanderung nach Übersee abzuwarten – die er nicht mehr erleben sollte. Aron van Pels starb am 27. Dezember 1941 in Amsterdam.

Anne Frank Haus, AmsterdamAnne Frank Haus, Amsterdam
Anne Frank Haus, AmsterdamAnne Frank Haus, Amsterdam

Bertel Hess zog von Leeuwarden bald nach Amsterdam. Dort lebten um 1938 insgesamt fünfzig jüdische Emigrantinnen und Emigranten aus Osnabrück, die meisten im sogenannten Flussviertel (Rivierenbuurt), ein Neubauviertel im Süden der Stadt, in dem viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland eine neue Bleibe fanden. Der Zusammenhalt war für die Exilanten wichtig. Die gleichaltrigen Alfred Rose, Alfred Gossels und Justus Nussbaum trafen sich auf „Osnabrücker Abenden” abwechselnd in den verschiedenen Wohnungen, um Skat zu spielen wie früher in Osnabrück und sich über die Ereignisse in der Heimat auszutauschen. Bertel Freund berichtete aus der Besatzungszeit, dass sie eigentlich Bridge lernen wollte, aber alle Flüchtlinge zu nervös waren, um sich zu konzentrieren. Doch man unterhielt sich miteinander und half sich.

An einem Morgen im Mai 1940 wachte sie auf, weil sie Lärm hörte, den sie zuerst für die Donnerschläge eines Gewitters hielt. Doch es waren Schüsse, und bald ertönte der Schreckensruf: „Die Moffen kommen!“ – ein Schimpfwort für die Deutschen. Die Wehrmacht marschierte in die Stadt ein. Weil Bertel Freund als Krankenschwester arbeitete, blieb sie zunächst von der Verhaftung und Internierung verschont. Doch als ein deutscher Soldat bei einer Kontrolle im Krankenhaus ihre Papiere überprüfte, drohte er ihr: „Wir kriegen dich auch noch!“ Einen Tag später wurde ihre Cousine Henny verhaftet, bei der Bertel Freund zusammen mit ihrem Onkel Aron van Pels fast jeden Freitag den Schabbath gefeiert hatte. Auch sein Enkel Peter van Pels war dort oft zu Besuch. Bertel Freund erinnerte sich an ihn als einen netten, sehr schüchternen Jungen – so wie Anne Frank ihn in ihrem Tagebuch beschrieb.

Bertel Freunds Bruder Manfred war mit seiner aus Badbergen stammenden Frau Else nach Hengelo ausgewandert. Dort gab es ein Komitee, das Untertauchmöglichkeiten für Jüdinnen und Juden organisierte. Der Bruder schickte jemand zu Bertel, der sie zu ihm nach Hengelo bringen sollte, um gemeinsam „unterzutauchen“. Doch als Bertel Freund erfuhr, dass sie mit sechs Personen im Versteck sein würden, entschied sie sich dagegen – die Gefahr der Entdeckung schien ihr zu groß. Aus dem gleichen Grund lehnte sie auch das Angebot ihres Cousins Hermann van Pels ab, der plante, gemeinsam mit der Familie von Otto Frank in einem Hinterhaus an der Prinsengracht unterzutauchen. Ihre Angst davor, in einer Gruppe mit mehreren Untergetauchten entdeckt zu werden, rettete ihr das Leben. Ihr Bruder und die anderen fünf Menschen im Versteck in Hengelo wurden verraten, weil es jemand auffiel, dass die Familie, die sie versteckte, für zu viele Personen einkaufte. Manfred Hess wurde 1942 nach Sobibor deportiert, seine Frau in Auschwitz ermordet. Auch Hermann, Auguste und Peter van Pels und Anne Frank und ihre Familie wurden in ihrem Versteck im Hinterhaus entdeckt, deportiert und bis auf den Vater Otto Frank ermordet.

Als die Überfallwagen jede Nacht durch die Stadt rasten und immer mehr Jüdinnen und Juden zusammentrieben, half die niederländische Widerstandsbewegung Bertel Freund, ein Versteck zu finden. „Mach den Stern ab und verbrenn ihn“, riet ihr der unbekannte Mann, der sie in Amsterdam abholte und unterwegs immer wieder beruhigte: „Hab keine Angst, alles wird gut!“ Weil zwei Tage vorher ein deutscher Staatsangehöriger erschossen worden war, durften zur Strafe für die niederländische Bevölkerung an diesem Tag keine Busse fahren. Bertel und ihr Helfer mussten das letzte Stück des Weges, ohne Papiere und in der ständigen Gefahr, verhaftet zu werden, zu Fuß zurücklegen – eine halbe Stunde, die ihr wie zehn Stunden vorkam: „My legs were full of fear“ (meine Beine waren voller Angst), erinnerte sie sich in dem Interview mit der Shoah Foundation noch fünfzig Jahre später an ihre Angst. Sie wurde von der für sie wildfremden Familie Wildschut in Heemstede versteckt, „die trotz der ständigen Gefahr wunderbar und mit großer Liebe“ für sie sorgte.

Jahrelang konnte sie das Haus nicht verlassen. Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie im Haushalt half, häkelte und Kleidung flickte. Die Tochter der Familie war Lehrerin und brachte ihr englische und französische Bücher aus der Bibliothek mit – die Sprachen hatte Bertel Freund am Lyzeum in Osnabrück gelernt. Mehrmals kamen deutsche Besatzer und durchsuchten das Haus. Bertel Freund wagte kaum zu atmen – sie hatte Angst, in ihrem Versteck niesen zu müssen und sich zu verraten. „Wir hatten verschiedene Male Haus [durch]suchungen. Ich hatte ein Versteck unter dem Dachboden, wo ich nur gebückt sitzen konnte und mein Herz klopfte so laut während der [Durch]suchungen, daß ich dachte, die SS-Leute könnten es hören.“ Wie alle Untergetauchten hatte sie jahrelang jede einzelne Minute Angst um ihr Leben.

Doch es kam noch schlimmer. Im Herbst 1944 wurden von Startbasen in den Niederlanden  V-1-Bomben in Richtung Antwerpen, auf London und andere englische Städte abgefeuert. Die V1-Raketen konnten während des Fluges nicht ferngesteuert werden und waren sehr ungenau. Das Lenkverfahren wurde nicht umsonst als „Kirschkern“(-Spucken) bezeichnet. Da die Raketen mit fast einer Tonne Sprengstoff beladen waren, mussten vor der Entschärfung alle Bewohnerinnen und Bewohner von Heemstede ihre Häuser verlassen. Bertel Freund hatte furchtbare Angst vor einer Explosion, denn sie konnte das Haus nicht verlassen und sich in Sicherheit bringen, weil sie sonst als „Untertaucherin“ entdeckt worden wäre. Glücklicherweise gelang die Entschärfung.

Entdeckt oder von einer explodierenden V1 zerrissen zu werden, war aber nicht die einzige Gefahr. Gefährlich wurde es für die Onderduiker auch, wenn sie krank wurden, was aufgrund der Unterernährung und des Mangels an frischer Luft häufig der Fall war. Glücklicherweise hatte die Familie Wildschut einen vertrauenswürdigen Arzt, der Bertel Freund half, über eine tuberkulöse Infektion hinwegzukommen, auch wenn sie an den Folgen noch lange litt. Nach ihrer Befreiung kümmerte die Krankenschwester sich im Krankenhaus in Amsterdam 1945 um Überlebende aus den Konzentrationslagern Auschwitz, Theresienstadt und Bergen Belsen. Im Interview der Shoah Foundation erzählte sie 1995, dass die Menschen mit den rasierten Köpfen aussahen wie Skelette. Die meisten waren krank. Ein Patient schrie die ganze Nacht: „Helft mir! Helft mir! Lasst mich raus!“ Aber aus diesen Albträumen gab es kein Erwachen. Bertel Freund berichtete im Alter von 91 Jahren, dass sie immer noch unter Albträumen leide. Im Traum werde sie von der SS verfolgt, renne weg, und könne nirgendwo hin.

Gerade ist ein von etlichen Historikern stark kritisiertes Buch (Rosemary Sullivan: The Betrayal of Anne Frank) erschienen, dass im Stil einer sensationellen Enthüllungsgeschichte behauptet, „zu 85 %“ die Person identifiziert zu haben, die die Familie Frank im Sommer 1944 in ihrem Versteck verriet und eine Mitschuld an ihrem Tod und dem der mit ihr Untergetauchten trage. Der Amsterdamer Verlag hat sich gerade für die Publikation entschuldigt und will Fragen, die zu der Recherche aufgetaucht sind, klären. Doch möglicherweise gab es gar keinen Verrat. Nach den bereits 2016 veröffentlichen und wissenschaftlich fundierten Untersuchungen von Gertjan Broek vom Anne Frank Haus in Amsterdam ist es auch möglich, dass die Polizisten, die das Versteck 1944 entdeckten, nicht nach Untertauchern suchten, sondern wegen Betrugs mit Lebensmittelmarken und illegaler Beschäftigung ermittelten.

Wichtiger als der Blick auf die Entdeckung der Familien ist der auf die Helferinnen und Helfer, die für sie jahrelang ihr Leben riskierten – so wie tausende anderer Niederländerinnen und Niederländer. Ein junger Osnabrücker, der als Untertaucher in den Niederlanden überlebte, berichtete von Gedanken, wie sie sich auch in Anne Franks Tagebuch finden. Er schrieb: „Während meiner eigenen Verfolgung bedrückte mich nicht nur mein eigenes Schicksal, sondern auch das Schicksal der vielen Tausende, von denen ich erfuhr, dass sie abtransportiert wurden, und die Drohung, die über allem schwebte, die mir aus Menschlichkeit Unterkunft gaben.“ Der Sohn der Familie Verdriet, die in Goor einen anderen jüdischen Osnabrücker bei sich versteckte, wurde bei der vergeblichen Suche nach dem bei ihnen untergetauchten jungen Mann an seiner Stelle festgenommen und blieb ein halbes Jahr, bis zur Befreiung der Niederlande, in Haft.

Anne Frank beschrieb in ihrem Tagebuch am 28. Januar 1944, „wie die Leute unter Einsatz ihres Lebens anderen helfen und andere retten. Das beste Beispiel dafür sind doch wohl unsere Helfer, die uns bis jetzt durchgebracht haben und uns hoffentlich noch ans sichere Ufer bringen. Sonst müssten sie das Schicksal all derer teilen, die gesucht werden. Nie haben wir von ihnen ein Wort gehört, das auf die Last hinweist, die wir doch sicher für sie sind.“

Mindestens zwölf der in die Niederlande emigrierten jüdischen Osnabrückerinnen und Osnabrücker überlebten, weil sie wie Bertel Hess von Menschen in den Niederlanden versteckt wurden, die ihr Leben und das ihrer Familien für völlig unbekannte jüdische Deutsche riskierten, um sie vor dem Tod zu bewahren. Es ist Zeit, in Osnabrück, wo es solche Hilfe für jüdische Menschen, die hier ihr ganzes Leben verbracht hatten, nicht gab, an den Mut dieser Niederländerinnen und Niederländer zu erinnern.

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