Das Vermächtnis einer großen Politikerin

Ein Nachruf auf Antje Vollmer

Kurz vor ihrem 80. Geburtstag verstarb nach „langer, schwerer Krankheit“ die Grünen-Politikerin Antje Vollmer. Sie zog 1983 als Parteilose mit den Grünen in den Bundestag, war deren erste Bundestags-Vizepräsidentin von 1994 bis zu ihrem Ausscheiden 2005. Die promovierte Theologin und Pastorin war lange Zeit eine der einflussreichsten Politikerinnen der Grünen, aber nicht ihre „Frontfrau“. In dem langen Flügelkampf zwischen „Fundamentalisten“ und Realpolitikern (Fundis und Realos genannt) war sie zwar stets auf der Seite der Realos, aber immer auch eine vermittelnde Instanz. Als „Reala“ suchte sie nach Wegen der Veränderung innerhalb der parlamentarischen Demokratie und Kompromissen mit anderen Parteien, um notwendige Reformen umsetzen zu können.

Mit ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik entschwand sie zunehmend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Die lärmenden Schlagabtausche und Pseudodebatten der Talk-Shows waren für die ruhige, diskussionsfreudige, selbstkritische und nachdenkliche Frau mit ihrem weltoffenen Geist ohnehin kein Ort für das, was sie bis an ihr Lebensende auszeichnete. Sie war eine stille Suchende nicht nur nach den richtigen Antworten, sondern auch nach den richtigen Fragen. So wurde sie zu einer reflektierenden Vordenkerin für ihre Partei und für die Öffentlichkeit zu einer unbequemen „Querdenkerin“, als sie beispielsweise 1985 für einen Dialog mit RAF-Häftlingen plädierte, um die Gräben der Vergangenheit zu überwinden.

Unbequem blieb und wurde sie nun kurz vor ihrem Lebensende noch einmal. Nicht nur für ihre Grüne-Partei. Am 23. Februar am Vorabend des Jahrestages des Überfall Putins auf die Ukraine brachte sie in einem längeren Essay in der „Berliner Zeitung“ unter dem Titel Was ich noch zu sagen hätte als bekennende Pazifistin Bedenkenswertes zum Ukrainekrieg und ihre Entfremdung mit ihrer Partei offen zum Ausdruck. Da sie zu den selten gewordenen Stimmen zählt, die sich bemühen, die politische und damit auch persönliche Niederlage, die dieser Krieg für sie biografisch bedeutet, aufzuarbeiten, kann man dieser, jüngeren Generationen schon unbekannten Politikerin, keine angemessenere Würdigung zukommen lassen, als diesen Essay, den sie als ihr politisches Vermächtnis verstand, darzustellen.

Sie beginnt mit der zentralen Frage: Wann und wo genau begann die „ungeheure Tragödie um den Ukraine-Krieg“, die uns heute die „Schwurformel“ für den Einstieg in die Debatte abverlangt, den „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins bei feststehender Alleinschuld der russischen Seite“ als „Zeitenwende“ zu erkennen und „demütig zu bekennen, wie man sich geirrt habe im Vertrauen auf eine Phase der Entspannung und der Versöhnung mit Russland nach der großen Wende 1989/90.“  Dies anzuerkennen sei zwar nicht falsch, gerate aber zu einer „Kotauformel“, wenn sie zentrale Fragen verdeckt, die „es eigentlich zu klären gäbe.“

Und diese Fragen seien die nach den Gründen für das Scheitern von Möglichkeiten nach der großen Wende 1989/90. Entscheiden für die Antwort auf die Deutung historischer Ereignisse sei, mit „welchen Aspekten man beginnt, eine Geschichte zu erzählen“. Sie widerspricht der „der heute üblichen These“, 1989 habe es eine „etablierte europäische Friedensordnung gegeben“, die einseitig von Russland unter dem „Diktat des KGB-Agenten Putin zerstört“ wurde und dann in den Ukrainekrieg führte. Vollmer setzt dagegen: 1989 zerbrach eine „Pax atomica“, die durch keine neue Friedensordnung ersetzt wurde. Und hier liege das große Versagen, das Drama der verpassten Chancen für ein neues Europa, dass auch allen Ländern der ehemaligen UdSSR einen sicheren Platz für eine gemeinsame Zukunft geboten hätte.

Zwei Gründe seien für das Scheitern dieser Chance zentral. Erstens wurde sie gar nicht als solche gesehen. Der Westen feierte sich im Triumph seines Sieges im Systemkonflikt. Daraus entfaltete sich die „alte westliche Hybris“ von Demütigungen und Überheblichkeiten des historischen Siegers.

Zweitens wurde der Sieg einseitig einem quasi gesetzmäßigen „Zusammenbruch“ eines „Kartenhauses“ namens Sowjetunion zugeschrieben. Die „einseitigen Vorleistungen“ des Verlierers wurden negiert. Vollmer erinnert mit Recht daran, dass die Bedeutung Gorbatschows für diesen „Sieg“ des Westens völlig unter den Tisch fällt. Die westliche Geschichtserzählung unterschlägt, dass ohne Gorbatschows „Vorleistung“ des bedingungslosen Gewaltverzichts, den er (um den Preis seiner eigenen Macht) gegen den inneren Widerstand durchsetzen musste, der friedliche Übergang nicht möglich gewesen wäre. Statt diesen „Helden des Rückzugs“, der das historisch erwartbare letzte Aufbäumen eines strauchelnden Imperiums mit einem stattlichen Atomwaffenarsenal verhinderte, zu loben, suhlte sich der siegreiche Westen im Glanze seiner eigenen systemischen Überlegenheit.

In Deutschland reicht es gerade noch zu der Erinnerung, dass es die deutsche Einheit ohne Gorbatschow gewaltlos nicht gegeben hätte. Aber die Dankbarkeit reichte hier nicht einmal zur Teilnahme an seiner Beerdigung, während man sich am Grab der Queen und des deutschen Papstes drängelte. Dass es im Osten Deutschlands inclusive den Bürgerrechtlern keine Erinnerung an Gorbatschows Verdienste gab, kreidet sie auch ihrer Partei an. Zwar wisse jeder, dass im Windschatten Gorbatschows der „Heldenmut von Joachim Gauck, Marianne Birthler, Katrin Göring-Eckhardt durchaus maßvoll war“ und manche „Selbstbeschreibung“ lese sich heute wie „Hochstapelei“, aber „fatal sei es, wenn dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments zählt“. Das totgeglaubte Haupt des Kalten Krieges erhebe sich wieder mitsamt der Wiederauferstehung der alten Feindbilder.

Dagegen würden die eigentlich brennenden Fragen, wie die nach der Bedeutung einer europäischen Nation übergangen. Das zeige sich an der Ukraine, die zwar vorgibt, ihren Kampf nicht nur für sich, sondern „zugleich für die universale historische Mission des Westens“ zu führen, aber auch berechtigter Widerstand gegen imperiale Mächte rechtfertige keinen Nationalismus. Zwischen den Zeilen wird erkennbar, dass Vollmer die Ukraineeuphorie großer Teile der Grünen, insbesondere ihres heutigen Führungspersonals nicht teilt. Was sie zuvor als Erstunterzeichnerin des umstrittenen „Manifestes für den Frieden“ von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer schon andeutete.

Vollmer erinnert dagegen an die „Visionen“ auch Helmut Kohls und Hans-Dietrich  Genschers bezüglich einer europäischen Friedensordnung, die sich in der Charta von Paris andeutete. Das ist angesichts der Geschichtsdarstellungen mancher (nicht nur konservativer) Kreise, die mittlerweile die gesamte Ost- und Entspannungspolitik vor allem der Sozialdemokratie als mehr oder weniger geraden Weg in Putins Russland und den Ukrainekrieg umschreiben, wichtig zu erinnern. Sie erinnert auch an die Fehler im Jugsoslawienkonflikt, der durch den „Überbietungswettstreit um die Anerkennung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan“ vom Westen in einen Staatenkrieg verwandelt wurde und an den Folgen des aufgeputschten Nationalismus bis heute leide. All das wäre vermeidbar gewesen.

Die Zwischenphase ab 1989, wo insbesondere die Regierung Schröder noch „Spielraum zum Konfliktausgleich zwischen den großen geopolitischen Spanungsherden“ nutzte, endeten nach Vollmer ungefähr 2008, als Putin dem Status quo nicht mehr traute. Damit – so die nur angedeutete Konsequenz – ändert sich auch der europäische und deutsche Spielraum und zwingt zu Kurskorrekturen mit ungewissen Gewinnen und Erfolgen. Das Dilemma sehe man schon beim Wirtschaftsminister, der die alten Abhängigkeiten von Russland und China nur durch neue ersetzen könne, die „keineswegs als Musterdemokratien durchgehen können“.

Jenseits der Ökonomie begebe sich Deutschland unter dem geopolitisch definierten Weltkonflikt mit China in eine politische und militärische Abhängigkeit von den USA. Und hier sieht die Pazifistin Vollmer das große Loch der Alternativlosigkeit, insbesondere verkörpert in der namentlich nicht genannten Außenministerin, der „schrillsten Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie. Ihre Begründungen verblüffen durch argumentative Schlichtheit.“

Vollmer hält diese Sicht auf die reale Welt, der diese ad hoc-Politik entspringe, für Vorstufe für eine auf Europa zukommende Phase der „großen Ernüchterung“, aber darin liege auch ein Grund zur Hoffnung. Der selbstgewisse Westen leide gegenwärtig an Realitätsverlust, denn das Bild, das er von sich selbst sich macht, hat mit dem, was die Welt vom Westen hat, nicht viel gemeinsam. Im großen Kampf mit dem Reich der Mitte stehen die Aktien des Weltansehens für den Westen nicht gut. Den Kampf gegen die Welt der Autokraten findet nicht nur im globalen Süden wenig Anhänger, denn dem Westen fallen nun nicht nur seine Sünden der jüngeren Vergangenheit (Kosovo, Afghanistan, Irak) auf die Füße. Weltweit erinnern sich die Völker jener Mord- und Raubzüge der Europäer, die wir noch als „Zeit der Entdeckungen“ darstellen.

Vollmer hofft auf eine globale neue „Blockfreienbewegung“, die in der UNO wieder die Hüterin des Völkerrechts – und nicht seiner Brüche – sieht. Als Pazifistin und mit ihrer Partei habe sie stets in Distanz zu den Machtblöcken gestanden. Ihre großen Vorbilder heißen Gandhi, Mandela und Martin Luther King. Sie begreife nicht, was die Grünen verführt habe, all die Gebote der Gewaltlosigkeit „aufzugeben für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker, und dabei ihre wertvollsten Wurzeln als lautstarke Antipazifisten verächtlich zu machen?“ Dagegen sei für alle, die die Welt „wirklich retten“ wollen, klar, wir müssen „den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“

Darüber und noch viel mehr mit ihr friedlich mit guten Argumenten angesichts eines aufgezwungen realen Krieges zu streiten, ist nun leider nicht mehr möglich, aber über das, was sie bis zuletzt als überzeugte Pazifistin noch zu sagen hatte, können wir es in ihrem Geiste jenseits des Kriegsgeschreis wieder erlernen.

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