Der Krieg in der Ukraine – eine Zwischenbilanz

Der Angriffskrieg Putins auf ein souveränes Land ist ein Bruch des Völkerrechts, die Bombardierung von Zivileinrichtungen verstößt gegen alle Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts. Die Dreistigkeit, mit der Putin und sein Außenminister Lawrow den offenbar von langer Hand vorbereiteten Krieg gegen die Ukraine abstritten und die Weltöffentlichkeit belogen haben, hat sie als vertrauensvolle Verhandlungspartner eigentlich für alle Zeiten unmöglich gemacht.

In der UNO, dem Forum der Weltöffentlichkeit, haben sie dafür immerhin eine einzigartige Niederlage einstecken müssen. Noch nie ist eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates von der Generalversammlung so abgewatscht worden (die USA haben früher immer noch so viel Druck auf Abtrünnige ausüben können, dass ihnen eine solche Niederlage erspart blieb), als am 2. März 141 der 193 Mitgliedstaaten, also fast eine Dreiviertelmehrheit, für eine Resolution mit dem Titel „Aggression gegen die Ukraine“ stimmten, die Russlands Krieg gegen die Ukraine schärfstens verurteilt. Nur vom Vasallenregime Belarus, Nordkorea, Syrien und Eritrea erhielt Putin mit deren Gegenstimmen Unterstützung, 35 Länder enthielten sich, darunter China und sehr bemerkenswert Indien, aber auch viele andere, die früher stets zu verlässlichen Unterstützern Russlands zählten.

 

Wahrheit und Lüge im Krieg

So eindeutig die moralische und politische Verurteilung dieses Gewaltaktes ist, so strittig sind die Antworten und vor allem die Frage danach, wie es dazu kommen konnte und wer die Schuld dafür trägt. Da bekanntlich die Wahrheit das erste Opfer eines Krieges ist, ist es geboten, einige Wahrheiten in Erinnerung zu rufen, die auch auf der Seite der Ukraine ins Wanken geraten. So sehr Putins Rechtfertigungsversuche wie ein „Genozid“ an der russischen Bevölkerung im Donbass, das vermeintlich „drogenabhängige Naziregime in Kiew“ unhaltbare Propagandalügen sind, so wird man Putins Hinweise auf Völkerrechtsverletzungen westlicher Staaten nicht so leicht als Lügen abqualifizieren können.

Die bei uns vielfach erhobene Anklage, Putins Krieg sei der erste nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die „Europäische Friedensordnung“ mit einer gewaltsamen Grenzverletzung unterschlägt, dass es dafür leider ein Vorbild gibt. Es war die NATO die 1999 mit ihrem völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro, die zum ersten Mal in Europa militärische Mittel zur Lösung eines politischen Konfliktes einsetzte und mit der Anerkennung der Sezession des Kosovo von Serbien kündigte der Westen das Prinzip auf, das eine gewaltsame Veränderung von Grenzen untersagt.

Nun juckt diese „Wahrheit“ angesichts der neuen Lage niemanden mehr. Intensiver tobt dagegen die Deutungshoheit bezüglich der Frage, wie es dazu überhaupt kommen konnte. Und da beginnt eine Position dominant zu werden, die auch für die Nachkriegszeit von äußerster Relevanz ist. Es ist diejenige, die eigentlich schon immer wusste, was Putin – oder verlängert die Russen – immer schon wollte und nun mit langem Atem zur Durchführung bringt. Mit Friedrich Schillers Satz aus seinem Drama „Wilhelm Tell“: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!“ lässt sich diese Position auf den Punkt bringen.

Wer der böse Nachbar ist, ist klar und vor ihn musste man sich schützen und diesen Schutz konnte allein die NATO gewähren. Deshalb war es richtig, dass sie an Stelle einer ominösen „Europäischen Friedensordnung“ die Sicherheitsarchitektur bestimmte und sich sukzessive immer weiter Richtung Osten erweiterte. Sie folgte damit nur den realen Sicherheitsbedürfnissen der vom sowjetischen Imperium befreiten Völker.

 

Das „Versagen“ der „Putinversteher“ ?

Die Fehler lagen auf der Seite jener, die naiverweise glaubten, Putins Russland (oder gilt es doch für Russland schlechthin?) in ein europäisches Sicherheitssystem durch Handel und wechselseitige Abhängigkeiten zu einem kooperativen Partner gewinnen und einbauen zu können. Das sind nun die unverbesserlichen „Putinversteher“ und diejenigen, die das heutige Elend überhaupt erst ermöglicht haben, weil sie nicht sehen wollten, was doch zu sehen war. So wird rückwirkend von heute die gesamte Politik Putins als eine gerade Linie rekonstruiert, als handele es sich um eine Kontinuität, die eigentlich unübersehbar in dem mündet, was wir heute serviert bekommen. Ob dies haltbar ist, soll uns hier nicht beschäftigen, wird aber nachzureichen sein.

Da angesichts der heutigen Fakten diese Interpretation der Vorgeschichte ein hohes Maß an Plausibilität beansprucht, muss jenseits einer kritischen Überprüfung auch gefragt werden, was dann die Handlungsalternative gewesen wäre und nun ist. Wann wäre denn der Zeitpunkt gewesen, wo man mit welchen Mitteln Putin eine rote Karte hätte zeigen müssen? Darüber schweigen auch jene, die es immer schon wussten, meistens lieber.

Aber wenn sie so genau wissen, was Putins „wahren Ziele“ sind, die man von ihm selbst mittlerweile als die dezidierte Abkehr von der „amerikanischen Weltordnung“ erfahren kann, was ist dann die Strategie des durch Putins Attacken wieder vereinten transatlantischen Westens gegen seine Pläne, die er nun in einer „strategischen Partnerschaft“ mit dem anderen, neuen Feind, mit China anstrebt? Und wie verträgt sich das dann mit der beharrlich von den Amerikanern von Beginn an gezogene Linie des militärischen Nichteingreifens der Nato in den Konflikt?

 

Sind alle Solidaritätsforderungen legitim und erfüllbar?

Es ist nebenbei eine wenig erfreuliche Begleiterscheinung, wie das schwer betroffene Land Ukraine in Deutschland in Gestalt seines Botschafters unsere Solidarität einfordert und den damit verbunden Preis der Eskalationssteigerung kleinredet, in dem er einfach behauptet, man befinde sich doch schon im Dritten Weltkrieg, denn es gehe um die Zukunft Europas, weil nach der Ukraine weitere Länder auf Putins Speisekarte stehen, denn das Ziel sei eine komplette Revision der geopolitischen Ordnung, die Wiederherstellung der Einflusszone der alten Sowjetunion von vor dem Ende des Kalten Krieges. Wenn dem so ist, dann wäre es angebrachter, wenn sich der ukrainische Botschafter nicht über deutsche Feigheit in Talk Shows mokieren würde, sondern sich bei der Atommacht USA über ihre Grenzziehung beschweren würde.

So verständlich all die Empfindlichkeiten und Ängste der osteuropäischen Nachbarn Russlands auf Grund ihrer Geschichte und aktuellen Erfahrungen sind, so grenzwertig sind etwa Forderungen des ukrainischen Präsidenten nach einer Sicherung des ukrainischen Luftraums, der die damit unweigerliche militärische Eskalation einfach ausblendet. Es mag eine altertümlichen Vorstellungen oder ein Missverständnis sein, aber um Solidarität bittet man und fordert sie nicht, weil es darauf keinen Anspruch gibt. Wenig hilfreich sind auch polnische Luftabwehrhilfen durch MIG- Flugzeuge, die man dann aber aus Sicherheitsgründen lieber den Amerikanern übergeben möchte oder wenn Polens Vize-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski am 15. März eine NATO-Friedensmission für die Ukraine für humanitäre Zwecke mit Schutz und Recht auf militärische Selbstverteidigung forderte. Hier wird mit fragwürdigem Heroismus versucht, an einer Eskalationsspirale zu drehen, die nicht nur andere in Mitleidenschaft zieht, sondern missachtet, dass es auch noch eine Verantwortung für die (im Übrigen absehbaren) Folgen des Handelns gibt. Wer aus dem Ukrainekrieg eine politische Götterdämmerung oder gar ein Armageddon machen will, der sollte auch sagen, welchen Preis man dafür zu zahlen bereit ist.

Jedenfalls ist es ein Glück, dass momentan kein Trump im Weißen Haus sitzt und die NATO ein unmittelbares militärisches Eingreifen in den Krieg kategorisch ablehnt. Denn trotz der konventionell eskalierenden militärische Gewalt in der Ukraine, der stetig steigenden Zahl der Opfer und Flüchtlinge, der Zerstörung der Städte und Lebensträume, heißt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Niemand weiß, wie sich der militärische Konflikt weiter entwickelt. Wer hält um welchen Preis länger durch?

Gering sind die Hoffnungen, dass Putin durch sein aufbegehrendes Volk gestürzt wird. Also wird man mit dem „Bösen“ verhandeln und wahrscheinlich auch leben müssen. Unklar ist eigentlich immer noch, was er in diesem Krieg unmittelbar erreichen will. Ein Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine? Die hat der Präsident der Ukraine schon längst ins Verhandlungspaket gelegt. Die Anerkennung der Krim als Teil Russlands? Das ist eigentlich kein Kriegsthema. Sonderstatus oder Abtrennung des Donbassgebietes? Sicherlich ein schwieriges Thema, aber unlösbar ist es nicht. Die Absetzung der ukrainischen „drogenabhängigen Naziregierung“ steht auf Moskaus Forderungskatalog wohl nicht mehr und eine komplette Beherrschung der Ukraine durch eine moskauergebene Marionettenregierung ist keine realistische Option mehr, wenn es denn je eine war.

So sehr die schrecklichen Bilder dieses Krieges Rachegelüste und Wut, Verzweiflung und auch Ohnmacht zur täglichen Gemütslage machen, am Ende hilft die militärische Gegengewalt auch nur begrenzt. Man wird das machen müssen, was man auch vorher (vergeblich) tat, miteinander reden und verhandeln. Und man muss darüber nachdenken, wie es danach weitergehen soll, denn Russland wird weiterhin einer unserer Nachbarn sein, egal wie lange uns Putin auch noch erhalten bleibt.

Und Europa steht vor der großen Aufgabe, sich der Herausforderung zu widmen, dass es seine Sicherheitsordnung in die eigene Hand nehmen muss. Sich nun in der durch Putin wiederhergestellten transatlantischen Sicherheitspartnerschaft zu sonnen, wäre sehr leichtfertig und illusorisch. Der Partner und Schirmherr Amerika ist nach der durchaus wiederholbaren Erfahrung eines Trumps zu einem unsicheren Kantonisten geworden. Die NATO als entscheidender Sicherheitspfeiler für Europa hat zumindest mittelfristig ausgedient. Putin liegt vielleicht falsch mit seinem Ansinnen, das Ende des amerikanischen Zeitalters mit Aktionen wie den Ukrainekrieg zu beschleunigen – wenn das denn ein Motiv sein sollte -, aber unabhängig davon ist die „amerikanische Weltordnung“ dem Untergang geweiht, weil sie ihren Hüter verliert, der sie nicht mehr aufrechterhalten kann und /oder will. Und damit werden die Weltkarten neu gemischt.

 

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