Die Mitte als Mythos und Problem – Teil 2 (Teil 1 hier klicken)
Die Suche nach der sozialen Mitte in den Sozialstrukturanalysen Deutschlands
Der Mythos der Mitte ist keine Erfindung der Neuzeit. Ihr Erfinder (oder Entdecker) war der neben Platon bedeutendste Denker der Antike: Aristoteles. Er ist der Philosoph der Mitte als dem Maß, nicht des Mittelmaßes, zwischen den Extremen. Das „rechte Maß“ zu finden, war für ihn die höchste Kunst der praktischen Lebensführung. In seiner Nikomachischen Ethik entwickelt er konkret die jeweils richtige Mitte zwischen dem Zu-viel und Zu-wenig, wenn er beispielsweise die Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit, die Großzügigkeit zwischen Geiz und Verschwendung platziert.
Das richtige Maß der Mitte zu finden ist eine besondere Leistung und Auszeichnung des Bürgers, der darin seine Tugendhaftigkeit findet. Aber diese kann nur in einer guten Polis gedeihen, denn nur in einer wohlgeordneten, guten Polisordnung kann das richtige und gute Leben des Einzelnen als Teil dieser Gemeinschaft in Erfüllung gehen. Theodor W. Adornos berühmter Satz aus der Minima Moralia „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ hat hier seine eigentliche Quelle. Die Verbindung von Individual- und Sozialethik findet in der Frage nach der besten Ordnung für die Polis ihre Antwort. In seiner Politik plädiert Aristoteles für eine Mischverfassung als jener Mitte, die jenseits der Extreme der Tyrannei und der Demokratie angesiedelt wird, denn die Mitte muss jene Bürger ausschließen, die unfähig sind zu regieren oder regiert zu werden. Es geht Aristoteles anders als Platon nicht um einen Idealstaat, sondern in Abwägung der bekannten Ordnungen ist die Mitte zwischen den Extremen das den Menschen angemessene.
Dabei darf nicht unterschlagen werden, dass Aristoteles es für selbstverständlich hielt, dass die Menschen von Natur aus so unterschiedlich sind, dass die einen zum Herrschen geboren waren, was merkwürdigerweise nur die Wenigen waren, während die große Menge dazu verdammt war, beherrscht zu werden. Das galt insbesondere für das „sprechende Werkzeug“, den Sklaven, obwohl dieser Status sich nicht primär aus der Natur, sondern aus dem Kriegsverlauf ergab. Dem Sieger fiel das Recht zu, sich die Besiegten zu Sklaven zu machen.
Anders als diese Lehren des Aristoteles, die keinen langfristigen Bestand hatten, kreierte er aber jene Lehre, die sich noch heute des Beifalls erfreut und zum Mythos par excellence aufstieg: Entscheidend für den Bestand einer politischen Gemeinschaft ist der soziale Zusammenhalt und der ist unabdingbar mit einer sozialen Mitte, dem Ausgleich zwischen arm und reich verbunden. Das kann man auch als Forderung nach sozialer Gleichheit lesen, hieß aber bei Aristoteles das Gegenteil. Es bedürfe eines starken Mittelstandes zwischen den Armen und den Reichen, der diese Pole verbindend zusammenhält. Daraus speist sich die Erkenntnis, dass (auch moderne) Gesellschaften ohne einen solchen gesunden und verbindenden Mittelstand aus dem Gleichgewicht geraten.
Der Beginn der modernen Klassengesellschaft und die Entwicklung von Lohnarbeit und Kapital im 19. Jahrhundert
Diese soziale Mitte begegnet uns heute als die „Mittelschicht“. Dabei handelt es sich um kein klar erkennbares soziales Gebilde, es ist eine überwiegend am Einkommen gemessene statistische Größe. Zwar gibt es auch noch die Rede von der „bürgerlichen Mitte“, aber das ist eher ein Euphemismus, denn ein Bürgertum mit einer stilbildenden sozialen und kulturellen Prägekraft gibt es schon seit langem nicht mehr. Verschwand es nicht mit dem Ersten Weltkrieg?
Die Befürchtungen bezüglich der sozialen Erosion dieser Mitte sind gegenwärtig ein Thema mit Tendenz zur Hochkonjunktur. Aber die Sorge um die Stabilität einer „Mitte“ spielte in den Sozialanalysen – nicht nur in Deutschland – spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert eine herausragende Rolle. Es lohnt sich, einen Blick auf dieses Kerngeschäft der Soziologie zu werfen, die sich in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg zu einer eigenständig anerkannten Wissenschaft entwickeln konnte. Die wissenschaftlichen Analysen der sozialen Strukturen der deutschen Gesellschaften, auf die wir uns hier beschränken, die ihre Krisen und Stabilitäten erkunden, sind ein geeignetes Instrument, die Entwicklung der deutschen Gesellschaft zu rekonstruieren.
Der Ausgangspunkt liegt zwar noch weit vor der Konstitution der Soziologie als akademisch anerkannte Wissenschaft, denn mit der weitergehenden Frage nach den Gründen der sozialen Ungleichheit unter den Menschen, werden wir auf noch viel weiter zurückliegende Zeiten verwiesen. Aber da – von Ausnahmen abgesehen – hier überwiegend die soziale Ungleichheit als Folge der natürlichen Ungleichheit der Menschen oder als Gott gegeben erklärt wurde, kürzen wir diese Geschichte ab und starten mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts.
Die soziale Frage nannte man das neuartige Phänomen, das mit dem Beginn der Industrialisierung auftauchte. Die massenhafte Armut, damals auch „Pauperismus“ genannt, bedurfte angesichts des gleichzeitig auftauchenden „ungeheuren Reichtums“ mit der sich entwickelnden Industrialisierung eine andere Erklärung, als die bis dahin bekannte „selbstverständliche“ Armut von weit über neunzig Prozent der Bevölkerungen in Europa. Mit Verweis auf die „natürliche Ungleichheit der Menschen“ oder gar Gottes Wille war die neue soziale Ungleichheit weder zu erklären noch zu rechtfertigenden, zumal doch im Gefolge der Französischen Revolution mit den Bürger- und Menschenrechten vor dem Recht alle gleich waren.
Die neue Gesellschaft des sich entwickelnden Kapitalismus ersetzte zwar den Feudalismus mit seinen mannigfaltigen Formen der Leibeigenschaft und Hörigkeit und den Privilegien der Herrschenden durch die formelle Gleichheit aller (Männer) vor dem Gesetz, aber die moderne bürgerliche Gesellschaft schuf zugleich eine neue Form der sozialen Ungleichheit.
Die neue Armut in der Fülle des Reichtums traf nun diejenigen, die als formell „freie Lohnarbeiter“ den Reichtum schufen, den sich die Kapitaleigner aneigneten. An die Stelle der personengebunden Herrschaftsausübung im Mittelalter trat eine neue „versachlichte“, „abstrakte“ Form der Herrschaft „des Kapitals“. Das Eigentum an Produktionsmittel war auch in der bürgerlichen Gesellschaft der „Freien und Gleichen“ der entscheidende Unterschied. Nicht nur Karl Marx und Friedrich Engels sahen darin die Konstituierung der modernen Klassengesellschaft, deren Kern der Interessengegensatz der Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft wie eine beliebige Ware zu Markte tragen und verkaufen mussten, und dem sich das „Mehrprodukt“ aneignenden Kapital war. Sie prognostizierten mit dem atemberaubenden Siegeszug des modernen Kapitalismus, der alle Bereiche der Gesellschaft seinem Regiment unterwarf, einen neuen und dauerhaften Konflikt, der diesem Sozialsystems immanent sein würde. Mit dieser Erkenntnis standen sie nicht ganz allein. In Deutschland kam der weniger bekannte Lorenz von Stein zwar zu einer ähnlichen Analyse. Aber er setzte statt auf einen Klassenkampf der Arbeiter zur Überwindung der Produktions- und Eigentumsverhältnisse durch eine auf Gemeineigentum abzielende befreite Gesellschaft der Sozialismus bzw. Kommunismus auf ein die Gegensätze ausgleichendes „soziales Königtum“.
Die sich aus der gemeinsamen Interessenlage entwickelnde Arbeiterbewegung reduzierte sich insbesondere in Deutschland nicht allein auf die Durchsetzung „materieller Interessen“, wie Erhöhung der Löhne und Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Verkürzung der Arbeitszeiten und Absicherung gegen Risken wie Unfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Absicherung fürs Alter durch garantierte Rente. Die Erfahrung lehrte, dass diese lebenswichtigen Interessen nicht jeder für sich gegen einen übermächtigen Gegner in der Person des Unternehmers durchsetzen konnte, sondern dies nur gemeinsam erfolgreich sein konnte. Das Ergebnis dieser Einsicht war die „Solidarität“ und die schärfste Waffe war der Entzug der Arbeitskraft, also der Streik, denn ohne Arbeit kein Kapital.
Schon diese unmittelbaren Interessen brachte die sich organisierende Arbeiterschaft in die Sphäre des Politischen, denn für den Kampf für die unmittelbaren eigenen Rechte war das Recht sich zu organisieren, sowohl als Gewerkschaft wie auch als politische Partei erforderlich. Das so genannte „Koalitionsrecht“, ergänzt um das Streikrecht waren die elementaren politischen Forderungen der internationalen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert.
Dass das „gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt“ (Marx) war in diesem Zeitraum eine fassbare Erfahrung. In dem Lernprozess, nur gemeinsam, im solidarischen Handeln die eigene Situation verändern zu können, konstituierte sich die Arbeiterschaft von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“, indem sie aus der gemeinsamen sozialen Lage ein Bewusstsein von sich selbst, ein „Klassenbewusstsein“ entwickelte, das in organisierter Form zu einer politischen und sozialen Macht wurde. Strittig war, wie das Ziel, die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung politisch erzielt werden kann: durch Reformen oder durch Revolution.
Die Zuspitzung der Klassengesellschaft und das Bürgertum als die Mitte
Mit zunehmender kapitalistischer Industrialisierung wuchs auch die Masse der Besitzlosen, des Proletariats, wie man sie auch nannte. Die für die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung grundlegende Frage war, welche Rolle spielten in diesem Interessenkonflikt jene Teile der Gesellschaft, die weder der Seite des Kapitals noch der Lohnabhängigkeit zuzurechnen waren? Der Logik der kapitalistischen Konkurrenz folgend, wo die Großen die Kleinen fraßen, also Kapitalisten im Konkurrenzkampf von ihresgleichen enteignet wurden und sich das Kapital in immer weniger Händen konzentrierte und zentralisierte, drohte das in sich differenzierte und breit gestreute mittlere und kleine Besitzbürgertum zwischen den beiden „Hauptklassen“ zerrieben zu werden. Basis dieser bürgerlichen Mittelklasse war vor allem die große Zahl kleiner und mittlerer Bauern, ergänzt um das städtische Handwerk und Gewerbe. Die Befürchtung war, dass mit deren Reduktion jene soziale Mitte dezimiert würde, die dazu auserkoren war, das Ganze zusammenzuhalten und ganz pragmatisch fehlte schlimmstenfalls eine breite Menge, die das Heiligtum des Privateigentums politisch bei den Wahlen absicherte. Die Großen waren zu wenig, sie brauchten dafür die Unterstützung der vielen Kleinen.
Dass man in einer in Klassen gegliederten Gesellschaft lebte, war im 19. Jahrhundert eigentlich unumstritten. Strittig war, warum das so war, ob man dagegen etwas tun konnte bzw. sollte und wenn was. Oder war das nicht doch alles Ausdruck der letztlich natürlichen Ungleichheit der Menschen, wo dann jedem die Rolle und der Lohn zukam, die seiner Leistung fürs Ganze entsprach. Jenseits dieser grundsätzlichen Auseinandersetzungen über die Legitimität sozialer Ungleichheiten stieg die Befürchtung, dem frisch gegründeten „Reich“ käme die soziale Stabilität in Gestalt eines die Gesellschaft integrierenden „Mittelstandes“ abhanden.
Hans-Ulrich Wehler hat in seiner fünf Bände umfassenden Deutsche Gesellschaftsgeschichte diesen Entwicklungsprozess umfassend analysiert und beschrieben. Nach bescheidenen Anfängen der Industrialisierung begann mit der Reichsgründung 1871 dann der unaufhaltsame Aufstieg der Großindustrie im Kaiserreich. Schon dreißíg Jahre später ist die Debatte, ob das Deutsche Reich ein Agrarstaat mit ergänzender Industrie oder ein Industriestaat mit einem Agrarannex wird, zugunsten der Industrie entschieden. Nicht nur die Schwerindustrie, prominent die Stahlbranche, bringt schon aus technischen Gründen den Großbetrieb hervor. Gleiches gilt in abgeschwächter Form im Prinzip auch für den Maschinenbau, vor allem aber für die nun ihren Aufstieg nehmenden Branchen der Chemie- und der Elektroindustrie. In kurzer Zeit steigt Deutschland hier in etlichen Bereichen zum Weltmarktführer auf. Das Chemiefirmenkonsortium IG Farben sowie Siemens und AEG sind die bekanntesten Großfirmen, die mit ihren großen Beschäftigtenmengen neben den „Stahl- und Kohlebaronen“ den Trend zur Proletarisierung der Gesellschaft vorantreiben. (s. Wehler III., 680 ff. sowie 878)
Zwei weitere Entwicklungen forcieren parallel dazu diesen Trend: Die Großindustrien treten in der Regel als Aktiengesellschaft auf, um die riesigen Kapitalmengen zu besorgen und damit entstehen Großbanken (auch hier die bekannteste: die Deutsche Bank), die einen neuen Typus von „Arbeiter“ hervorbringen: der „Bankbeamte“ verkörpert den „Stehkragenproleten“ oder auch „Angestellten“, wie er fortan heißen wird. Und dieser neue Typus vermehrt sich noch an zwei weiteren herausragenden Stellen: In der Großindustrie steigt neben den überwiegenden Produktionsarbeitern auch die Zahl der „Bürokraten“, die die Produktion organisieren und die vielfältigen Betriebs- und Verwaltungsabläufe koordinieren und erledigen. Und diese privatwirtschaftlich eingebundene neue Spezies findet ihre Ergänzung in einem mit der Industrialisierung und Urbanisierung einhergehenden systematisch sich entfaltenden öffentlichen wie privaten Dienstleistungssektor, der sich insbesondere auf kommunaler Ebene in blühenden Verwaltungsaufgaben der Sicherstellung öffentlicher Infrastrukturen vom Straßen- und auch Wohnungsbau, Abwasserbeseitigung bis zur öffentlichen Beleuchtung in immer weitere Lebensbereiche erstreckt. (Wehler III., 618 ff.)
All diese Entwicklungen vermehrten die Sorgenfalten des Besitzbürgertums, um die Absicherung ihrer Herrschaft und Besitzstände bei gleichzeitig um sich greifender Demokratisierung, bzw. der Forderung danach, die der „Masse“ mit ihren „Begehrlichkeiten“ in die Hände spielten. Diesen Ängsten standen die Hoffnungen der anderen, aufstrebenden Seite gegenüber, die auf einen Umschlag von der wachsenden Quantität der Besitzlosen in neue soziale und politische Qualitäten, was man auch soziale Reformen oder gar Revolution nannte, hofften. In der Tat signalisierte der Zuwachs der „Vaterlandsfeinde“ der Sozialdemokratie in ihrer rasant steigenden Mitgliederschaft wie bei den Stimmenzuwächsen bei den Reichstagswahlen eine bedrohlich erscheinende Organisationsstärke, während die Bataillone des Bürgertums sich im Sinkflug zu bewegen schienen, von der Schwindsucht des Adels ganz zu schweigen.
Die Angestellten als der „neue Mittelstand“?
Da erschien es als ein großer Hoffnungsschimmer, als der „Kathedersozialist“ Gustav Schmoller 1904 in seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre auf das Aufkommen einer neuen Klasse jenseits von Industriearbeiterschaft und Bourgeoisie, die in sich ebenfalls keine Einheiten darstellten, verweisen konnte. Es waren die „Staats- und Privatbeamten“ (Schmoller 1904, 493, 526 sowie 629), die noch nicht als „Angestellte“ summiert wurden. Aber sie bilden für Schmoller einen neuen „Mittelstand“, der als „Gegengewicht nach oben und unten“ als „Brücke und Vermittlung“ wirken könne. (Schmoller 1904, 630 sowie Schmoller 1918, 617 ff.) Auf dieser steigenden Zahl der Angestellten, also nicht dem klassischen Mittelstand, ruhten die Hoffnungen, dass es eine gesellschaftliche Mitte gegen die prognostizierte Zuspitzung der Klassenentwicklung auf die beiden Hauptklassen Kapital und Arbeit geben werde. Der reformistische Flügel in der deutschen Sozialdemokratie um Eduard Bernstein folgte dieser Analyse weitgehend und plädierte angesichts dadurch sinkender Chancen auf eine Revolution für einen konsequenten Reformismus.
Den Durchbruch in ihrer sozialen Bedeutung erlangte die steigende Zahl der Angestellten (wie auch der Beamten) als neuer sozialer und politischer Faktor dann in der Weimarer Republik. Deren Scheitern spricht zwar nicht für die Existenz eines stabilisierenden und ausgleichenden Mittelstandes, aber die Frage nach der sozialen Mitte wurde zunehmend zu einer Frage über die Rolle der rasch wachsenden Schicht der Angestellten. Der alte Besitzmittelstand konnte diese Rolle schon rein quantitativ nicht mehr ausfüllen, denn bezogen auf diese Schicht wurde Marx‘ Prognose keinesfalls widerlegt. Dieser Thematik widmeten sich mehrere auch über ihre Zeit hinausreichende einflussreiche Studien. (s. Wehler IV. 288 f.)
Theodor Geiger bestritt in seinem Standardwerk Die soziale Schichtung des deutschen Volkes aus dem Jahre 1932 ganz entschieden die These von einem „neuen Mittelstand“, denn es erschien ihm – empirisch belegt – als absurd, die Besitzbürger wie z.B. Handwerker oder Bauer mit Angestellten als eine wie auch immer geartete Einheit aufzufassen. (Geiger 1932) Andererseits war aber offenkundig, dass Arbeiter und Angestellte sich nicht als us sondern als them betrachteten. Zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein entstand bei den Angestellten eine erklärungsbedürftige Differenz, denn der formale Tatbestand der faktischen Lohnarbeit bildete als objektives materielles Interesse keine ausreichende Basis für weitere Gemeinsamkeiten mit den Arbeitern.
Zur Erklärung wurde auf eine spezifische Berufsideologie und eine besondere Qualifikation verwiesen, die ein anderes Verhältnis zur (entfremdeten) Arbeit hervorbringt und auch eine andere – nicht beliebig austauschbare – Stellung auf dem Arbeitsmarkt nach sich zieht. Ähnliches machte man bei den gut ausgebi8ldeten „Facharbeitern“ geltend. Besonders relevant, aber nur für gehobene Teile der Angestellten, ist die Stellung im Produktionsprozess als delegierter Funktionär des Unternehmens („Unteroffiziere des Kapitals“).
Weniger in dieser delegierten Leitung als im delegierten Ansehen sah Hans Speier in seiner 1933 erstellten, aber erst 1977 publizierten Studie über die Angestellten vor dem Nationalsozialismus einen eher imaginären Grund für das Sonderbewusstsein der Angestellten. (Speier 1977) In diesem illusionären Charakter einer geborgten Geltung erblickte Siegfried Kracauer in seiner bis heute beeindruckenden Studie Die Angestellten von 1930 den Kern jener Ideologie, die den neuen Mittelstand, der höchstens eine Mittelschicht sein konnte, mit dem alten Mittelstand zu verbinden versuchte. (Kracauer 1930) Kracauer insistierte darauf, dass die objektive Interessenlage und Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Angestellten sie an die Seite der Lohnabhängigen stellte. Aber als scharfblickender Kulturananalytiker war ihm jenes Sonderbewusstsein der Angestellten nicht entgangen, welches sie für autoritäre und faschistische Gesellschaft- und Politikangebote anfällig machte, wobei insbesondere in den Krisenzeiten die Angst vor einer drohenden „Proletarisierung“ wohl die treibende Kraft war.
Ulf Kadritzke hebt bei seinem Rückblick auf die herausragenden Sozialstrukturanalysen der Weimarer Zeit besonders hervor, dass diese immer noch im Rahmen eines Begriffs von einer Klassengesellschaft entwickelt wurden. Der Begriff der sozialen Schicht diente auch bei Theodor Geiger als Ergänzung und nicht als Ersatz für den Klassenbegriff. Das ändert sich dann interessanterweise nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl sich die Sozialstruktur objektiv kaum verändert hatte. Dazwischen lag lediglich die schwergewichtige Ideologie der „Volksgemeinschaft“ der Nazis, die kein Oben und Unten, sondern nur Führer und Gefolgschaft als gleiche (ethnisch-rassische) Volksgenossen kannte.
Eine Begründung erfuhr diese Idee schon in der Weimarer Republik auf der rechten Seite des politischen Spektrums durch die Vertreter der Konservativen Revolution. Sie kannten wie die Nazis weder Flügel noch eine Mitte. Die Gegensätze, die sie zu vereinen beanspruchten, sahen sie als Pole, die einen produktiven Spannungsbogen bilden. Sie erst erzeugen jene Energie für den Willen zur Tat. Programme und Analysen sind für solche Tatmenschen als Adressaten für den Aufbruch störend, denn zwischen den Polen „gibt es eine Spannung, und diese Spannung lebt in der neuen Bewegung (dem Nationalsozialismus R.W.).“ (Freyer 1937, 21)
Die Ideologie der „Volksgemeinschaft“ überlebte in gewisser Weise den Untergang des „Dritten Reiches“, wenngleich das begründende Vokabular sich änderte. Wie die Mitte aber in der Bundesrepublik fortlebt und zu einem Mythos wird, wie Herfried Münkler diagnostizierte (Münkler 2012, 215 f.), wird im nächsten Teil dargestellt.
Literatur:
Aristoteles (2004): Nikomachische Ethik. Übers. O. Gigon, München: dtv, 6. Aufl.
Aristoteles (2003): Politik. Übers. F. Susemihl, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt (re) 2. Aufl.
Freyer, H. (1937): Das geschichtliche Selbstbewusstsein des 20. Jahrhunderts. Leipzig: Verl. H. Keller
Geiger, Th. (1932): Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Stuttgart: Enke 1967
Kadritzke, U. (2017): Mythos „Mitte“ oder: Die Entsorgung der Klassenfrage. Berlin: Bertz + Fischer
Kracauer; S. (1930): Die Angestellten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971
Marx, K. u. Engels, F. (1848): Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, S, 459-493
Münkler, H. (2012): Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Berlin: Rowohlt
Schmoller, Gustav (1904): Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Zweiter Teil. Leipzig 2. Aufl. 1923
Schmoller, Gustav (1918): Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf. München und Leipzig
Speier, H. (1977): Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918-1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Wehler, Hans-Ulrich (1987): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen ‚Deutschen Doppelrevolution‘ 1815-1845/49. Bd. II.; München
Wehler, Hans-Ulrich (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914. Bd. III.; München
Wehler, Hans-Ulrich (2003): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949. Bd. IV.; München