Das Ende einer unsinnigen Hängepartie – Kanzler Scholz ist auch Kanzlerkandidat der SPD

Zur beendeten Debatte um die SPD-Kanzlerkandidatur

Gestern Abend, kurz vor der Tagesschau, wurde die offene Frage nach der Kanzlerkandidatur der SPD von Boris Pistorius mit seinem Verzicht beantwortet. Warum er das erst jetzt erklärte, bleibt wohl sein Geheimnis. Jedenfalls ersparte er seiner Partei eine Zerreißprobe, die ohnehin ungünstige Wahlchancen nur noch weiter minimiert hätten.

Nachdem Scholz Lindner vor die Tür gesetzt hatte, bekam er von der Fraktion großen Applaus. Eigentlich reichte es den meisten Genossinnen und Genossen schon lange, wie die FDP getroffene Vereinbarungen wieder kassierte und Nachverhandlungen erzwang, weil der Kanzler die Koalition (zu lange) erhalten wollte. Die FDP trägt einen wesentlichen Anteil daran, dass die Ampel, die Streit zu ihrem einzigen Markenzeichen werden ließ, einen so desaströsen Eindruck der Zerrissenheit und Handlungsunfähigkeit in der Öffentlichkeit machte, dass ihre Zustimmungswerte von Monat zu Monat sanken und alle Koalitionäre der Ampel bei Landtagswahlen nichts als Verluste horteten.

Das Projekt „Fortschrittskoalition“ war vielleicht schon gescheitert, bevor es begann, weil die Grundorientierungen der Partner an entscheidenden Fragen wie Klimawandel, Energie-, Verkehrs-, Sozialpolitik und schließlich in der Wirtschafts- und der Finanzpolitik viel zu weit auseinanderlagen. Die Zuspitzung erfolgte dann an der Frage, ob zur Finanzierung insbesondere des Ukrainekrieges die Schuldenbremse gelockert werden könne. Dafür hatte sich die FDP gerüstet und deren Verteidigung zu ihrem Markenkern auserkoren.

Dank der Recherchen der Wochenzeitung DIE ZEIT weiß die Öffentlichkeit nun, dass die Entrüstung Lindners über den von Scholz von langer Hand „inszenierten Rauswurf“ mehr als Heuchelei war, denn die FDP arbeitete seit Ende September an einem für sie vorteilhaften Ausstieg. Da Scholz ihnen da zuvorkam, stehen sie nun nicht als Opfer, sondern als entlarvte Täter da.

 

Beste Rede von Scholz

In seiner bisher besten Rede hat der Bundeskanzler dann erklärt, warum er Lindner vor die Tür setzte und damit die Ampelkoalition beendete. Er deutete zugleich an, was für ihn auch für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sei: es gäbe mit ihm keine Verlagerung der Kosten der äußeren Sicherheit (Ukrainekrieg) zu Lasten des sozialen Zusammenhalts. Für etliche sozialdemokratische Herzen war das sogleich der befreiende Auftakt für den kommenden Wahlkampf gegen den frischgekürten Kanzlerkandidaten der Union, der, wie kaum ein anderer, in sozialen Fragen seine Angriffsflächen bietet.

Eine Chance für Scholz, im Wahlkampf noch zu punkten, liegt genau dort, wofür er in der medialen Öffentlichkeit am intensivsten gescholten wird. Was die einen sein Zaudern und die anderen seine Besonnenheit nennen, wird in den zu erwartenden turbulenten Nahzeiten in der internationalen Politik vielleicht noch größeren Bevölkerungsteilen in einem anderen Licht erscheinen. Die Begeisterung für die Unterstützung des Freiheitkampfes der Ukraine gegen den Autokraten Putin für unsere Sicherheit ist – wie man seit den letzten Landtagswahlen im Osten weiß – auch bei der Union und ihren Wählern nicht unbegrenzt.

So gesehen schien für Scholz alles gelaufen und sein demonstrativ zur Schau gestellter Optimismus, Kanzler zu bleiben, denn die gegenwärtig eher gigantischen Abstände zur Union bei den Umfragen scheinen ihm eher Ansporn für das nahezu Unmögliche wie bei der letzten Wahl zu sein. Ob sich Geschichte so wiederholt, wissen wir alle nicht. Die Wählerschaft ist vieles, aber kaum berechenbar, und da können vermeintliche Kleinigkeiten wie ein Lächeln zur falschen Zeit bekanntlich schwerwiegende Folgen haben.

 

Ein eingehandeltes zusätzliches Problem

Doch neben dem bekannten negativen Image des Kanzlers als schweren Klotz am Bein eines ohnehin anstrengenden Wahlkampfes hat sich die SPD noch ein zusätzliches Problem eingehandelt. Gerade der ängstliche Blick auf die Umfragen birgt für etliche Genossinnen und Genossen auch Hoffnungen, denn an der Spitze der „beliebtesten“ Politiker steht ein nicht nur in Osnabrück geborener, sondern hier einst lebender und als Oberbürgermeister auch wirkender Spitzenpolitiker namens Boris Pistorius.

Dass ausgerechnet ein Verteidigungsminister – und nicht der Bundespräsident oder, wie sonst auch üblich, ein Amtsinhaber des Außenministeriums – der derzeit bestbenotete Politiker ist, und das in quasi Kriegszeiten, erklärt sich vielleicht zum einen durch die momentan nicht berauschende Konkurrenz in der politischen Entscheidungselite und zum anderen durch seine drei Amtsvorgängerinnen. Ihm kommt aber ganz sicher zugute, dass er das komplexe Gebilde Bundeswehr allem Anschein nach in kürzester Zeit einigermaßen „in den Griff“ bekommen hat und im Unterschied zu seinen Kabinettskollegen auch „geliefert“ hat.

Für die Genossenschaft in der SPD – und vor allem für die zahlreichen Bundestagsabgeordneten die aus doppelten Gründen um ihr Mandat zittern müssen: erstens wegen Verkleinerung des Bundestages und wegen der miesen Prozentaussichten der SPD – war nun der Gedanke offensichtlich verführerisch, angesichts des unbeliebten Amtsinhabers mit dem beliebtesten Politiker als Kanzlerkandidaten in den Wahlkampf zu ziehen, um wenigstens dadurch ein paar Prozentpunkte mehr herauszuholen. Dass Scholz das noch gelingen könnte, wird hier bezweifelt. So gesehen, war es eine schwierige Frage und Güterabwägung, ob Scholz unbedingt auch als Kanzlerkandidat antreten sollte.

 

Die Rolle von Umfragewerten – und offene Fragen einer Verortung

Der Ruf nach Pistorius folgte keinen politischen Inhalten. Entscheidend waren allein die Umfragewerte, denn außer seinen kurzfristigen Leistungen als Verteidigungsminister, seiner Beliebtheit auch bei den Soldaten und seinem klaren Kurs im Ukrainekrieg ist Pistorius als „Gesamtpolitiker“, der er als Kanzler werden muss, ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Sein politisches Markenzeichen ist sein Satz, die internationale Entwicklung verlange, dass Deutschland „kriegstauglich“ werden müsse, und das ist nicht gerade etwas, was Menschen zur Sozialdemokratie treibt. Als Kandidat wäre das für ihn mit Sicherheit eine schwere Hypothek geworden. Zu befürchten war eher, dass er damit weniger der AfD Stimmen zuführt, aber Rettungsringe für BSW und Die Linke ausbreiten würde.

Über seine Aufgabe als Verteidigungsminister hinaus ist von Pistorius wenig bekannt. Als Osnabrücker Oberbürgermeister und als niedersächsischer Innenminister hinterließ Pistorius den Eindruck eines Pragmatikers durch und durch. Durch wegweisende Ideen oder große Reformen ist er nicht aufgefallen. Zu den voraussichtlichen Hauptwahlkampfthemen, insbesondere der Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und auch Klimapolitik, die uns weiterhin beschäftigen wird, weiß man von ihm wenig bis nichts. Er wäre mit seiner Grundeinstellung im Kreis der konservativen Sozialdemokratie, also dem „Seeheimer Kreis“ wohl korrekt verortet.

Wer den ungeliebten Scholz durch den beliebten Pistorius als Kanzlerkandidat austauschen wollte, muss sich fragen lassen, ob Umfragewerte zum entscheidenden Kriterium für wegweisende politische Entscheidungen, die natürlich auch Personalentscheidungen sind, werden sollten. Und Pistorius wird der Frage nicht ausweichen können, warum er seinen Entschluss, nicht als Kandidat zu Verfügung zu stehen, erst verkündete, als die Beschädigungen dieser Debatte um die Kanzlerkandidatur nicht nur Scholz und die SPD, sondern auch ihn zu treffen begannen. Wenn sein Entschluss eh klar war, warum sah er dann dem schädlichen Treiben für alle so lange zu?

 

Die eigentlichen Probleme

Mit der Klärung der Personalie ist zwar dem Wahlkampf vorerst geholfen, aber das eigentliche Problem liegt tiefer. Nicht nur für die SPD. Denn die Personalnöte sind bei der Konkurrenz von der Union und den anderen Parteien auch nur übertüncht. Friedrich Merz ist kein „Menschenfischer“, auch er ist kein großer Reformer mit neuen Ideen. Alles, was er zur Krisenlösung anbietet, sind Rezepte von gestern. Zukunftsentwürfe sehen anders aus.
Aber hier wird auch ein großes Manko der SPD offenkundig, deren programmatische Erbschaft eigentlich Reformen für eine bessere Zukunft ist. Wenn die Krise, in der Deutschland steckt, nur halb so schlimm ist, wie sie momentan von Teilen der öffentlichen Meinung gemalt wird, sind tiefergreifende, in die Zukunft weisende Reformen erforderlich, die mehr Mut erfordern als ein paar Reparaturen an den eingefahrenen Wegen zu den immer gleichen Zielen. Aber das ist schon etwas, was jenseits der momentanen Kandidatenfrage anzusiedeln ist.

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5. Dezember 2024spot_img
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