Jahresausblick 2024

Folgt auf das Elend hinter uns nun ein weiteres Jahr des Elends vor uns?

Beim Rückblick kann man Ereignisse und Fakten interpretieren. Beim Ausblick bewegt man sich zwischen Orakeln, Spökenkiekerei, Prophetien oder bestenfalls begründbare Prognosen. Letztere erfreuen sich in der Sphäre der Wirtschaft großer Beliebtheit. Hier werden Geschäftsaussichten dargestellt und quantifiziert, gesamtwirtschaftliche Entwicklungen hochgerechnet und das alles natürlich unter konstant gesetzten Rahmenbedingungen. Nachdem hier in der OR Heiko Schulze das Jahr 2023 „gewürdigt“ hat, folgt auf das Elend hinter uns nun ein weiteres Jahr des Elends vor uns?


Womit wir rechnen müssen und können

Eine Entwarnung ist an der unmittelbaren Wirtschaftsfront zu erwarten. Die vor einem Jahr befürchteten gesamtwirtschaftlichen Einbrüche und vor allem die Engpässe in der Energieversorgung sind nicht eingetroffen. Das Volk musste weder frieren noch hungern, auch wenn manche Medien dies suggerierten. Zwar sind die Wachstumsraten leicht geschrumpft, aber einer auf Krise spekulierenden politischen Opposition könnte schon bald die Erfüllung negativer Wohlstandserwartungen abhandenkommen, wenn nicht nur faktisch, sondern – das wäre ihr worst case – auch „gefühlt“ die Bürgerinnen und Bürger sich außerhalb von Krise wähnen.

Um den Negativtrend der Ampel noch für einen politischen Machtwechsel nutzen zu können, müsste sich die ökonomische und politische Krise enorm zuspitzen. Aber da dürften sich, so die Prognose von hier aus, die CDU und CSU täuschen. Auch wenn eine Mehrheit des Wahlvolks nach Neuwahlen ruft, den Gefallen wird die Ampel dem Populus aus nacktem Eigeninteresse nicht tun. Existenzangst, Not und Elend schweißen sie zusammen. Keine der Ampelparteien sieht derzeit Luft nach oben, die FDP zittert an der fünf Prozenthürde ums politische Überleben und was Sarah Wagenknechts neue Partei, sollte sie denn kommen, in welchen Wählerschaften absahnt, bleibt vorerst ein Geheimnis. Grüne wie SPD verharren lieber im Koalitionsgefängnis mit der FDP, als zu Unbekanntem zu fliehen.

Wenn uns also eine vorgezogene Bundestagswahl erspart bleibt, so kommt eine sich weit nach rechts verlagernde Grundstimmung bei den drei Landtagswahlen im September (Sachsen, Thüringen und Brandenburg) mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Durchbruch. Sie könnten die Vorwegnahme einer schwerwiegenden politischen Krise werden, da hier auf Landesebene vorexerziert wird, was auch auf Bundesebene nicht mehr auszuschließen ist. Die AfD als stärkste – oder so starke – Partei kann nur noch durch eine Koalition aller demokratischen Parteien in Schach gehalten werden, um die Unregierbarkeit der Republik zu verhindern.

Spannend wird angesichts dieser leider sehr realistischen Konstellation die Frage, wie lange die „Brandmauer“ der Unionsparteien gegen rechts hält. Mit dem Entwurf ihres neuen Grundsatzprogramms hat die CDU sich nicht nur von ihrer Merkel-Episode verabschiedet, sondern sie hat eine Rolle rückwärts in einen „Merz-Konservatismus“ vollzogen, der sich in der Rehabilitierung der „Leitkultur“ offenbart und nicht nur die Flüchtlings- und Asyldebatte, sondern auch die Zuwanderungs- und Integrationsdebatte rückwärtsgewandt am Leben erhält. Das Schüren der Angst vor dem Fremden wird zur „Leidkultur“ und die Originale stärken.


Entscheidung über Europas Zukunft

Und das wird sich nicht auf Deutschland beschränken, sondern zu einem gesamteuropäischen Ereignis. Hier sind die Brandmauern schon durchlöchert. In realistischer Erwartung eines europaweiten Rechtsrutsches bei der Europawahl im Sommer dieses Jahres habe die konservativen Volksparteien unter dem Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber (CSU) schon vorgesorgt. Da die bisherige „große Koalition“ aus Europäischen Volksparteien (EVP) und Sozialdemokraten die Mehrheit wahrscheinlich verliert, wird sie von einem Bündnis oder Arrangement der EVP mit den gestärkten Rechtspopulisten abgelöst. Da werden sich allerdings auch so rechte Parteien ansammeln, für die „Populismus“ eine unzulässige Verniedlichung darstellt.

Damit wird auch Europa zu einer politisch schwer kalkulierbaren Masse in einer ohnehin turbulenten Zeit. Als gesichert darf von einem Ende des „Green New Deal“ ausgegangen werden, der bislang als Konsens in der Klimapolitik galt. Europas Rechte wird hier einen fundamentalen Wandel anstreben und die EVP hat schon in der jetzt ablaufenden Legislaturperiode zuletzt mit Blick auf das Wahlergebnis in den Niederlanden ihr Entgegenkommen signalisiert. Der zweite Schwerpunkt wird die Abschottung zur Bekämpfung der „Flüchtlingskrise“ sein und insgesamt eine Stärkung der Nationalstaaten gegenüber weitergehender politischer Integration. Uns blüht eine feste Burg Europa.

Die „Orbanisierung“ Europas ist zwar ein zu befürchtender Trend in Folge der Rechtsentwicklung, sie wird aber auch zu einem möglichen Sprengsatz im konservativ-rechten Lager. Denn die „Festung Europa“ bewegt sich weltpolitisch in einem extrem minenreichen Umfeld. Und da hält das Jahr 2024 einige Krisen, Kriege und wegweisende Ereignisse bereit, die im wahrsten Sinne des Wortes von entscheidender Bedeutung sind.

Dass Putin im Frühjahr „plebiszitär“ als Chef im Kreml bestätigt wird, darf als gesichert gelten. Wer nach dem 4. November als „alter weißer Mann“ im Weißen Haus sitzt, ist dagegen noch unsicher. Ein Come-back Trumps ist jedenfalls nicht auszuschließen. Käme es dazu, werden sämtliche weltpolitischen Karten neu gemischt. Erforderlich wäre ein starkes, geeintes Europa mit einem klaren Selbstverständnis seiner weltpolitischen Rolle. Aber was ist von einem „renationalisierten Europa“ als Antwort auf die neuen Herausforderungen zu erwarten? Ein Europa, das zudem noch gespalten ist in Ost- und West-, Nord- und Südeuropa, was sich am Krieg Israels gegen die Hamas und am Ukrainekrieg zeigt. Kann sich Europas Rechte mit Hilfe der Konservativen mit Trump und Putin auf eine neue Machtordnung verständigen, die für ein freies und demokratisches Europa akzeptabel wäre?

Hier gibt es ein Meer offener Fragen, das momentan noch begrenzt wird von der vagen Hoffnung, ein Sieg Bidens würde wenigstens das transatlantische Bündnis (im Kern die Nato) als den Eckpfeiler der europäischen Sicherheit erhalten. Da aber auch ein Sieg Bidens all das in der vertrauten Weise nicht mehr dauerhaft zu garantieren vermag, kommt Europa um eine Neu- und Selbstbestimmung seiner Rolle in der Welt, vor allem seinem Verhältnis zu China gar nicht herum.


Die Welt der Kriege

Zu den momentan drängendsten Fragen gehören die beiden Kriege, die wir als Erbmasse ins neue Jahr mitnehmen. Für den Krieg Israels gegen die Hamas kann man zwar davon ausgehen, dass Israel diesen Krieg militärisch für sich entscheidet, wobei offenbleibt, ob es einen Sieg im Sinne einer vollständigen Vernichtung der Hamas überhaupt geben kann. Sicher ist dagegen, dass die israelische Regierung keine dauerhaft tragfähige politische Lösung für die Zukunft hat, weder für den schon jetzt zu siebzig Prozent zerstörten Gazastreifen noch für das „Palästinenserproblem“ überhaupt.

Als ebenso problematisch, wenn nicht noch problematischer stellt sich die Lage vor der osteuropäischen Haustür im Ukrainekrieg dar. Hier gerät nach Hoffnungsschimmern im letzten Sommer, die „Ukraine könne den Krieg gewinnen“, nahezu alles ins Wanken. Momentan sieht es ganz danach aus, dass in der Ukraine das eintritt, was führende amerikanische Militärs schon vor über einem Jahr prognostizierten: Es droht ein langwieriger Stellungskrieg, der Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg wachruft. Die Ukraine kann mit mordernsten westlichen Waffen den Durchmarsch, vielleicht auch den weiteren Vormarsch Putins aufhalten oder sogar stoppen, aber für eine Gegenoffensive mit einer Rückeroberung der von der Ukraine reklamierten besetzten Gebiete durch Russland reicht es nicht. Ob das faktische Patt „technologisch“ mit immer mehr und moderneren Waffensystemen überwunden werden kann, oder ob die Grenzleistungsfähigkeit der Ukraine auf der Ebene der „Manpower“ erreicht ist, darüber streiten zwar die Experten noch, aber die Stimmen mehren sich dramatisch, dass die Ukraine ihr Limit erreicht hat. Selbst die politische Führung steht nicht mehr unangefochten da.

Nun droht zuvörderst ein Wettlauf gegen die Zeit, denn es muss verhindert werden, dass die Wahl in den USA allein über die Zukunft der Ukraine entscheidet. Sind aber kurzfristig bahnbrechende militärische Erfolge, die die Ukraine in eine günstigere Verhandlungsposition, das wäre maximal für einen Waffenstillstand, bringen könnten, nicht zu erwarten, dann droht ein kein Problem lösendes Agreement auf der Basis des Status quo, der alles weitere offenhält. Schlimmstenfalls muss die Ukraine vorher mit einem weißen Taschentuch winken und dann werden die Bedingungen mehr oder weniger von Putin diktiert.


Und wo bleibt das Positive?

Das ist bei nüchterner Betrachtung der politische Stand der Dinge. Über weitere bedrohliche und ungelöst sich auftürmende Probleme wie den forcierten Klimawandel gehen wir hier schweigend hinweg. Das erscheint gegenwärtig eher als ein hoffnungsloser Fall. Alle positiven Anzeichen, bis hin zu einer sich breit engagierenden Jugend, befinden sich auf dem Rückzug und tonangebend wird eine bislang schweigende Menge, die vielleicht sogar die Mehrheit stellt und die die Beweislast umdreht. Begründet werden müssen nun wieder Maßnahmen, die das Klima schützen und den Menschen „Verzicht“ abverlangen, nicht aber Verhaltensweisen, die nachweislich den Klimawandel forcieren.

Wir leben in einer Welt des Übergangs. Eine seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestehende (amerikanische) Weltordnung neigt sich dem Ende zu und eine neue ist noch im Werden. Insofern ist frei nach Hamlet die „Welt aus den Fugen“. Aber da wir ohne das Gute auch nicht gut leben können, kann man immerhin schon mal feststellen, dass es dem Feind des Waldes, dem Borkenkäfer, angesichts der (nervenden) momentanen Regenmengen dieses Jahr nicht so gut wie in der Vergangenheit gehen wird.

Ob wir uns in der schönsten Nebensache der Welt, dem Fußball, bei der Austragung der Europameisterschaft in diesem Sommer in Deutschland über ein erneutes „Sommermärchen“ freuen dürfen, ist derzeit zwar sehr zu bezweifeln, aber immerhin nicht völlig ausgeschlossen. Dagegen sehen lokal betrachtet die Chancen für den VfL, in der Zweiten Liga heimisch zu werden, reichlich mau aus, selbst wenn das Wunder des Glaubens liebstes Kind ist. Ein Abstieg in Würde wäre schon ein Erfolg.

Das einzig Positive für das Jahr 2024, das wirklich gesichert ist, ist ein ganz besonderes Jubiläum. Eine unbestrittene Lichtgestalt am Denkerhimmel feiert am 22. April ihren dreihundertsten Geburtstag: Immanuel Kant. Er war der Philosoph der Aufklärung und da wir in unserer krisengeschüttelten, chaotischen Welt nichts mehr brauchen als Aufklärung und Vernunft, kommt sein runder Geburtstag wie gerufen, denn er ist wieder einmal so aktuell wie schon oft. Wir werden ihm jedenfalls die gebührende Aufmerksamkeit schenken und an sein großes und großartiges Werk erinnern, um zu schauen, was sich daraus immer noch lernen lässt.

In diesem Sinne wünschen wir ein hoffentlich nicht ganz so trübsinniges neues Jahr 2024. Letztlich kommt nichts von allein. Was passiert oder auch nicht, hängt immer noch von uns, den handelnden Menschen ab und die Erkenntnis, was kommen könnte, beinhaltet ja die Chance, dass man genau die Self fulfilling prophecy konterkariert. Wir machen unsere Geschichte selbst und können uns dabei unseres Verstandes bedienen, das ist die erste wesentliche Lehre der Aufklärung.

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