Mit immer mehr Waffen Frieden schaffen?

Wohin treibt der Krieg in der Ukraine?

Kriege enden entweder mit einem „Siegfrieden“ oder einem Remis. Beim „Siegfrieden“ besiegt eine Seite auf dem „Schlachtfeld“ den Feind, der seine Niederlage anerkennt und zwingt ihm seinen Willen auf. Beim Remis kommen beide Kriegsparteien zu der Erkenntnis, sei es durch Einsicht der zu erwartenden Entwicklungen und Möglichkeiten oder durch faktische Erschöpfung, dass sich eine Fortsetzung der Kriegshandlungen nicht mehr auszahlt. Im Ukrainekrieg droht zwar die zweite Variante, aber noch wird auf die Hoffnung eines „Siegfriedens“ gesetzt. Deshalb ist das Wort „Verhandlung“ momentan noch gleichbedeutend mit „Kapitulation“. Die Frage ist, wie lange noch?

Die Militärbeobachter des Westens sind sich darin einig, dass Putins Russland sein eigentliches Kriegsziel, die „Rückeroberung“ der Ukraine für das russische Imperium, die „Befreiung der Ukraine von den Feinden Russlands“ mit militärischen Mitteln nicht erreicht hat und auch nicht erreichen wird. Er hat sich vor allem in der ukrainischen Bevölkerung getäuscht, die ihn nicht als „Befreier“ begrüßten, sondern als Okkupanten bekämpfen.

Während die Kriegsziele des Kremls sich momentan vernebeln, sind die ukrainischen fürs Erste klar definiert: Rückzug aller russischen Truppen aus dem Gebiet der Ukraine vor der Krimannexion 2014. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigt die Ukraine Waffen, und zwar auch Waffen, mit denen die Okkupanten aus dem ukrainischen Territorium zurückgeworfen werden können, also „Angriffswaffen“ zur „Vorwärtsverteidigung“. Für die westlichen Waffenlieferanten entstand hier eine politisch problematische Grauzone, die mittlerweile beseitigt wird. Auf „Kampfpanzer“ folgen nun „Kampfjets“ mit dem ukrainischen Versprechen, sie nicht auf russischem Territorium einzusetzen. Das könnte die Überschreitung der Demarkationslinie zur offenen Kriegsbeteiligung des Westens, der Nato sein, die man (noch) meidet. Waffentechnisch eskaliert der Krieg nahezu ungebremst, aber politisch will man ihn zugleich einhegen.


Hoffnungen auf „Frühjahrsoffensive“ und der „Zeitdruck“

Bis zu welchem Punkt der Westen – wenn wir hier zunächst von einer gemeinsam getragenen Strategie ausgehen – bereit ist, die militärischen Hoffnungen einer „Frühjahrsoffensive“ (die mittlerweile auf den Sommer vertagt werden muss) mit der Formel: „Putin darf nicht gewinnen und die Ukraine nicht verlieren“ zu unterstützen, ist keinesfalls klar erkennbar. Alle Hoffnungen richten sich auf eine erfolgreiche ukrainische Offensive, die so große Geländegewinne einfährt, dass sich eventuelle Verhandlungspositionen gegenüber Putin grundlegend verbessern. Ab wann das der Fall ist, bleibt Interpretationssache. Aber liegt die Interpretationshoheit allein bei der Ukraine?

Hier kommt ein gefährlicher Feind ins Spiel: die Zeit. Wie eingangs erwähnt steht der Krieg vor einer Entscheidung: Sieg oder Remis. Sieg heißt, eine Seite diktiert der anderen ihre Friedensbedingungen. Remis heißt entweder Verhandlungen oder ein sich lange hinziehender, schwelender „Dauerkonflikt“ mit mehr oder weniger militärischer Intensität oder eine Kombination beider. Diese letzte Variante dürfte als zweitbeste Lösung die Putin genehmste sein. Er kann damit innenpolitisch überleben. Alle sich möglicherweise auftürmenden Probleme in Russland können als Folge der „Kriegsführung“ der westlichen Mächte gegen Russland verarbeitet werden. Und im Kriegszustand in Permanenz wird es kaum eine erfolgreiche Opposition gegen den Autokraten geben. Sie kann mit wenig Aufwand als „fünfte Kolonne“ der äußeren Feinde liquidiert werden. Das funktioniert schon jetzt mehr oder weniger intensiv und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass es in Zukunft nicht mehr funktioniert und gilt sowohl für einen Widerstand in der Bevölkerung als auch für mögliche Opponenten innerhalb des Herrschaftsapparates. Zudem genießt Russland den Vorteil, dass der Krieg nicht im eigenen Land, sondern staatlich gesehen exterritorial stattfindet. Und Putin reicht es zunächst, wenn die Ukraine dauerhaft destabilisiert wird und nicht zur inneren Ruhe kommt. Wenn sie schon nicht „heim ins Reich“ geholt werden kann, dann soll sie wenigstens dem Feind nicht als reife Frucht in die Hände fallen, sondern als faule Kost.

Die Zeit könnte gegen Putin arbeiten, wenn das „Sanktionsregime“ des Westens gegen Russland wirklich die Folgen hätte, die man sich davon versprochen hatte. Momentan ist nicht erkennbar, dass die Sanktionen Russland in die Knie zwingen und ein Blick auf die gesamte Welt ist ernüchternd, denn der Kreml ist keinesfalls so isoliert, wie er hierzulande und im Westen allgemein gern gesehen würde. Es zeichnen sich ganz andere Tendenzen ab, denn große Teile der Welt sehen den Ukrainekrieg nicht als ihre Angelegenheit, sondern als europäisches Problem.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass „die Zeit“, also der Krieg als langwieriger Schwelbrand, aus dem es umso schwieriger wird herauszukommen, je länger er dauert und verlustreicher er wird, eher für Putin arbeitet. Die Ukraine wird weder die humanen noch die materiellen Ressourcen für einen langwierigen Krieg in ihrem Land aufbringen können und muss zudem eine „Ukrainemüdigkeit“ bei ihren Verbündeten befürchten.

Unter Zeitdruck geraten nämlich die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer. Und hier steht an erster Stelle die anstehende Präsidentschaftswahl des Hauptverbündeten USA. Auch Joe Biden hat kein Interesse, den Krieg mit in den Wahlkampf zu nehmen und egal wie die Wahl ausgehen wird, die Unterstützung für die Ukraine wird die USA mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf dem gegenwärtigen Niveau halten. Schließlich geht die amerikanische Bedrohungsanalyse von anderen, wichtigeren Herausforderungen aus, wofür China steht, was die Ukraine zu einem Nebenkriegsschauplatz degradieren könnte oder damit verbindet. Unüberhörbar sind die amerikanischen Delegationsversuche der „Verantwortung“ an die Europäer, konkret an Deutschland, das nun ganz allgemein „mehr Verantwortung“ für Europa übernehmen müsse. Dass bei unseren europäischen Nachbarn und EU-Partnern, die diese Parole übernehmen, weniger eine plötzliche Germanophilie ausgebrochen ist, als die simple Erkenntnis, dass nur Deutschland die materiellen Ressourcen der USA ergänzen und gegebenenfalls auch ersetzen kann, dürfte jedem wachen Beobachter offensichtlich sein.

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die zeitlichen Grenzen solcher Herausforderungen und Belastungen für die EU allgemein und Deutschland im Besonderen vorzustellen, die eine langwierige umfassende militärische und zivile Unterstützung der Ukraine mit sich bringt. Von den Kosten des Wiederaufbaus ist dabei noch gar nicht die Rede. Das alles sind langfristig gesehen schon strategische Vorteile Putins. Für seine nihilistische Strategie reicht eine Destabilisierung der Ukraine, die nicht zur Ruhe kommt und eine mögliche Destabilisierung der EU, die mit den Folgekosten absehbar überfordert wird und sich geografisch wie politisch spalten wird. Dass die Oppositionen in Europa dabei politisch die Gestalt rechtspopulistischer, autokratischer Ausrichtungen annehmen wird, ist absehbar.

Die Causa Putin ist noch zusätzlich ein Problem, weil unklar ist, ob seine Entmachtung eine Voraussetzung für eventuelle Verhandlungen ist oder nur eine erwünschte Folge. Denn auch das Kriegsziel der Ukraine, Rückzug aller russischen Truppen, ist zumindest indirekt mit der Person Putin verknüpft. Wenn man dem sattsam bekannten Lügenbold nicht trauen kann, stellt sich die Frage, mit wem sollten dann überhaupt Verhandlungen stattfinden? Wäre also ein Wandel im Innern Russlands die zusätzliche Voraussetzung für die Beilegung des Krieges?

Zwar bewegt man sich hier auf höchstspekulativem Terrain, aber hier trennen sich die Geister in einer sehr prinzipiellen Frage. Die eine Seite betont mit Verweis auf die russische Geschichte, die sich auch in der Sowjetunion fortsetzt, den „Untertanengeist“ des russischen Volkes, das nie längere Zeit unter „freiheitlichen“ sozialen und politischen Verhältnissen gelebt hat, einem Volk, dem Demokratie, Zivilgesellschaft und all die Errungenschaften einer offenen liberalen Gesellschaft unbekannte Erlebnisse sind. Hier ausgerechnet wegen des prinzipiell nicht unpopulären Krieges gegen die abtrünnige Ukraine einen grundlegenden Sinneswandel zu erwarten, grenze an Naivität. Aber, so könnten die Optimisten ins Feld führen, dieses in Unmündigkeit gehaltene und geknechtete russische Volk hat in der jüngeren Geschichte mehr Revolutionen veranstaltet als beispielsweise die Deutschen. Sicher, es waren die spontanen Eruptionen von 1905 und vom Februar und Oktober 1917, die da in der Erinnerung auftauchen, aber sie ereigneten sich in jener Dunkelkammer Europas, wo man dergleichen am wenigsten erwartet hatte.

Ob man auf die Wiederholung des nicht zu Erwartenden eine politische Strategie zur Überwindung des Krieges bauen sollte, beantwortet sich von selbst. Aber ohne an dieses Wunder, als des „Glaubens liebstes Kind“, drehen sich alle westlichen und ukrainischen Kriegszieldefinitionen und Transformationsprozesse zu Verhandlungen, Waffenstillständen oder gar Friedensverhandlungen im Kreis. Der Frage, was soll aus Russland werden, ist die große Unbekannte. Und das hat einen einfachen, aber tiefer liegenden Grund. Im öffentlichen Diskurs wird zunehmend deutlicher, was hier an dieser Stelle schon von Beginn des Konfliktes vertreten wurde, der Ukrainekrieg wird politisch erst klar erkannt, wenn man ihn als Teil des Kampfes um eine neue Weltordnung begreift.


Ukrainekrieg als Teil des Kampfes um eine neue Weltordnung?

Formell geht es im Ukrainekrieg um das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“.  Als völkerrechtlich anerkannter souveräner Staat hat die Ukraine das verbriefte Recht über seine innere Ordnung und seine außenpolitische Orientierung im Rahmen internationaler Regeln eigenständig zu entscheiden, dazu gehört auch die freie Wahl der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und Vereinigungen für die eigene Sicherheit und Wohlfahrt. Wohl auch um den Eindruck entgegenzutreten, die Ukraine führe einen „Stellvertreterkrieg“, wurde der Krieg zwar in einen erweiterten globalen Wertekonflikt zwischen Demokratie und Autokratie oder vergleichbare Dichotomien eingebunden, aber nicht unmittelbar als Teil eines Kampfes um eine neue Weltordnung. Auch weil dann geopolitische Interessenlagen einiger Akteure ins Spiel kommen, die sich mit den dominanten moralischen Kategorien nicht sofort vertragen.

Wie sich die Ukraine darin auch für ihre Zukunft selbst einstuft, gibt es offiziell keine klare Position, außer dass man als Teil des Westens in die EU und die Nato aufgenommen werden will. Welche Rolle der Ukraine dabei zufallen sollte, darüber gibt ein neues Buch Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen des an der Havard University lehrenden renommierten ukrainisch-amerikanischen Historikers Serhii Plokhy Aufschluss. Dass Bundeskanzler Scholz wegen seiner „blauäugigen“ Vermittlungsversuche bei Putin im Vorfeld des Kriegsausbruchs schlechte Noten bekommt, Biden dagegen gelobt wird für seine Erkenntnis, dass Russland eine Gefahr nicht nur für die Ukraine, sondern für die Welt darstelle und das Ziel sein müsse, es „so zu schwächen, dass es möglichst keine weiteren Kriege mehr führen“ könne, ist keine Überraschung. Das alles deutet Plokhy aber als Zeichen einer Wiederbelebung der Allianz aus der Ära des Kalten Krieges. In diesem Kontext wird Putins Krieg nicht als regionaler Konflikt in die Geschichte eingehen, sondern als der Beginn einer neuen Weltordnung. Die Ukraine wird mit einem enormen Blutzoll nicht nur die russische Vorherrschaft in Osteuropa beenden, sondern Putins Bestreben nach einer multipolaren Weltordnung konterkarieren, denn sein Aggressionskrieg habe die Welt in eine bipolare Struktur analog dem kalten Krieg katapultiert. Da stünden sich dann der vereinte Westen unter amerikanischer Führung, gestärkt durch die osteuropäischen Nato-Partner China und einem in die Bedeutungslosigkeit zurückfallenden Bündnispartner Russland gegenüber. Der Ukraine fällt im neuen Kalten Krieg die Rolle zu, die einst Deutschland einnahm.

Plokhy hat hier weniger die Teilung und die exponierte (bedrohliche) militärische Lage Deutschlands im Kalten Krieg im Visier, als die strategische politische Bedeutung, die insbesondere der BRD als „Frontstaat der freien Welt“ zukam. Desgleichen sich für die Ukraine zu erträumen, ist legitim, hängt aber an sehr weitreichenden Annahmen, die sich sehr schnell als Wunschdenken erweisen können.

Fakt ist, dass sich die Machtverhältnisse in den letzten dreißig Jahren, also seit dem Ende des Kalten Krieges und die damit verbundene bipolare Weltordnung erheblich verändert haben. An die Stelle der militärischen, genauer nuklearstrategischen Bipolarität trat zunächst eine unipolare, allein von der „einzig verbliebenen Supermacht“ USA dominierte Weltordnung, die ihre Relativierung vor allem durch den Aufstieg Chinas zu einer ökonomischen Weltmacht erfuhr. China begegnete den USA nicht auf der Ebene der nuklearen Rüstung, es wurde ein Machtfaktor durch seine ökonomische Entwicklung, der nun eine technologische folgt und die zunehmend sich auch militärischer Machtmittel für die Absicherung und Durchsetzung seiner politischen Ziele bedient.

Im Rahmen der Diskussion über die neue Weltordnung ist zu unterscheiden, ob es sich um Machtverschiebungen innerhalb der bestehenden Ordnung handelt, die man als eine regel- und auch wertebasierte Ordnung bezeichnen kann, die sich in der UN-Charta und im Völkerrecht ausdrückt und als „liberaler Internationalismus“ versteht oder um eine neue Ordnungsstruktur. Die machtpolitischen Gewichtsverlagerungen zu einer „multipolaren“ Ordnung auch innerhalb des bestehenden Regelwerks ist eigentlich unumstrittene Realität. Der G 7 Gipfel wie zeitgleiche andere mehr oder weniger regionale Treffen am letzten Wochenende zeugen von einer faktischen Umverteilung der Machtverhältnisse, die unter zusätzlicher Einbeziehung des „Globalen Südens“ eine Relativierung der Macht des „Westens“ dokumentieren.

Davon zu unterscheiden sind dezidierte Ambitionen von Akteuren, die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte regelbasierte Weltordnung durch ein System regionaler Großmächte mir Einflusszonen zu ersetzen. Anwalt dieses Modells ist Putins Russland, tendenziell auch China, das allerdings wegen seiner ganz anders gearteten ökonomischen Interessenlage durch die Integration in den Weltmarkt sich hier etwas weniger eindeutig positioniert. Gleichwohl zeichnet sich ab, dass der Westen als Verteidiger der bisherigen Weltordnung um diese kämpfen muss und Verbündete braucht, die er nicht mehr selbstverständlich hat. Der relative ökonomische Machtverlust des Westens und der Aufstieg Chinas bietet den Ländern des globalen Südens ganz andere Entwicklungsoptionen, die der alten Sowjetunion, die außer Militärhilfe nichts anzubieten hatte, als Herausforderer des Westens fehlten.

Hinzu kommt, dass die politische und kulturelle Strahlkraft des Westens global verblasst. Das westliche Lebensmodell stößt nicht nur aus ökologischen Gründen an die Grenzen seiner Universalisierbarkeit, es verliert vor allem im „Globalen Süden“ wie den aufsteigenden „Entwicklungsländern“ an Attraktivität, wozu die eigenen Identitätskrisen der westlichen liberalen Demokratien verschärfend beitragen. Der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte ist ein Indiz und Vorbote einer Systemkrise und des normativen Selbstverständnisses. Damit erscheinen Vorträge über Menschenrechte in weiten Teilen der Welt angesichts der Zustände in etlichen westlichen Ländern erst recht nur noch als Heuchelei und Doppelmoral für Zwecke politischer Machterweiterung. Wer den Zerfall der liberalen Weltordnung beklagt, der darf über die Krise und Fehlentwicklungen der liberalen Demokratien nicht schweigen. Dadurch, dass Putin ein Buhmann ist und China ihm zur Seite gestellt wird, wird die Situation – wie man unschwer registrieren kann und muss – nicht besser.

Solange der Westen nicht willens oder nicht fähig ist, sich selbst darüber klar zu werden, warum sein Vorbildprojekt der „liberalen Demokratie“ und seines Kapitalismus global immer weniger Faszination und Attraktivität ausstrahlt, wird der Versuch, die Welt in einen neuen ideologischen Konflikt zu spalten, wenig Erfolg haben. Die alten Kleider haben ausgedient und neue sind nicht in Sicht.

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