Rolf Wortmann: Die Zeitenwende oder kein Frieden in Sicht  

Zu den bisher bescheidenen Erfolgen des Bundeskanzlers Olaf Scholz gehört, dass er es mit dem Begriff der „Zeitenwende“ als Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine geschafft hat, das „Wort des Jahres“ kreiert zu haben. Nun sind „Zeitenwenden“ keinesfalls etwas Neues, denn was sich hier wendet, ist ja nicht das Abstraktum und ewige Rätsel der Zeit, vor dem schon Augustinus kapitulierte, weil er sie nicht fassen könne. Denn die Zeit an sich tut gar nichts.

Aber um solche schwierigen philosophischen Bemühungen ging es dem Kanzler auch nicht. Ihm war nach dem Ereignis vom 24. Februar lediglich klar geworden, dass hier etwas endet, was man gerne fortgeschrieben hätte und plötzlich alles ganz anders erscheinen lasse. Was sich zunächst mit der Aktualität des Krieges in der Ukraine am Rande Europas auf die außenpolitische Orientierung, die europäische Sicherheit und auf die kommende Weltordnung bezog, auf die Hoffnung einer Welt, in der man von „Freunden umzingelt“ ist, das erweitert sich mittlerweile mit der Ausdehnung und den Folgen dieses Krieges auf immer mehr Lebensbereiche zu einem grundlegenden Perspektivenwandel der Zeithorizonte.

Die Zukunft war ein Reich der Hoffnungen, eine Fülle von Möglichkeiten, die es zu nutzen galt. Probleme schienen lösbar. Alles konnte noch besser werden und wer glaubte, früher sei eben doch alles besser gewesen, lebte in einer falschen Welt. Aber um die vor uns liegende Welt des Fortschritts ist es nicht mehr so gut bestellt, der offene Horizont bezieht sich mit dunklen Wolken. Dass es nachwachsende Generationen besser haben werden, ist nicht mehr so sicher, mittlerweile wächst daraus eine andere Gewissheit, das sei einmal so gewesen und nun vorbei.

Den Verheißungen der Technik – und auf die stützen sich die meisten Erwartungen bei der Lösung der großen Menschheitsprobleme und sie erscheint in einer utopiefreien Welt am ehesten als die Quelle einer besseren Zukunft – steht nicht allein die mythische Büchse der Pandora gegenüber, in der immerhin die Hoffnung überlebt, sondern Säcke voller neuer Übel. Alles, was Zukunft und Fortschritt ausmacht wie Wachstum und Wohlstandsmehrung, verwandelt sich in apokalyptische Reiter, die Probleme wie den Klimawandel nicht lösen, sondern forcieren. Das gesamte westliche Zivilisationsmodell steckt in einer bedrohlichen Sackgasse. Von einer Zeitenwende solch biblischen Ausmaßes ist bei Olaf Scholz (noch?) nicht die Rede, aber auch unterhalb dieses Schreckensszenarios wird es ungemütlich.


Die politische Zeitenwende

Vor dreißig Jahren blickte die Welt, wenn auch getrübt durch den Rückfall in den archaisch anmutenden Bürgerkrieg in Jugoslawien, aber gestärkt durch die neu entstandene „Weltgemeinschaft“, die sich im Krieg gegen Saddam Husseins Annexion Kuwaits konstituierte, hoffnungsvoll in die Zukunft. Vorbei war die Zeit einer durch das Damoklesschwert der Atomwaffen der Supermächte gesicherten bipolaren Ordnung der Welt mit ihren bedrohlichen Rüstungswettläufen. Fortan konnte sich eine Weltgemeinschaft, bei allen Differenzen im Detail, den entscheidenden gemeinsamen Problemen widmen und durch Handel und Wandel die einstigen Gegner und Feinde zu Partnern mit allseitigen Gewinnerwartungen machen. Die ideologischen Gegensätze, der Systemkonflikt des Kalten Krieges war nach der gewaltlosen Implosion des Sowjetimperiums vollendete Vergangenheit.

Die siegreiche Seite, die nun einzigartige Supermacht USA und was sich zum Westen zählte, ereilte die Hybris der Macht, die mehr zufällig ein Amerikaner namens Francis Fukuyama voreilig mit der Verkündung des „Endes der Geschichte“ kurzfristig auf den Begriff brachte, weil nun die Suche nach der besten sozialen und politischen Ordnung für die gesamte Menschheit im siegreichen Modell des Westens gefunden sei. Marktwirtschaft, Rechtsstaat und liberale Demokratie heißt die neue Dreifaltigkeit.

Die Plausibilität dieser kühnen Prognose ergab sich primär aus dem überwältigen Erfolg dieses Modells in den vom unmittelbaren Zugriff des Sowjetimperiums befreiten Ländern, insbesondere in Mittel-, Ost- und Südosteuropa bis ins Terrain der ehemaligen UdSSR hinein. Den Zweiflern in der (alten) EU, ob die sich daraus ergebende Chance einer (Ost-) Erweiterung die Integrationskraft der EU überstrapaziere, stand als historische Mahnung deren Notwendigkeit gegenüber. Denn der hier zur Disposition stehende Raum, von uns Westlern sträflich verdrängt, hatte Europa schon einmal mit in eine Katastrophe geführt.  Diese nun wieder auferstehende Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer mit ihren vielfältigen schlummernden nationalen Konfliktlinien berge das gleiche explosive Konfliktpotenzial wie es sich im jugoslawischen Bürgerkrieg bereits andeutete. Was Jahrzehnte von Stalin und seinen Nachfolgern notfalls mit Gewalt zwangsbefriedet wurde, erlebte die Wiederauferstehung einer Geschichte, die sich wie ein Dampfkessel entlud.

All das war selbst schon das Resultat fataler Fehler der Pariser (Vorort-)Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg von 1919 bis 1922, deren Wiederholung galt es zu verhindern. Bekanntlich gelang es diesem Regelwerk nicht, das Versprechen des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen“ als Kern einer neuen Weltordnung zur Zufriedenheit der Betroffenen zu realisieren, und da sich mit der Wende 1990 auch keine neue „Europäische Friedensordnung“ abzeichnete, war eine Erweiterung der EU um alle beitrittswilligen Staaten aus dieser Region im historischen Kontext betrachtet eine nicht nur naheliegende, sondern eine geradezu zwingende friedenssichernde Strategie. Denn innerhalb des Regelwerks der EU ließen sich erwartbare Konflikte vielleicht nicht leichter, aber zumindest friedlicher lösen als außerhalb, wo sie in unmittelbarer Nähe zur EU diese ohnehin tangiert und beschäftigt hätten.

Zudem passte dieses Integrationsmodell in die allgemeine Einschätzung, dass es den vom Sowjetsystem befreiten Ländern mehr als um nationale Ehre vor allem um Wohlstandszuwachs ging und dafür bot die EU eine verheißungsvolle Option. Für das Sicherheitsproblem – für die betroffenen Länder eindeutig adressiert als eine Sicherheit vor einem als noch immer unkalkulierbar geltendem Russland – bot sich als eine sich ebenfalls öffnende NATO mit den USA als atomare Garantie- und Gegenmacht zur immer noch existierenden Atommacht Russland an.

Damit wurde ein wahrhaft konservativer Sicherheitsrahmen geschaffen, der im Westen alles beim Alten ließ, außer dass sich nun alles nach 0sten ausdehnte, Kosten verursachte und zugleich Gewinne einbrachte. Dem Bündnis ging allerdings etwas sehr Entscheidendes verloren, ein äußerer Feind. Das war zwar je nach Nähe das sich noch ganz diffus entwickelnde neue Russland, aber mehr in potentia als in actu. Die Bedrohung durch Russland war so weit entfernt, dass man ihm sogar eine Nato-Mitgliedschaft anbot. Das erschien Moskau dann doch der Niederlage zu viel und man begnügte sich mit einer „partnerschaftlichen“ Mitsprache im neu geschaffenen Nato-Russland-Rat.


Die Fehlkalkulation gegenüber Russland

Von einer einheitlichen Strategie des Westens gegenüber Russland kann man eigentlich nicht sprechen. Die Russlandpolitik der amerikanischen Präsidenten seit der Wende ließe sich bei allen Unterschieden vielleicht auf den Nenner eines mehr oder weniger dezidierten Desinteresses bringen. Im weltpolitischen Kontext spielte Moskau für die USA keine herausragende Rolle mehr, jedenfalls nicht, solange der russische Bär in seinem Käfig blieb und nicht durch Rückfall in neoimperiale Allüren Amerikas Interessen in der eurasischen Region negativ tangiert.

Diesen Luxus konnte sich die EU nicht leisten. Russland gehört seit Beginn der Neuzeit mit seiner riesigen Landmasse gleich zwei Kontinenten in großem Umfang an und schaut von sich aus seitdem in zwei Richtungen, die kulturell wie politisch immer wieder zu konfliktreichen Identitätsproblemen führten. Zwei Seelen wohnen in der russischen Brust, eine asiatische und eine europäische. Nie konnte – und kann – sich Russland für eine ganz entscheiden, weil es das eine ohne das andere Russland nicht gibt. Daraus folgt für Europa, dass Russland zumindest geografisch auch ein Teil Europas ist und mit diesem nicht sehr einfachen Nachbarn auch leben muss.

Hier war es vor allem Deutschland, das eine Strategie für ein neues Miteinander entwickelte, die man mit der Handschrift des heutigen Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier verbindet. Abseits einer dringend gebotenen Aufarbeitung dessen, was Deutsche im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion mit ihrem Vernichtungskrieg angerichtet haben, die heute mit dem Verweis auf die besonderen Opfer der Ukraine wegen ihrer vermeintlichen Einseitigkeit kritisiert wird, ging die deutsche Politik, getragen von Angela Merkel, davon aus, dass Russland durch Wohlstandgewinne zu pazifizieren wäre.

Dem lag die Einschätzung zugrunde, dass Russlands Schockzustand, seine Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit, die für die Ära Jelzin kennzeichnend ist, nicht von Dauer sein wird. Belegt wurde diese Vermutung durch das Auftreten des neuen Präsidenten Putins mit Beginn des neuen Jahrhunderts. Das Kalkül war, egal ob Putin schon ein Vertreter der nationalen und neoimperialen großrussischen Opposition ist oder nur deren gemäßigtere Variante, dass Russland vor allem an wirtschaftlichen Arrangements mit dem Westen interessiert ist. Da liege es in beiderseitigem Interesse, durch intensiven Handel komparative Kostenvorteile wie nach einem VWL-Lehrbuch zu realisieren. Also vergleichsweise billige russische Rohstoffe (Gas und Öl) gegen westliche Technologie zu beiderseitigem Nutzen zu tauschen. Die daraus resultierenden Wohlstandseffekte für Russland wären die Basis für einen möglichen Einstellungswandel in der russischen Bevölkerung, der Wohlstandgewinne höher gewichtet als nationale Ehre oder imperiale Träume, deren Realisierung teuer und unsicher sind. Platter ausgedrückt: Konsum ersetzt exzessiven Nationalismus.

Es mag sein, dass sich solch ein Effekt aus den deutschen Erfahrungen der jüngeren westdeutschen Vergangenheit erschließt. Denn für die frisch gegründete BRD war die eigentliche bestandsgefährdende Größe das Problem der Integration der über zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten und den neu aus der DDR hinzukommenden. Wäre die Integration dieser großen Bevölkerungsgruppe durch Wohlstandsgewinne, die den Wunsch einer Rückkehr in die Heimat zunehmend relativierten, nicht gelungen, kann man sich mit etwas Phantasie ausmalen, welche politischen und sozialen Herausforderungen sich ergeben hätten, wenn diese Massen ihr „Recht auf Heimat“ wie auch immer eingefordert hätten. Ob die Demokratie das überlebt hätte, darf man bezweifeln.

Was in Deutschland West gelang, das ging in Bezug auf das neue Russland offenkundig daneben. Die Strategie Pazifizierung durch Wohlstand scheiterte. Zwar stieg in Russland der Reichtum in den 2000er Jahren erheblich, aber regional wie sozial sehr unterschiedlich. Auch unter Putin blieben die Wohlstandseffekte in den oberen Etagen der Gesellschaft hängen, in die breiten Bevölkerungsmassen insbesondere auf dem Lande sickerten sie nicht durch. Das erklärt nebenbei aktuell, warum das westliche Sanktionsregime keine „Aufstände der Entbehrungen“ in der Bevölkerung hervorrufen. Da das Volk von dem zu erwartenden Wohlstand nichts erfuhr, konnten er auch nicht das schlummernde Streben nach nationaler Ehre und Größe ersetzen. Nicht zufällig begann Putin zur gleichen Zeit zunehmend nationale Gefühle zu bespielen, die, an vergangene Größe erinnernd, zum Gegenstand einer regelrechten Geschichtspolitik wurden. Aus einer ruhmreichen und prachtvollen großrussischen Vergangenheit wird ein neuer aggressiver Imperialismus entwickelt, mit einem traditionsorientierten kulturellen Sendungsbewusstsein, wo Russland im engen Verbund mit der Orthodoxen Kirche zum Retter eines christlichen Abendlandes gegen einen dekadenten und nihilistischen Westen aufsteigt.

Der Versuch, mittels eines Wohlstandstransfers kollektive Reputationsverluste zu kompensieren, scheiterte aber wohl nicht nur am fehlenden Sickerungseffekt, Der tiefere Grund des Scheiterns liegt darin, dass hier auf eine sehr westlich-angelsächsische Rationalität eines Utilitarismus gesetzt wird, für den es in der russischen Kultur auch der Gegenwart kein hinreichendes Pendant gibt.

Damit steht (nicht nur) die deutsche Außenpolitik vor einem Scherbenhaufen, der nach einer „Zeitenwende“ verlangt. Denn vorbei sind nun jene Zeiten, wo man glauben konnte, mit Wohlstand für alle – auch für den eigenen gleich mit – pazifizierend wirken zu können und nebenbei auch noch Wohlverhalten anderer notfalls mit Wirtschaftssanktionen erzwingen zu können. Putin hat mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine die Spielregeln grundlegend verändert. Gewalt auch als neuer Kult ersetzt den Tausch und der Krieg kommt als Mittel der Politik wieder zu seiner leidigen Ehre. Und die Antwort darauf kann nicht mehr allein die Diplomatie sein.


Abschreckung und der Ruf nach Verhandlungen

Am 24. Februar 2022 brechen mehrere Glaubenswelten zusammen. Die Vorstellung, bei Putin handele es sich um einen zwar unangenehmen, aber letztlich rational handelnden Akteur gerät in schwere Zweifel. Glauben kann man diesem Lügenbold nichts mehr. Die sozialdemokratisch inspirierte Idee einer „Gemeinsamen Sicherheit“ erleidet Schiffbruch. Putins Flucht in die Gewalt lehrt vorerst, Sicherheit gibt es nicht mehr mit, sondern nur noch vor und gegen Russland. An die Stelle von Entspannung und Diplomatie, Wandel durch Handel tritt wieder die militärische Abschreckung. Die hat zwar faktisch auch gerade versagt, denn sonst hätte der Angriff Putins ja nicht erfolgen können, aber das unterschlägt, dass das Rückgrat der Abschreckung, die atomare, erst dann greifen würde, wenn die Ukraine Mitglied der NATO wäre.

Damit, so befürchten nicht nur Vertreter der (alten) Friedensbewegung, falle man zurück in die Zeiten des Kalten Krieges, der Blockkonfrontation, entfesselter Aufrüstungsspiralen, die Unmengen Ressourcen verschlingen, die dringend an ganz anderen und wichtigeren Baustellen benötigt würden. Es gibt allerdings auch noch den Unterschied, dass statt eines kalten nun ein heißer Krieg unmittelbar vor unserer Haustür entfesselt wurde, der sich mehr und mehr als Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und ihre elementaren Lebensgrundlagen entpuppt. Um dieser Eskalation Einhalt zu gebieten, erschallen in verschiedenen Erklärungen Rufe nach Verhandlungen.

Abgesehen davon, dass hier offenbleibt, wer mit wem worüber verhandeln sollte, finden sich in den Diagnosen und Therapien dieser Ansätze tiefer liegende Probleme. Der Verweis auf die Gefahr einer Renaissance des Kalten Krieges zielt im Kern auf die Befürchtung einer Eskalationsdynamik bis zur ultima ratio, also dem Einsatz nuklearer Waffen. Ob das   lediglich „deutsche Ängste“ sind – wie vielfach behauptet wird – oder eine reale Gefahr, ist letztlich nicht entscheidbar. Die berechtigte Furcht ist, dass der Westen, die Nato durch die Eskalationsspirale vom Waffenlieferanten zur offenen Kriegspartei wird.

Jeneits der Atomkriegsgefahr übersehen die Verhandlungsforderungen, dass es sich bei Russland unter Putin nicht mehr um eine „Status quo-Macht“ – wie einst die UdSSR im Kalten Krieg – handelt, die ihre „legitimen“ Sicherheitsinteressen einklagt, die man dann in Verhandlungen eruieren und festschreiben könnte. Russland ist heute eine dezidiert „revisionistische“ Macht, deren Fernziel die Zerstörung der gegenwärtig immer noch von den USA dominierte liberale, regelbasierte Weltordnung ist und dafür die strategische Kooperation mit China sucht und gefunden hat.

Aktuell auf die Konflikte auf den südosteuropäischen Raum und das Schwarze Meer bezogen geht es für Russland in dieser Krisenregion um die Sicherung bzw. Ausweitung von Einflusszonen, wobei mit Erdogans Türkei und Serbien auf dem Balkan zwei weitere revisionistische Akteure nicht nur im Windschatten des Ukrainekrieges verstärkt in Erscheinung treten. Serbien beklagt die Benachteiligungen am Ausgang des Jugoslawienkrieges und Erdogan bastelt schon länger in Kooperation mit Putin in Richtung Naher Osten, vor allem in Syrien, an einer Expansionspolitik, die in den Fußstapfen des Osmanischen Reiches wandelt. All diesen Konflikten ist nach den historisch angelegten Analysen des  Politikwissenschaftlers Herfried Münkler gemein, dass sie in einem „postimperialen Raum“ stattfinden und Langzeitfolgen der misslungenen Friedenslösungen am Ende des Ersten Weltkrieges sind.


Die Wiederkehr der „Zwischenkriegszeit“?

Sucht man für die heutige Konstellation nach historischen Vergleichen, dann ist die Ära des kalten Krieges mit ihren klar abgesteckten Einflusssphären dafür äußerst ungeeignet. Münkler verweist dagegen auf die „Zwischenkriegszeit“ von 1919 bis 1939. Nimmt man die Summe der Pariser Vorortverträge als neue Weltordnung, deren organisatorische Form der „Völkerbund“ sein sollte, dann fehlte diesem Konstrukt ein „Hüter“, denn die Siegermächte Frankreich und Großbritannien waren dazu nicht mehr in der Lage, die USA zwar befähigt, aber mit dem Nein zum Völkerbundbeitritt nicht willens. Zwei große Mächte, das geschlagene Deutsche Reich und die Sowjetunion wurden gar nicht beteiligt und erst später in den Völkerbund aufgenommen. Zu diesen fundamentalen Schwächen kam noch, dass die Zahl der revisionistischen Mächte von Beginn an stärker war als die Status quo-Verteidiger der gerade geschaffenen Neuordnung und die Revisionisten noch zunahmen.

Die anvisierte neue Ordnung setzte ein neues Prinzip in die Welt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker. In den sehr einseitigen Verhandlungen von 1919/20, die das Erbe der drei bevölkerungsreichsten europäischen Länder des Deutschen Reiches, des russischen Zarenreiches und die Zerschlagung der Habsburger k.u.k. Monarchie in Versailles, St. Germain, Trianon, Neuilly und des Osmanischen Reiches in Sevres (1923 im Vertrag von Lausannes durch Kemal Atatürks Aberkennung eines eigenen Kurdenstaates revidiert) neu ordnen sollten, passte nirgends ein Volk in eines der neu geschaffenen Territorien. Damit waren permanente Nationalitätenkonflikte programmiert, deren gemeinsames Ergebnis das sukzessive Scheitern aller als Demokratie gestarteten Nationalstaaten war.

Nahezu alle mit dem Zusammenbruch der UdSSR 1991wieder auftauchenden Konflikte und Probleme haben hier ihren Ursprung. Die Implosion des Sowjetimperiums setzte zentrifugale Kräfte frei, die ein im Kern geschwächtes Russland nicht wieder auffangen kann. Aber sie kampflos preiszugeben, würde eine vollständige Umstellung des russischen Selbstverständnisses erfordern. So bleibt es vorerst ein Geheimnis, was genau Putins Ziele in der Ukraine sind, die Putin in einer Konferenz des Verteidigungsministeriums kurz vor Weihnachten als unverzichtbar ausgab und für deren Erreichung jedes erforderliche Mittel zur Verfügung gestellt werden soll.

Auf der anderen Seite erlebt die von den USA verkörperte Weltordnung einen Umbruch, denn spätestens seit Trumps Amtszeit ist Amerikas Führungsrolle nicht nur von seinen Fähigkeiten, sondern vom politischen Willen her in Zweifel geraten. Die zumindest im wirtschaftspolitischen Bereich auch unter Biden geltende Devise „America first“ verträgt sich nicht mit der bisherigen Rolle des „gutmütigen Hegemons“ eines liberalen Internationalismus und einer regelbasierten Weltordnung. Insofern ist diese „Weltordnung ohne Hüter“ eher ein Auslaufmodell im Übergang zu einer Neuordnung, die nicht allein einem Niedergang der USA, sondern zugleich dem zumindest ökonomisch kaum aufhaltbaren Aufstieg anderer Mächte, insbesondere Chinas geschuldet ist.


Die Interessenlagen und Verhandlungschancen im Ukrainekrieg

Blickt man auf die Politik der USA, dann erstaunt angesichts der permanenten Betonung der Herausforderung, die China als Rivale für die USA darstellt, welche Unsummen (bislang über 70 Mrd. Dollar) Washington in den Krieg der Ukraine gegen Russland investiert. Offiziell sind die amerikanischen Kriegsziele, die sich hinter den Souveränitätsgelöbnissen gegenüber der dafür federführenden Ukraine verstecken, so unklar wie die stets betonten Ziele Russlands in der Ukraine. Wo hier die Worte nichts hergeben, sprechen die Taten für sich.

Was immer die ursprünglichen Ziele Putins gewesen sein mögen, sie wurden offensichtlich nicht erreicht. Putin war nicht so dumm, klar überprüfbare Kriegsziele vorzugeben, um sie damit einer öffentlichen Erfolgskontrolle zu unterwerfen. Die Kriegshandlungen sprechen nicht dafür, dass es sich hier um einen klassischen Eroberungskrieg handelt. Der Kern der militärischen Angriffe zielt in Richtung Zermürbung der Zivilbevölkerung durch Zerstörung alltagsrelevanter Infrastruktur mit Focus auf die Energieversorgung, die für das Winterklima elementar ist. Bezweckt wird eine dauerhafte und nachhaltige Behinderung einer Rückkehr zu einer neuen Normalität, die auch einen Wiederaufbau des Landes ermöglichen würde. Kurzum: ein längerer Krieg, als Schwelbrand, der jederzeit hoch- und runtergefahren werden kann, bis die Bevölkerung nicht mehr kann.

Zudem kann mit einem langen Krieg darauf spekuliert werden, dass die Verbündeten sich wegen der unmittelbaren Kosten (die Republikanische Partei in den USA wäre der prominenteste Kandidat dafür) zurückziehen und andere wegen der innenpolitisch problematisch werdenden Folgekosten für Flüchtlinge, exorbitante Teuerungen der Lebensmittel- wie auch in der Energieversorgung, wozu nahezu die gesamte EU zählen könnte. Befürchtungen über die atemberaubenden Wiederaufbaukosten kämen erschwerend hinzu.

Auf der anderen Seite haben die USA schon Ende April in Person ihres Verteidigungsministers Lloyd Austin gegenüber polnischen Pressevertretern durchblicken lassen, was über das Ziel, dass die „Ukraine diesen Krieg gewinnen“ müsse hinaus erforderlich sei: „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie den Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“ Republikanische Politiker erklärten am Rande der Kongressrede des ukrainischen Präsidenten, eine langfristige Schwächung Russlands als Folge eines langwierigen Krieges käme den amerikanischen Interessen sehr entgegen.

Beide Großmächte spekulieren als Konfliktparteien darauf, die jeweils andere Seite durch einen langen Krieg in die Knie zwingen zu können und die Ukraine hofft darauf, durch eine Niederlage Russlands seine kompletten Ziele, die Wiederherstellung des Status quo ante, also vor der Krimannexion, erreichen zu können. Ein Ziel, das nach Aussagen eines führenden US-Militärs die ukrainische Armee aus eigener Kraft militärisch allerdings nicht erreichen könne. Nimmt man dies als Fakt, begibt sich die Ukraine mit ihren selbst gesetzten Kriegsziel in ein auch für sie existenzgefährdendes Risiko eines langen Krieges. Dann wird die Frage sein, wie lange hält das die Zivilbevölkerung durch?

Was aber kann man dann oder zuvor als Verhandlungsmasse einbringen? Ist ein Regimechanging in Moskau die Voraussetzung, also mindestens Putins Absetzung? Was kommt danach? Nirgends sind dort Tauben oder westlich orientierte politische Strömungen nennenswerten Umfangs sichtbar. Wohl dagegen nationalistische Imperialisten gegen die Putin eher als ein gemäßigter erscheint. Und wer hat den längeren Atem gegenüber seinen Bevölkerungen? In den USA sind in zwei Jahren Präsidentschaftswahlen, ist das der lange Zeitrahmen?

Die Summe der Fragen und Risiken zeigen, dass die sich aufdrängende einzige Option Abschreckung, d.h. Stärkung der militärischen Komponente, am Ende nicht ausreichen könnte für einen erträglichen Ausgang. Es werden sich Zeiten aufdrängen, die nach diplomatischen, nach politischen Lösungen schreien und da sind unvorstellbare Ideen Gold wert. Dem als atemberaubend zu bezeichnenden „Lernprozess“ der Grünen in den bellizistischen Realismus könnte bald die Notwendigkeit eines weiteren in die Wiederentdeckung einer Diplomatie folgen, wo nicht Werte die Fixsterne sind, sondern Lösungswege voller Kröten für mehr oder weniger alle Seiten.

Kriege mit Kriegserklärungen zu führen, ist zwar nicht mehr üblich. Aber die Kunst des Friedensschließens, weitere Kriege zu verhindern, bleibt die große Herausforderung der Diplomatie. Nicht nur wegen der Weihnachtszeit könnte man ihr einen klugen Satz Friedrich Schillers aus seiner Abhandlung „Anmut und Würde“ zur Maxime empfehlen: „Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder aufstehen, aber der versöhnte ist wahrhaft überwunden.“

(Quelle: Thomas Ludwig, NOZ-Ukraine-Briefing 25.4.2022 sowie „Ein Minister wird deutlich“ in „Frankfurter Rundschau“ v. 26.4.2022)

 

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