Mittwoch, 24. April 2024

Wohin treibt die militärische Eskalationsspirale im Ukrainekrieg?

Boris Pistorius signalisiert bedächtige Prüfung

Die Leopard 2 Geschichte ist noch nicht erledigt, auch das Treffen der Verteidigungsminister zur militärischen Unterstützung der Ukraine in Ramstein brachte nicht die von vielen erhoffte Entscheidung. Deutschlands neuer Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich bei seinem erzwungenen Sprung ins eiskalte Wasser der Weltpolitik nicht erkältet. Er signalisiert bedächtige Prüfung, was den üblichen Verdächtigen für schnelle und umfangreiche Waffenlieferungen an die Ukraine sicherlich nicht gefallen wird.

Völlig unabhängig davon, ob von den zur Debatte stehenden Kampfpanzern wirklich Sieg oder Niederlage der Ukraine abhängt, wie einige lautstarke Forderer signalisieren, stellen sich angesichts dieser wiederholten Waffenlieferungsdebatte mehr und mehr doch grundsätzlichere Fragen.

Wir haben uns ja mittlerweile an die täglichen Rufe der ukrainischen Führung nach militärischem Material gewöhnt. Diese Routine trübt bei manchen den Blick auf eine scheinbare Kleinigkeit. Die Forderungen beziehen sich nicht nur auf Mengen, sondern insbesondere auf die strategische Qualität der Waffensysteme. Sie müssen dem deklarierten Kriegsziel der Ukraine dienen und das heißt, Rückzug der Russen aus dem Gebiet der Ukraine wie es 1991 mit der Unabhängigkeit konstituiert wurde. Oder anders formuliert: Rückkehr zum Status quo ante vor der Krimannexion.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss von Russland besetztes bzw. kontrolliertes Gebiet zurückerobert werden. Damit ändert sich die militärische Strategie, es geht nicht nur um Abwehr, sondern auch um Angriff auf russische Besatzungstruppen auf ukrainischem Boden. Da aber Raketenangriffe auf die Zivilbevölkerung und die „kritische“ Infrastruktur auch vom russischen Boden aus erfolgen, liegt es nahe, sich gegen diesen Terror nicht nur durch Luftabwehrraketen zu schützen, sondern diese ferneren Stellungen dort auszuschalten, von wo aus sie ihr mörderisches Werk inszenieren.

Das alles ist Teil einer Kriegslogik, gegen die der mehr oder weniger gesunde Menschenverstand nichts einwenden kann. Ihr folgen die bekannten Politiker nicht nur der Opposition aus der CDU/CSU, sondern auch lautstark einige Ampelpolitiker wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP, der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Anton Hofreiter von den Grünen, Vorsitzender des Entwicklungsausschusses sowie Michael Roth von der SPD, der dem Auswärtigen Ausschuss vorsteht.

Flankiert werden die Aufrüstungsforderungen an die Bundesregierung auch durch einige Verbündete. Polen will Leopard 2 an die Ukraine explizit mit dem Hinweis liefern, damit andere unter Druck zu setzen, wobei der Adressat hier nicht zu verschweigen ist, es handelt sich bekanntlich um die deutsche Bundesregierung, genauer dem Bundeskanzler, dem Zaudern und Zögerlichkeiten nachgesagt werden. Frankreich und exponiert Großbritannien beteiligen sich an diesem Lieferwettbewerb von Kampfpanzern ebenfalls mit dem Argument, Druck ausüben zu wollen. Der Wettlauf der Bündnispartner bei der Lieferung auch „offensiverer“ Waffen, die noch vor Monaten als „rote Linien“ deklariert wurden, um zu verhindern, als Kriegspartei zu erscheinen, scheint nun freigegeben zu sein. Dem liegt eine Einschätzung zugrunde, die der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen auf die Formel bringt, dass Verhandlungen wegen der völlig konträren Ziele der Kriegsakteure Russland und Ukraine vorerst nicht möglich sind und sich folglich die Bereitschaft zu Verhandlungen nur aus den Erfolgen auf dem Schlachtfeld ergeben kann.

Auch das klingt alles sehr logisch. Diese Einschätzung der Situation erhält eine optimistische Nahrung dadurch, dass die medial wirksamen Einschätzungen der militärischen Lage auf dem Schlachtfeld von den auserkorenen Experten eine einheitliche Richtung aufzeigen. Und die lautet momentan, die Ukraine könne aus eigener Kraft die russischen Aggressoren vertreiben, wenn nur genügend dazu erforderliches (Offensiv-)Material von den Verbündeten zur Verfügung gestellt würde. Nur so könne verhindert werden, dass Putins Russland auf die Idee käme, die ganze Aktion habe sich für sie ausgezahlt.


Die Risiken der militärischen Eskalation

Es entfällt in der sich abzeichnenden Eskalationsdynamik die Unterscheidung in Offensiv- und Defensivwaffen. Denn Offensivwaffen brauche man auch zur Verteidigung und das heißt, die Vertreibung des Aggressors vom eigenen Territorium. Aber dennoch werden bei bestimmten Waffensystemen „rote Linien“ eingehalten. Wie begrenzt die militärische Souveränität der Ukraine faktisch ist, zeigt die materielle und damit politische Abhängigkeit von ihrem Hauptwaffenlieferanten USA. Der liefert keineswegs alles, was die Ukraine wünscht – und vielleicht für ihre Ziele auch benötigt. Angesichts der Gefahren einer Vermischung von Defensiv- und Offensivwaffen für die Ausdehnung des Krieges und dem damit verbundenen Risiko, offiziell Kriegspartei zu werden, beobachten die USA die Aktivitäten der Ukraine mit Argusaugen. Washingtons Reaktion auf die vorschnelle Behauptung der ukrainischen Regierung, die Rakete, die Ende Oktober 2022 in Polen niederging, sei eine russische, zeigte sehr deutlich, wie sehr man solche „Zwischenfälle“ fürchtet. Vergleichbare Fälle scheinen sich zu mehren.

Folgt man dagegen der ukrainischen Kriegsziellogik, dann sind die bisherigen Restriktionen kontraproduktiv. Aber abhängig vom weiteren Kriegsverlauf werden dann auch die Beschränkungen für die Lufthoheit über die Ukraine bis hin zum – man muss es als ultima ratio mal benennen – Einsatz von Nato-Bodentruppen unsinnige Tabus, weil irgendwann der Ukraine die Man-power ausgehen wird. Nach Einschätzung einiger Beobachter wesentlich früher als Russland.

Die „roten Linien“ werden aber dennoch gezogen, weil dahinter dann nur noch die abschreckende Wirkung einer nuklearen Eskalation steht.  Die internationale Reaktion auf Putins Nukleardrohungen, die für etliche entschiedene KämpferInnen ohnehin nur Bluff sein konnten, hat die faktische Bereitschaft zu einem solchen Schritt wahrscheinlich reduziert. Dennoch ist die Nonchalance mit der die Furcht vor einer nuklearen Eskalation von verbündeten Staaten, vorzugsweise im Baltikum und Polen, aber auch in Deutschland von Frau Gören-Eckardt bis zum Ex-Bundespräsidenten Gauck wie in etlichen Medien als die übliche „German Angst“ pathologisiert und mit dem perfiden Hinweis herunterspielt wurde, damit bespiele man Putins Narrative und mache sich zu seinem nützlichen Idioten, erschreckend und beängstigend zugleich.

In dieser kruden „Freund-Feind-Logik“ werden reale Gefahren einfach ausgeblendet oder sie sind – fast noch schlimmer – den Akteuren nicht bekannt. Was sich im „Ernstfall“ abspielt, wenn die Nato angegriffen wird, kann man sich aus der bis heute gültigen Nato-Verteidigungsstrategie der „flexible response“ zusammenreimen. Und die hat im Extremfall speziell für Deutschland ein paar unangenehme Konsequenzen im Gepäck, die wir nach wie vor hoffentlich nie in Erfahrung bringen.

Wer also die deutschen Befürchtungen als „German Angst“ neurotisiert, hat sich wohl nie die durchgespielten Szenarien vergegenwärtigt, die aus diesen strategischen Fakten resultieren. Insofern ist es nicht folgenlos für unsere eigene Sicherheit, ob und wieweit man der inhärenten Kriegseskalationsstrategie der Ukraine folgt. Deren Interesse, die Nato zur Kriegspartei zu machen, ist aus ihrer Lage und Sicht verständlich und die Chuzpe, mit der der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow am 13. Januar 2023 gegenüber der BBC erklärte, faktisch sei die Ukraine doch schon Nato-Mitglied und werde es bald auch de jure, ist absehbar kein frommer Wunsch mehr. Es mehren sich – bis hin zu Henry A. Kissinger beim Weltwirtschaftsforum in Davos – einflussreiche Stimmen, dass eine Nato-Mitgliedschaft als allein denkbarer dauerhafter Schutz für die Ukraine unabdingbar sei.


Alternative Einschätzungen des Kriegsverlaufs

Die Frage in diese Richtung stellt sich aber wohl kaum vor einem wie auch immer gearteten Sieg der Ukraine. Und dessen Chancen hängen in der öffentlichen Meinungsbildung sehr stark von Grundannahmen ab, die sich überwiegend auf Experten stützen, die als Beobachter zu ganz anderen Erkenntnissen kommen, als militärische Amtsautoritäten. So kommt der US-Generalstabschef, also der ranghöchste Militär der USA, Mark Milley laut der New York Times vom 10. November 2022 zu dem Ergebnis, dass ein militärischer Sieg der Ukraine so wenig zu erwarten sei wie umgekehrt ein russischer. Er zieht vielmehr Parallelen zum Stellungskrieg im Westen während des Ersten Weltkrieges. Es drohe in der Ukraine ein langwieriger Abnutzungskrieg, der Verhandlungen bei weiter steigenden Verlusten und Zerstörungen immer unwahrscheinlicher macht. Die von Nobert Röttgen und vielen anderen auf dem Schlachtfeld geforderten Gewinne durch Aufrüstung der Ukraine, um Putin oder seine Erben an den Verhandlungstisch bei Vorteil der Ukraine zu zwingen, liefe dann wie im Ersten Weltkrieg an der Westfront in ein endloses Gemetzel mit ungewissen Ausgang hinaus.

Eine Einschätzung, die übrigens vom Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, dem ranghöchsten Militär Deutschlands, geteilt wird. Er davor warnt, die regional begrenzten Erfolge der ukrainischen Armee im Sommer zu überschätzen. Man könnte diese ganz andere Kriegsverlaufsdiagnose noch erweitern um den ehemaligen Militärberater Angela Merkels, dem Ex-Brigadegeneral Erich Vad, der wegen seiner „abwegigen Einschätzungen“ medial schon in die Abteilung einer fünften Kolonne Moskaus gerückt wurde. Er beklagt zusätzlich eine fehlende politische Gesamtstrategie, denn die Ausrede, es liege allein in der Souveränität der Ukraine über die Kriegsziele und annehmbare Friedensverhandlungen zu entscheiden, gehe an dem politischen Faktum, dass es sich hier längst um einen Stellvertreterkrieg handele, bei dem es (auch oder vor allem?) um die geopolitische relevanten Einflusszonen in der Schwarzmeerregion gehe, vorbei.

Vad erinnert zudem daran, dass Verhandlungen mit Putin offensichtlich nicht völlig unmöglich sind. Neben dem Getreideabkommen verweist er auf die Friedensverhandlungen kurz nach Kriegsbeginn Ende März bis Anfang April 2022. Hier bleibe unklar, woran die eigentlich gescheitert seien. Letzteres ist zwar in der Tat nach wie vor etwas nebulös, spielt aber in der politischen Unterhaltungsindustrie, Talk-shows genannt, keine Rolle. In der Januar-Ausgabe von „Le Monde diplomatique“ schreibt Hélène Richard unter dem Titel „Ukraine: Was wollen die USA?“ dazu, die Ukrainska Pravda vom 5. Mai 2022 zitierend:

„Die westlichen Alliierten traten auf die Bremse, als die Ukraine mit Russland sprach und im Gegenzug für Sicherheitsgarantien die eigene Neutralität anbot. Als am 9. April der britische Premierminister Boris Johnson überraschend die Ukraine besuchte, war klar: London und damit auch Washington, als dessen Gesandter er auftrat, lehnten solch eine Konzession gegenüber Putin ab.“

Danach wurden die Verhandlungen auf die Arbeitsebene zurückgestuft und am 13. April für gescheitert erklärt. Zur Erinnerung: Nach dem Einmarsch der Russen boten die USA der ukrainischen Führung zunächst die Flucht ins Exil an, weil sie militärischen Widerstand für sinnlos hielten. Nach dem überraschenden Rückzug der russischen Truppen aus den Vororten Kiews legte Washington den Schalter um und begann mit einer großangelegten militärischen Aufrüstung der ukrainischen Armee.


Was zu erwarten und zu befürchten ist

Seitdem hängt die ukrainische Kriegsführung und damit auch deren Politik allein von den USA ab. Dazu gesellt sich die vollständige sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA, deren weitreichenden Folgen noch gar nicht thematisiert werden. Umso wichtiger und aktueller wird die Frage, wie sich die USA künftig verhalten werden. Joe Biden kann zwar die die Zwischenwahlen mit dem Gewinn der (sehr knappen) Mehrheit im Senat und dem relativ knappen Verlust der Mehrheit im Repräsentantenhaus entgegen den Erwartungen als relativen Erfolg verbuchen. Aber die signifikante Schwächung Trumps heißt ja nicht, dass ein möglicher Sieg der Republikaner in zwei Jahren auch Kontinuität in der Außenpolitik in Bezug auf die Ukraine bedeutet. Es zeichnet sich ab, dass Waffenlieferungen im bisherigen Umfang von dort nicht zu erwarten sind, mittlerweile gibt es auch bei den Demokraten erste Risse, was bei einem Szenario eines langwierigen Abnutzungskrieges abenteuerliche Probleme aufwirft. Folgt dann ein Strategiewechsel oder müssen die Europäer Amerikas Rückzug kompensieren? Aber wie und womit sollte das geschehen?

Wenn die Republikaner die außenpolitische Strategie wieder dort ansetzen, wo Biden wie Obama begonnen hatten, nämlich in China die eigentliche „Herausforderung“ für die amerikanische Weltmachtstellung zu sehen, dann kann man Russland als Chinas neuen strategischen Partner und Alliierten zwar als Teil des zu bekämpfenden Feindes betrachten. Aber wenn dieser Nebenkriegsschauplatz zu viel Ressourcen verschlingt, dann besteht die Gefahr, dass China nicht der ewig lächelnde, sondern der lachende Dritte in diesem globalen Konflikt wird, in dem der Krieg in der Ukraine immer offensichtlicher zu einem Stellvertreterkrieg um die Neuordnung der Welt wird.

Absehbar ist, dass Biden unter Zeitdruck gerät. Er muss den Ukrainekrieg im eigenen Interesse möglichst schnell zum Ende bringen, denn ein Wettlauf mit der Zeit bei einem Abnutzungskrieg läuft nicht zwingend gegen Putin. Seine relative Sicherheit im Innern bringt ihm trotz aller Probleme als Folge der Sanktionen wahrscheinlich unter geringeren Handlungsdruck als sein amerikanisches Pendant. Washington hat zwar sicherlich mehr Ressourcen für einen langen Stellvertreterkrieg, aber nicht die Zeit.

Für Europa sollte daraus folgen, dass man hier Diplomatie und Verhandlung nicht mehr sofort mit Kapitulation vor dem Feind gleichsetzt. Den jetzigen Hardlinern könnten schon sehr schnell die Argumente und die von den USA geliehene Macht ausgehen, wenn das gerade wiederauferstandene Werk der transatlantischen Allianz und der Einheit des Westens Risse bekommt. Außer für die FDP, die in Taiwan schon Beistandsübungen für dort erwartete Konflikte absolviert, ist die einheitliche Linie zum großen Show-down mit China weder in Europa noch in Deutschland schon entschieden. Vorher wäre es schon hilfreich, wenn es zu einer Gesamtstrategie im Ukrainekrieg käme.

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