Wortmann wortwörtlich: Das Ende einer Ära. Anmerkungen zur Kanzlerschaft Angela Merkels

Nach sechzehn Jahren als Bundeskanzlerin verlässt Angela Merkel die politische Bühne

Allein die Dauer ihrer Amtszeit begründet eine Ära. Als erste Frau in diesem Amt ist sie die dritte im Kanzleramt für die CDU, die nach Konrad Adenauer (1949-1963) und Helmut Kohl (1982-1998) über einen langen Zeitraum das politische Machtzentrum (West-)Deutschlands besetzte. Aber anders als Adenauer, dessen Rücktritt schon 1961 vom Koalitionspartner FDP zur Bedingung für ein Regierungsbündnis erzwungen wurde und Helmut Kohl, der 1998 von der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder abgewählt wurde, verzichtete Angela Merkel schon vorher aus freien Stücken auf eine weitere Kandidatur.

Mit Adenauer verbindet man die prägende Westintegration der Bundesrepublik. Mit Kohl die deutsche Einheit. Aber was verbindet sich mit ihrem Namen. Wirtschaftlicher Wohlstand, innere Stabilität und Krisen. Letztere gab es reichlich. Erst die Finanz- und Eurokrise, dann die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 und die Covid-Pandemie. Der Bogen der krisenhaften  internationalen Politik reicht von 9/11 bis zum gegenwärtigen Afghanistandesaster. Er umfasst die Turbulenzen der amerikanischen Außenpolitik unter George W. Bush und Donald Trump mit der Zwischenphase des transatlantischen Darlings Barack Obama.

Nimmt man die herrschenden Bewertungen, dann war es Merkel, die „Krise konnte“ – wie es im schlechtesten Deutsch heißt. Die studierte Physikerin wird überhäuft mit dem Lob der Unaufgeregtheit, einer ruhigen und besonnenen Krisenmanagerin, sei es mit Putin oder in den leidigen EU-Feilschereien. Angeblich dachte sie alles vom Ende her. Wie sie das genau macht, entzieht sich zwar genauerer Kenntnis, aber gemeint ist wohl, dass sie die Konsequenzen und Folgen von Handlungen und Lösungen stets im Blick hatte.

Wo sie da wirklich krisenlösend tätig war, bedürfte einer genaueren Prüfung. Nicht immer ist erkennbar, was eigentlich ihr eigenes Ziel dabei gewesen ist. Wer zuvor keine Ziele formuliert, kann nahezu jedes Verhandlungsergebnis als Erfolg verbuchen. Womit man an einem wunden Punkt wäre. Selbst ihre größten SchönschreiberInnen haben ihr noch nie die Gabe zugeschrieben, große oder gar beeindruckende Reden halten zu können, geschweige denn so etwas wie Visionen oder Zukunftsperspektiven für die politische Orientierung formuliert zu haben. Das Wesensmerkmal ihrer Politik hieß verwalten, nicht gestalten.  Zukunft zu gestalten verlangt Vorstellungen oder Visionen und da entpuppt sie sich als Schülerin Helmut Schmidts,  der Leuten mit Visionen bekanntlich den Gang zum Arzt empfahl.

Merkel verkörpert den Prototyp eines technokratischen Pragmatismus. Ihr Leitbild in der Europapolitik war letztlich die Wettbewerbsfähigkeit, in ihrer neoliberalen Anfangsphase sprach sie mal programmatisch von der „marktkonformen Demokratie“. Der Rest war eine elastisch angepasste Regierungspolitik je nach Koalitionserfordernissen. Das Wahlprogramm reduzierte sich auf die Raute mit dem legendär gewordenen Spruch: Sie kennen mich!

Hat jemand schon mal mit weniger Inhalten Politik gemacht?

Aber die berechenbare Angela konnte auch ganz anders. Erst stieg sie mit der FDP aus dem Atomausstieg aus und erklärte die Atomkraft ganz sachlich zur unabdingbar notwendigen „Brückentechnologie“. Diese richtungsweisende Entscheidung hielt nur bis zu der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Gemäß ihrer asymmetrischen innenpolitischen Konfliktstrategie musste den Grünen ein brandgefährliches Thema rechtzeitig genommen werden. Diese prophylaktische Entfernung von inneren Konfliktstoffen hatte den Vorteil, Spannungen aus dem Parteienstreit zu nehmen. Zwar wurde weiterhin jede Wahl zu einer Richtungswahl hochstilisiert, aber Themen, die die Konkurrenz mobilisieren könnten, wurden vorher entschärft.

Dass dabei die politische Identität ihrer eigenen Partei nicht nur manchmal, sondern nun an ihrem Ende offenkundig entleert wurde, ist der Preis dafür. Die Devise hieß: Wichtig ist nicht wie wir regieren, sondern das wir regieren! Das Kanzleramt war die Macht um die es ging und geht, wofür wird zweitrangig. Aber es gab Essentials für Merkel. Die Grundelemente neoliberaler Wirtschaftspolitik – Zentralbegriff dafür war die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas in einer globalisierten Welt – wurden nie programmatisch verkündet oder gar begründet. Der Weltmarkt war (und ist) der allem vorausgesetzte Handlungsrahmen aus dem sich jene Sachzwänge ergeben, die Entscheidungsspielräume vorgeben innerhalb derer die Wahl technisch beste Wahl für vorgegebene Zwecke erfolgt. Was diesem Diktum nicht folgt, ist Ideologie. So lassen sich die konkreten Entscheidungen, die aus eben dieser Wirtschaftsideologie mit ihren „Sachzwängen“ folgen, schlicht als „alternativlos“ deklarieren.

 

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Jenseits dieses Fundamentes kann man bei Merkel kaum weitere Prinzipien erkennen. Außenpolitisch wurde zwar über Menschenrechte, vorzugsweise gegenüber Russland und China in der deutschen Öffentlichkeit eifrig gesprochen, aber kein Handels- oder Wirtschaftsabkommen ist daran gescheitert.

Als nun am Ende ihrer Amtszeit ihr noch die Folgen des Afghanistaneinsatzes, der sie in sechzehn Jahren nicht besonders interessiert hatte, auf die Füße fielen, tat sie zunächst das, was sie einem Kommentator der Frankfurter Rundschau zufolge am liebsten tut: gar nichts. In Krisen nicht vorpreschen, sondern abzuwarten wie sich die Dinge entwickeln, das ist ihr Markenzeichen.

Auch hätte man gern einmal eine Erklärung von ihr gehört, wie sie ihre Unterstützung im März 2003 für den Irakkrieg – und ihre in den USA verkündete Kritik an Schröders Nein – heute sieht. Merkwürdigerweise fragt sie in unserer Öffentlichkeit niemand danach. Immerhin hat sie als Kanzlerin die Folterkammer Guantanamo gegenüber der Bush-Administration öffentlich kritisiert.

Ganz großzügig verfuhr Merkel in jenem Themenkreis, der den konservativen Kern der Union am härtesten traf, die kulturellen Modernisierungen. Beispielhaft dafür ist die gleichgeschlechtliche Ehe, die im Sommer 2017 kurz vor der Bundestagswahl  als eine mögliche schwere Bürde für spätere Koalitionsverhandlungen, wo die Union nur verlieren konnte, ohne störende Debatte kurz und einfach weggeräumt wurde. Was auf Grund gesellschaftlichen Kulturwandels und als kosmopolitisches Beiwerk der Globalisierung (Gender, Leitkultur, nationale Identität, Multikulturalität etc.) als nicht zu verhindern eingeschätzt wurde, wurde geräuschlos als normative Kraft des Faktischen durchgewunken. Keine dieser kulturellen Erneuerungen war eine Erfindung der Union oder überhaupt erwünscht. Paradoxerweise ließ Merkel die schleichende Kulturrevolution im Gefolge der von ihr nicht gerade geliebten 68er einfach passieren. An Kulturkämpfen war Merkel nicht interessiert, da war auch nichts, was sie als Wertekonservativismus hätte verteidigen können. So wurde sie zur Verkörperung eines „progressiven Neoliberalismus“, der soziale Ungleichheit mit individualisierter kultureller Emanzipation verknüpft. Zum Problem wurde dieses lange missachtete Themenfeld erst, als mit dem mehrheitsgefährdenden Aufstieg der AfD offenkundig wurde, dass der konservative „Werteverlust“ der Partei die rechte Flanke frei gemacht hatte. Damit zerbröselt jener „Mythos der Mitte“, von dem die Union immer glaubte, ihr festes soziokulturelles Fundament in der Gesellschaft zu besitzen.

Dass Angela Merkel international einen großen Ruf genießt, ist bekannt. Sie war im März 2008 die erste ausländische Regierungschefin, die in der Knesset, dem israelischen Parlament sprach. Ihre Bilanz in der Europapolitik ist gemischt. 2007 nutze sie mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, um die krisengeschüttelte EU mit einem neuen Unionsvertrag wieder zukunftsfähig zu machen. Ihre mit seltener Inbrunst verfochtene Spar- und Austeritätspolitik brachte Griechenland in eine schwere Krise, bis die Corona-Pandemie all die vorherigen Grundsätze in Schnee von gestern auflöste.

Ihre weltweite Beförderung zur Mutter Theresa der Flüchtlinge im Jahre 2015, als sie in der Tat einmal in einer Krise durchgriff und vom konservativen Mainstream abwich, verblasst, wenn in Erinnerung gerufen wird, dass jenes restriktive Dubliner Regelwerk, dass das Flüchtlingselend mit beförderte, danach so weitergeführt wurde wie zuvor. Ideen, die elende europäische Flüchtlingspolitik zu überwinden, sucht man bei ihr vergebens.

Vergleichbares gilt auch für ein Politikfeld, wo ein großer Teil der veröffentlichten Weltmeinung des Lobes voll für die Kanzlerin ist, wenn sie zur „Klimakanzlerin“ avanciert. In der Tat lassen sich bemerkenswerte Äußerungen von ihr vor allem aus jener Zeit finden, als sie ihre Karriere als Umweltministerin (und als Kohls „Mädchen“) begann. 1995 erkannte sie als Gastgeberin in Berlin für die Folgekonferenz von Rio de Janeiro, es gehe um „die Erhaltung unserer einen Welt“ und da wir alle in einem Boot säßen, müssten die Industrieländer als erstes beweisen, „dass wir unserer Verantwortung zum Schutz des globalen Klimas nachkommen.“ Und zwei Jahre später schrieb sie in ihrem Buch „Der Preis des Überlebens“ einen heute nahezu revolutionären Satz, der eine Kampfansage an die eigene Partei und die FDP ist: „Wer behauptet, wirksamer Umweltschutz sei zum Nulltarif zu haben, gaukelt den Menschen etwas vor. International wird es nur möglich sein, andere Länder zum Handeln zu bewegen, wenn wir in den Industrieländern wirklich an unseren Lebensstil etwas ändern.“

Hätte sie diesen Satz zum Leitbild ihrer Politik gemacht, dann hätte sie als eine der großen in die Geschichte eingehen können. Hier könnte man sich vorstellen, was „vom Ende her zu denken“ bedeutet. Aber als sie die Macht dazu hatte, wurde diese Erkenntnis ein Opfer ihres Pragmatismus. Hier offenbart sich eine geradezu erschreckende Differenz von Wissen und Handeln. Sie wusste und weiß, was sie nicht tat. Für Merkel blieb die Politik die Kunst des Möglichen, während das Näherrücken der Sintfluten längst der Politik die Kunst des Notwendigen abverlangt. Es ist schwer nachvollziehbar, warum trotz dieser Diskrepanzen die Lobeshymnen nicht verstummen.

Das eigentliche Geheimnis ihres Erfolges sind keine faktischen politischen Erfolge, erreichte Ziele oder umgesetzte Programme. Sie verkörperte eine Epoche, die getragen wurde von den Erwartungen vor allem einer saturierten Mittelschicht, die von der Politik in Ruhe gelassen werden will. Diese Mitte der Gesellschaft mit ihrem staatsbürgerlichen Privatismus, die ihre Kraft der privaten Wohlstandsmehrung widmet und sich um öffentliche Angelegenheiten so wenig wie möglich kümmern möchte, die in ihrem privaten Glück nicht von der Politik belästigt oder gefordert werden will, sei es monetär oder gar mit Eingriffen in die eingeübten Lebensgewohnheiten, Stichwort: Änderung des Lebensstils, repräsentierte sie mit ihrer Raute, flankiert von dem entwaffnenden Satz: Sie kennen mich! Man wünscht die beruhigende Verwaltung eines Status quo, der gewollte Veränderungen zur unwahrscheinlichen Größe werden lässt.

Aber diese Ära eines „Weiter so“ geht erkennbar ihrem Ende entgegen. Die Feuerbrünste und Wasserfluten rücken näher und all das schon Versäumte lässt sich nicht mehr weiterhin in die Zukunft verschieben. Dagegen revoltiert nun endlich auch eine nachwachsende Generation. Über den Klimawandel hinaus geht die von den USA geprägte Nachkriegsordnung des regelbasierten liberalen Internationalismus ihrem Ende entgegen und die Verteidigung der liberalen Demokratie ist weniger eine Frage der äußeren Bedrohung durch autokratische Mächte wie Russland und China, sie wird zu einer Haupthausaufgabe der von Populisten  bedrohten Länder. Ob unser ökonomisches, soziales und politisches Modell zukunftsfähig ist und bleibt, hängt davon ab, ob es in der Lage ist die zentralen globalen Herausforderungen, insbesondere den Klimawandel und seine schon absehbaren Folgen, zu bewältigen.

Erforderlich ist dafür mehr Politik statt kalkulierter Entpolitisierung, mehr soziale Phantasie statt einseitiges Hoffen auf rettende technologische Innovation. Mit Merkels Abtritt von der politischen Bühne tritt nun auch ein längst überfälliges Politikmodell ab. Bestenfalls könnte man noch Schiller zitieren: „Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen.“

 

 

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