Eine Wahlnachlese von Rolf Wortmann
Die Bundestagswahl vom 26. September 2021 ist eine historische Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die (gefühlte) ewige Regierungspartei und in ihrem Selbstverständnis die Staatspartei Deutschlands ist nun auch unter die Räder geraten. Die Union ist als letzte numerisch übrig gebliebene „Volkspartei“ in die Fußstapfen der SPD getreten und nistet sich mit einem Rekordverlust von 8,8 Prozent in den Zwanzigprozentturm ein.
Der Absturz der Union
Damit ist der sich schon länger abzeichnende Wandel des Parteiensystems als Abbild der gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen komplett. Lange schien es, als ginge der gesellschaftliche Wandel an der Union vorbei. Wie ein Fels in der Brandung schien sie immun gegen jene sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten quasi hinter dem Rücken der Politik vollzogen. Nun hat es sie kalt erwischt.
Die Trauer hält sich in Grenzen, denn sie verkörperte wie keine andere Partei bräsiges und arrogantes Machtbewusstsein ohne Idee, die Zementierung eines Status quo bei gleichzeitiger Rede von Innovationen und Modernisierungen, deren Mangel zu Wahlkampfhits deklariert wurden, als wenn man damit nicht eigentlich seine eigenen Versäumnisse auf etlichen Politkfeldern formulierte. Natürlich nicht als Selbstkritik.
Der tiefe Sturz der Union wird sicherlich nicht zu Unrecht an dem Kandidaten fürs Kanzleramt festgemacht. Dieser fleischgewordene Sprechblasenproduzent hätte höchstens das Zeug, zum Heinrich Lübke des Kanzleramtes aufzusteigen. Das würde zwar mehr Komik in die Politik bringen als die selbsternannte Spaßpartei zuwege bringt, aber für so viel Lust auf Spaß ist die Lage denn doch zu ernst. Doch die Schwäche des Kandidaten sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich noch etwas Anderes, Fundamentaleres unterschwellig bemerkbar macht: Man ist dieser Arroganz der Macht, die von Merkel überspielt wurde, überdrüssig. Man könnte sagen, man hat sie satt.
Auf lokaler Ebene fällt das besonders auf, wenn man die neue Oberbürgermeisterin hört. Als wenn es nicht einen Vorgänger gäbe, den ihre Partei einst ebenfalls zum großen Innovator hochstilisierte, bevor er in den Abgründen eines „Bachelors“ endete.
Der Wiederaufstieg der SPD?
Aber der krachenden Niederlage der Union auf Bundesebene, garniert von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, steht kein eindeutiger Wahlsieger gegenüber. Zwar hat die Scholz-SPD einen numerischen Sieg davongetragen, der noch vor einem halben Jahr in die Sphären von Visionen krankhaften Ausmaßes verwiesen worden wäre. Man ist geneigt zu sagen, der Aufstieg der SPD lebte ausgerechnet von einer Person, die der Partei nicht gerade Glamour einhauchte, der aber wenigstens Beherrschung des Regierungshandwerks und Verlässlichkeit bescheinigt werden konnte. Im Stil ist er eher die Fortsetzung der scheidenden „Mutti“, auch wenn er zum „Papa“ wohl nicht taugen wird.
Die SPD gewann – wie die Wahlanalysen und Wählerwanderungsbewegungen von „Infratest dimap“ ergeben – den größten Teil ihrer erheblichen Zugewinne von 5,3 Prozent auf Kosten der Union. Zwei Millionen Unionswähler wechselten zur SPD, die ihrerseits erneut eine Millionen Wähler an die Grünen weiterreichte. Der große und entscheidende Zugewinn erfolgte in der Alterskategorie „sechzig plus“. Soziale Sicherheit war hier das große Thema, Ängste um die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie. Klimawandel rangierte hier als untergeordnetes Randthema. Sicherheit dominierte gegenüber Aufbruch.
Hier in der gehobenen Altersklasse, der einst klassischen „Mitte“ der Merkel-Union, vollzog sich die Erosion, und zwar durch eine Linksverschiebung dieser Mitte, ausgelöst durch soziale Ängste. Die SPD demonstrierte aber auch, dass ihr Niedergang in die Bedeutungslosigkeit kein Naturgesetz ist. Ihr Potenzial ist vor allem im Bereich der sozialen Themen, die im Verbund mit den Mieten und der Wohnungsnot ein stets aktuelles Terrain bieten, immer noch außerordentlich groß und – wie erlebt – in höherem Maße abrufbar.
Dennoch gehört zu den wohl wesentlichen Erkenntnissen dieser Wahl, dass es zwar Gewinner, aber keinen Sieger gibt. Die SPD kommt nicht etwa – um den gefährlichen Vergleich einmal zu ziehen – wie in der legendären Wahl im Jahre 1972 mit einer zukunftsweisenden Agenda an die Macht, um die Gesellschaft politisch neu zu gestalten. Ein paar Änderungen, gewünschte wie notwendige, wird es geben, aber über Art und Ausmaß entscheiden die mittleren Parteien als allein infrage kommende Koalitionspartner.
Ein weiteres Detail aus den Wahlanalysen von Infratest dimap muss der SPD wie auch der Union zu denken geben. Die Wahl offenbart bei genauerem Hinsehen einen sich anbahnenden Generationenkonflikt bzw. Einstellungswandel, dessen langfristige Bedeutung zwar noch nicht abschätzbar ist, den man aber nicht ignorieren darf. Die beiden bisherigen Volksparteien beziehen ihre schon geschrumpfte Größe nur noch aus den Jahrgängen der über Sechzigjährigen. Aber das ist gegenwärtig mehr als ein Drittel der gesamten Wählerschaft. Mit jeder jüngeren Altersschichtung sinkt ihre Zustimmung. Bei den Erstwählern, deren Anteil zwar nur fünf Prozent beträgt, liegen die beiden großen Parteien nur noch bei jeweils zwölf Prozent. FDP und Grüne dagegen liegen hier mit jeweils fünfundzwanzig Prozent einsam an der Spitze.
Grüne und FDP als Kanzlermacher
Zwar wäre eine erneute „große“ Koalition rechnerisch möglich, aber sie gliche einer politischen Bankrotterklärung noch größeren Ausmaßes als die letzte. Zudem ist es kaum vorstellbar, dass sich die Union als Juniorpartner der SPD mit der Rolle des Kellners zufrieden geben könnte. Es ist aktuell nicht einmal vorstellbar, dass die Laschet-Union das Jamaika-Phantom präferieren würde, denn bei aller Resistenz gegenüber Veränderungen beim Wahlvolk der Mitte, etwas Veränderung zu Lasten der Union möchte das gesamte Wahlvolk denn doch wohl.
Die künftige politische Konstellation wird ganz maßgeblich von den beiden Mittelparteien, der FDP und den Grünen, bestimmt. Beide, aber vor allem die FDP profitiert von der eklatanten Schwäche der „Linken“, die mit ihren drei Direktmandaten gerade noch in Fraktionsstärke in den Bundestag gerutscht ist, obwohl sie an der Fünfprozenthürde eigentlich scheiterte. Aber als Mehrheitsbeschaffer für den Bürgerschreck rot-grün-rot ist sie zu klein und entfällt somit als Element eines Machtpokers, mit dem man die Machtgelüste der FDP hätte in Schranken setzen können. Die Drohung mit dieser Alternative entfällt also, und so werden FDP und Grüne zu mehr als einem Zünglein an der Waage.
Der Erfolg der FDP besteht faktisch darin, dass sie so stark blieb wie zuvor. Die Wählerwanderungen verraten lediglich, dass wir bei den Liberalen recht viele taktische Wähler finden, die vor allem zwischen CDU und FDP vagabundieren. Die FDP erhält kein zusätzliches Gewicht durch einen größeren Stimmenanteil, sondern allein dadurch, weil die Parteienkonstellation in der Summe drei Parteien für eine regierungsfähige Mehrheit erfordert. Da die gerade nicht wachsende AfD als rechtes Schmuddelkind ebenfalls entfällt, bleibt Grünen und FDP nichts anderes übrig als sich darauf zu einigen, ob sie mit der Scholz-SPD oder der Laschet-CDU ins ungeliebte gemeinsame Bett steigen.
Die Grünen gehören im Stimmenergebnis zu den Gewinnern. Ihr Erfolg wird nur dadurch getrübt, dass sie vor einem guten halben Jahr in solch lichte Höhen wuchsen, dass gänzlich andere Erwartungen inclusive einer Kanzlerschaft geschürt wurden, die dann offenbarten, dass die Partei doch nicht schwindelfrei ist. Annalena Baerbock scheiterte weniger an jenen Fehlern, die ihr zum massiven Vorwurf gemacht wurden. Sie setzte – und das unterschied sie von Habeck – auf einen Politikwechsel, der von einer Wechselstimmung getragen wird. Sie setzte eine Bereitschaft, ja den Willen zu Veränderungen aus den Imperativen des Kampfes gegen den Klimawandel in breiten Teilen der Bevölkerung voraus, den es so nicht gab. Der Klimawandel als Wahlkampfthema kam in breiteren Teilen der Bevölkerung erst im Sommer, nach den Schrecken der Hochwasserkatastrophe, zur angemessenen Bedeutung. Und selbst jetzt noch immer mit der Beigabe, man müsse zwar etwas tun, aber nichts, was man finanziell oder in der Lebensführung merken würde. Der Wille zur Veränderung trug Annalena Baerbock nicht, sie musste ihn erst erzeugen und dabei stets die Angriffe von FDP und Union parieren, die mit der verführerischen Formel der Anreize statt Verboten operierten.
Was Grüne und FDP bezüglich der Koalitionsfrage unterscheidet, ist die Offenheit. Die FDP könnte beide Konstellationen, wenngleich mit der Union ihr unternehmerfreundliches Wirtschaftsprogramm offensiver umgesetzt würde, aber die Grünen würden eingepfercht von Union und den Wirtschaftsliberalen in eine politische Ausrichtung eingespannt, die sie im Wahlkampf gerade als sehr bedeutend entdeckten: die soziale Frage – und nicht nur mit Blick auf die sozialen und ökonomischen Folgen des Kampfes gegen den Klimawandel. Das Ausmaß an „Asozialität“ wie die FDP können sich die Grünen trotz ihrer weitreichenden Verbürgerlichung nicht leisten, ohne dass sie ihren neuen Status als wachstumsfähige Partei mittleren Gewichts wieder verlören. Insofern wäre die Ampel für die Grünen die näherliegende und bessere Option.
Das aber wäre für die FDP als selbsternannte Wirtschaftspartei ein schwieriges Pflaster. Was immer sie an Steuerschutzschildern für die gehobenen Einkommensschichten alles aufbauen will, weder SPD noch Grüne könnten das in der von der FDP gewünschten Form mittragen. Wo hier Kompromisslinien zu finden sind, bleibt vorerst das Geheimnis der Verhandlungsführer. Nur so viel ist schon jetzt so gut wie sicher: Der große, begeisternde Wurf und Aufbruch zu neuen Ufern wird in keiner der zur Verfügung stehenden Konstellationen das Licht der Welt erblicken. Wie gehabt, die Politik bleibt die Kunst des Möglichen und wird sich eben hierfür in „Demut“ – ein Wort, das momentan zu erstaunlicher Ehre gelangt – loben. Das politische Reich der Notwendigkeiten wird für ein paar weitere Jahre vertagt. Der Angriff der Gegenwart auf die Zukunft wird wohl weitergehen.